Winterball
In der Nacht zum Freitag schlief ich schlecht. Ich schlief zunächst spät ein, weil mir der kommende Tag durch den Kopf ging. Ich war noch nie auf so einem komischen Ball gewesen und wusste daher einfach gar nicht, was mich erwartete. Hinzu kam, dass es mich wirklich belastete, dass Janine solch ein Interesse an mir hatte. Ich fühlte mich in jedem Moment, den ich mit ihr verbrachte, unter Druck gesetzt, etwas entscheiden zu müssen, was ich gar nicht entscheiden wollte. Ich wollte nur entspannt Zeit mit ihr verbringen, im Grunde so wie früher. Ich konnte nun Janines Sicht ein paar Monate zuvor verstehen: Sie wusste, dass ich Interesse an ihr hatte und war also die ganze Zeit damit konfrontiert, womöglich etwas entscheiden zu müssen, dass sie aber gar nicht irgendwie entscheiden wollte.
Als ich endlich schlief, erwachte ich etliche Male zwischendurch. Anstatt sich einfach zu drehen und weiterzuschlafen, wie ich es sonst immer machte, war ich jedes Mal mindestens eine Viertelstunde hellwach und dachte ausschließlich über Janine nach. In dieser Nacht begann ich zum ersten Mal ernsthaft abzuwägen – wollte ich diese Nähe mit Janine oder nicht? Ich fühlte mich sehr zu ihr hingezogen. Charakterlich fand ich sie genauso super, weil sie jemand war, die mir Contra geben konnte, meine Scherze mochte und auf diese auch einging. Mir wurde aber eben auch bewusst, dass mir die Nähe, die Janine suchte, womöglich auch mal zu viel sein konnte. Gerade, wenn sie mir ständig Nachrichten schrieb, während wir uns nicht sahen, wurde es mir manches Mal etwas zu viel. Aber all zu schlimm war das eigentlich auch nicht, wie mir im Laufe der Nacht bewusstwurde.
Als ich morgens eine halbe Stunde vor meinem Wecker schon hellwach war, zog ich all meine Gedanken aus der Nacht zusammen und stellte fest: Was also hinderte mich daran, es mit Janine zu versuchen? Einzig die Sorge, dass es einfach nicht funktionieren würde und ich Janine damit endgültig verlieren könnte, machte mir Sorgen. Aber selbst in diesem Fall hieß es ja nicht, dass die Freundschaft mit Janine wirklich kaputt sein musste – Christian lieferte mir ein doch recht gutes Beispiel dafür, dass er den Kontakt zