Kapitel 57

Verletzt

Ich schaute ihr in diesen Momenten direkt in die Augen und sie war völlig geschockt. „Aber, aber… Hast du meinen Brief nicht gelesen?“ – „Doch, ich habe ihn gestern Abend gelesen.“ – „Aber was denkst du denn dazu?“ – „In den meisten Sachen, die du geschrieben hast, glaube ich dir, so zum Beispiel, dass du den Kuss nicht wolltest und er dir nichts bedeutet hat.“ – „Aber… heißt das etwa, dass…“ Ich war für ein paar Sekunden still und sagte: „Das soll es heißen, ja. Ich habe nichts dagegen, dass man gewisse Geheimnisse voreinander hat, aber im Verlaufe der letzten Monate lief zwischen uns einfach nur noch alles schief. Du hast mir einfach so oft so sehr wehgetan und mir ging es phasenweise wirklich nicht gut. Darum ist es das Beste, wenn der Kontakt zwischen uns auseinander geht. So brauchst du nicht mehr ertragen, dass ich es nicht mag, wenn du was trinkst, und ich quäle mich nicht mehr damit, wenn du wirklich zu viel getrunken hast und mich meine Sorgen um dich einfach fertigmachen.“ – „Marc… nein… das geht doch nicht! Wollen wir nicht noch in Ruhe über den Brief und so sprechen?“ Es bildeten sich Tränen in ihren Augen und sie zwang sich, nicht zu weinen. Diese Szene grub sich ganz tief und sehr schmerzvoll in meine Seele, das konnte ich nicht von der Hand weisen. „Ich weiß nicht, ob das überhaupt noch was bringt. Janine, ich weiß nicht, ob ich dir noch vertrauen kann. Du hast mir so oft Versprechungen in den letzten Monaten gemacht, die du nicht gehalten hast. Du hast mir vor allem nicht erzählt, dass Jeremias sich an dich herangemacht hat. Das sogar mehrfach. Wie soll ich dir glauben, dass du den Kuss vielleicht nicht doch wolltest, nachdem du mir bereits schon nicht gesagt hast, dass er mit dir geflirtet hat?“ Die ersten Tränen flossen an ihren Wangen hinunter. „Marc, ich liebe dich. Siehst du nicht, wie viel du mir bedeutest? Siehst du mir nicht an, wie schlecht es mir allein nach diesen drei Tagen geht? Die Vorstellung, ohne dich zu sein, macht mich so fertig, dass ich nicht schlafen, nicht essen, mich nicht konzentrieren, einfach gar nichts kann. Marc, Jeremias ist ein mieses Arschloch, nichts anderes! Du bedeutest mir alles. Und kein anderer.“ Ihre Sätze gingen mir definitiv unter die Haut und rissen die Wunde, die ich notbedürftig in der Nacht verschließen konnte, immer weiter auf. Mir schossen in Bruchteilen von Sekunden alle möglichen Szenen mit Janine durch den Kopf und ich blieb bei der Szene stehen, als ich den Kuss zwischen Jeremias und ihr sah.

„Du kannst dich bis morgen entscheiden. Entweder du setzt dich um, oder ich tue es. Aber es geht nicht mehr, dass wir zusammensitzen. Das macht für uns einfach alles nur noch viel schlimmer, als es schon ist.“

Sie schaute mich für ein paar Sekunden an und gab mir einfach eine wirklich harte Backpfeife. Anschließend sprang sie von ihrem Stuhl auf und rannte weinend und laut schluchzend nach draußen. Ich rieb mir über die Wange und es war irgendwie passend, dass der Schmerz selbst nach mehreren Minuten nicht besser wurde. Obwohl ich von dieser Entscheidung vom Kopf her überzeugt war und glaubte, dass es den richtigen Weg darstellte, konnte ich die emotionalen Schmerzen, von denen Janine erzählte, nachfühlen. Dieses kurze Gespräch war für meine geistige und emotionale Stabilität die reinste Hölle.

Mir wurde erst nach wenigen Minuten so richtig bewusst, wie viele aus meinem Kurs diese Szene gerade mitbekommen hatten. Wir hatten sehr leise gesprochen, sodass unsere Gesprächsinhalte zumindest privat blieben, aber die Backpfeife und Janines Flucht war natürlich nicht geheim zu halten. Tim, der mit uns auch gemeinsam Unterricht hatte und gerade mit dem Klingeln noch rechtzeitig den Raum betrat, spürte, dass die Stimmung im Raum merkwürdig war. Er kam zu mir und flüsterte: „Ich weiß auch so schon, wie du dich entschieden hast.“ – „Hat sie es dir gerade erzählt?“ – „Nein, aber ich brauche mich nur im Raum umzuschauen und habe ungefähr eine Ahnung, was passiert ist. Deine Wange sieht übrigens übel aus.“ – „Sie fühlt sich auch nicht gut an, das kannst du mir glauben.“ – „Hast du ihren Brief gelesen?“ – „Ah, du weißt also auch davon.“ – „Ja, aber ich weiß nicht, was sie geschrieben hat.“ – „Ja, ich habe ihn gelesen. Man, das fällt mir auch nicht einfach.“ – „Wieso gibst du ihr nicht noch eine echte Chance? Dass ihr noch ganz neu anfangt? Und alles ganz vorsichtig, Stück für Stück wieder aufbauen?“ – „Wie viele Chancen habe ich ihr schon gegeben? Allein nach den ganzen Saufereien?“ Tim schwieg. „Ich kann nicht mehr, Tim. Das bringt doch weder sie noch mich weiter. Lieber beende ich jetzt die Beziehung und wir haben genügend Zeit, wieder damit klarzukommen, damit wir trotzdem ein tolles Abi machen können.“ – „Machst du dir jetzt ernsthaft Gedanken um eure Noten?“ – „Nein, aber ich habe Sorge davor, wenn wir uns über viele Monate nur noch weiter verletzen und erst bemerken, dass es nicht mehr geht, wenn wir wirklich am Abgrund ankommen.“ Tim schwieg erneut und sagte nach einigen Sekunden erst: „Wie ich schon gesagt habe, das ist komplett deine Entscheidung und eure Geschichte. Ich höre euch beiden zu und du wirst damit leben müssen, dass Janine trotzdem eine Freundin von mir ist und bleibt. Rechne also damit, dass du auf sie auf meiner Geburtstagsfeier zum Beispiel womöglich treffen kannst. Oder auch einfach so, wenn ich eine Feier mache oder mit Freunden was unternehmen will.“ – „Irgendwie wird das schon werden. Ich finde es auch völlig in Ordnung, dass du weiter mit ihr befreundet bist.“ – „Willst du denn trotzdem weiter Kontakt mit ihr haben?“ – „Nein, dass sie und ich befreundet sind, wird nicht klappen. Das kann ich nicht. Ich versuche also schon, möglichst wenig Kontakt mit ihr jetzt zu haben. Wäre das ok für dich, wenn wir uns in den gemeinsamen Stunden mit ihr umsetzen? Zum Beispiel in die Reihe ganz vorne oder je nachdem, wo gerade Platz ist?“ – „Ich habe an sich nichts dagegen, aber ich möchte erst Janine fragen, ob sie damit einverstanden ist, wenn ich mich von ihr wegsetze. Ich finde das nämlich nicht fair, wenn ich sie einfach in Stich lasse.“ Von einem anderen Moment auf den anderen war ich ganz schön angesäuert: „War das etwa Kritik an meiner Entscheidung?“ Tim kramte in seiner Tasche und als er mich anschließend anschaute, sagte er: „Ja, ein bisschen. Ich verstehe und respektiere deine Entscheidung, daran gibt es nichts zu rütteln. Ich glaube aber, dass du aufpassen musst, dass du trotzdem weiterhin fair mit ihr umgehst. Wie du Samstagnacht mit ihr umgegangen bist, fand ich auf jeden Fall nicht in Ordnung.“ Ich ließ seine Sätze sacken und stellte fest: „Du hast schon Recht. Sorry.“ – „Alles gut. Ich halte zu euch beiden, uneingeschränkt. Aber lass deine Wut und Enttäuschung nicht an mir raus. Du darfst dich immer auskotzen, das weißt du. Aber angreifen lasse ich mich von dir nicht. Dafür bin ich der falsche Ansprechpartner.“ Er hatte eine Strenge an sich, die ich von ihm bisher nicht kannte. „Sorry, du hast absolut Recht.“ – „Und abgesehen davon muss ich dir klar sagen, dass dein Verhalten in Jeremias‘ Wohnung einfach überhaupt nicht in Ordnung war. Stell dir vor, du hättest ihn ins Krankenhaus gebracht! Oder es wäre noch was viel Schlimmeres passiert! Was wäre wohl passiert, wenn du statt ihn Janine getroffen hättest? Sie stand direkt daneben. Du hast einfach völlig die Kontrolle verloren.“ Seine Sätze wirkten noch viel härter als die Hiebe, die ich am Wochenende in Richtung Jeremias ausgeteilt hatte. „Wenn du so krass abgehst, fange selbst ich an, sogar darüber nachzudenken, ob ich dich bei Veranstaltungen dabeihaben will. Ich habe echt ein bisschen Sorge, dass du genauso reagierst, wenn dir irgendjemand aus meinem Freundeskreis zum Beispiel derbe auf den Sack geht.“ Ich schaute ihm direkt in die Augen und meinte entsetzt: „Beendest du unsere Freundschaft? – „Wenn du mir gerade richtig zugehört hast: Nein, natürlich nicht. Aber wir sind so lange jetzt befreundet, dass ich dir ehrlich ins Gesicht sage, dass ich es scheiße finde, wie du mit der Situation umgegangen bist.“ – „Hätte ich etwa noch zuschauen sollen, wie dieser Wichser mit meiner Freundin herummacht?“ – „Marc, natürlich nicht. Dazwischen gehen ist ja völlig ok. Aber stell dir vor, ich hätte dich nicht weggezogen. Du wolltest ja selbst ewig noch auf ihn losgehen, als ich dich schon festgehalten habe. Wer weiß, was du mit ihm angestellt hättest!“ Ich murmelte leise vor mich hin: „Darüber will ich wirklich nicht nachdenken.“ – „Siehst du, genau das meine ich! Du kannst dir damit alles kaputt machen und davor will ich dich bewahren. Ich mache mir Sorgen um dich. Dass du dich von Janine trennst, ist deine eigene Entscheidung und wenn du das richtig findest, ist das völlig ok. Das kritisiere ich auch nicht. Aber alles andere drum herum war nicht gut… gar nicht gut.“ – „Du hast ja Recht.“, sagte ich nachdenklich und brach meine Worte ab, weil unser Lehrer den Raum betrat. Tim flüsterte trotzdem noch etwas: „Du kannst einfach froh sein, dass Jeremias mir versprochen hat, dass er dich nicht anzeigen wird.“ – „Soll ich ihm jetzt dankbar sein?“ – „Willst du womöglich wegen solch einem Arschloch vorbestraft sein?“ – „Nein, natürlich nicht. Das wäre echt beschissen.“ – „Siehst du. Hoffe einfach, dass er und alle anderen sich daranhalten und keiner darüber spricht. Du kannst vor allem froh sein, dass ihm nichts Schlimmeres passiert ist… oder womöglich auch dir selbst.“ Ich flüsterte leise: „Vielleicht hätte ich damit ein paar Sorgen und Problemen weniger, wenn es mich stattdessen erwischt hätte.“ Tim gab mir einen ziemlich heftigen Schlag gegen den Arm und zischelte: „Solche depressiven Gedanken will ich nie wieder hören. Nur, weil das mit Janine nicht so geklappt hat, heißt es doch nicht, dass dein Leben scheiße ist.“ Ich nickte stumm.

Janine blieb auch nach Stundenbeginn weiterhin außerhalb des Raumes. Obwohl unser Lehrer wie immer die Anwesenheit kontrollierte, wunderte er sich nicht, dass Janine fehlte, sodass ich davon ausging, dass sie vielleicht kurz mit ihm draußen gesprochen hatte – das erklärte auch seine Verspätung, da er sonst eigentlich nie zu spät kam. Kurz, nachdem der Unterricht später beendet war, stürmte Janine relativ schnell in den Raum und griff sich ihre Sachen. Unsere Blicke trafen sich kurz und sie sah völlig fertig aus. Ihre Schminke war völlig verlaufen und sie sah am Boden zerstört aus.

Ich fuhr nach dem Unterricht wie immer nach Hause und ließ die heutigen Situationen durch den Kopf gehen. Bilder von Janine, die in meinem Zimmer verteilt waren, zeigten tolle gemeinsame Momente zwischen uns. Jedes dieser Bilder fügte mir im Innern eine weitere Wunde zu, sodass ich die Bilder zumindest umdrehte oder zuklappte, damit ich nicht direkt in jedem Moment in meinem Zimmer an sie erinnert wurde. Ich war an diesem Tag ziemlich schwermütig, kam meinen Verpflichtungen aber immerhin irgendwie nach, obwohl ich heftigen Schlafmangel hatte. Ich ging an diesem Tag früh schlafen, um wieder auf die Beine zu kommen.

Am Mittwoch saß Janine in unserem gemeinsamen Unterrichtsraum bereits auf ihrem üblichen Platz. Ich ging langsamen Schrittes zu ihr und fragte sie nach einem obligatorischen „Hey“ als Höflichkeit: „Ähm… du möchtest da sitzen bleiben, ja?“ Janine schaute mich nicht an und es kam von ihr keine Reaktion. Sie ignorierte mich auf voller Linie, eine Begrüßung gab es auch nicht. Nach ein paar Sekunden fügte ich hinzu: „Ich interpretiere das als ein ja.“ Auch darauf sagte sie nichts. Sie tat so, als existierte ich nicht. Ich sah für einen Moment, dass sie extrem gerötete Augen hatte. Auch wenn sie geschminkt war und versuchte, das Beste aus ihrer Situation zu machen, sah ich ihr an, dass sie körperlich völlig am Ende war. So hatte ich sie nur einziges Mal gesehen: als sie zusammenbrach, weil ihr Vater verstorben war. Vermutlich hatte sie die ganze Zeit durchgeweint und kein Auge zugetan. Sie tat mir wirklich leid. Ich liebte sie auch weiterhin, so schnell verging das natürlich nicht. Es schmerzte mich sehr, sie so leiden zu sehen, aber auch nach deutlich mehr Schlaf war ich der festen Überzeugung, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher und klarer wurde meine Haltung.

Ich ging mit meinen Sachen zu einer Sitzbank in der vordersten Reihe und setzte mich dort hin. Ich wusste von Tim, dass er mit Janine bereits am gestrigen Tag gesprochen hatte und sie damit einverstanden war, wenn Tim sich ebenfalls umsetzte. Unsere Lehrerin war zwar verwundert, wieso wir vorne saßen und Tim und ich versuchten das mit dem Wunsch nach Veränderung eher lustig darzustellen, aber ich war mir sicher, dass unsere Lehrerin ungefähr erahnte, was vorgefallen war. Ich spürte abgesehen davon, dass sich die Trennung wie ein Lauffeuer im Jahrgang verbreitet hatte. Ich sah es in den Blicken von einigen Leuten aus unserem Jahrgang, wenn ich vielen in den Kursen oder auf den Gängen über den Weg lief.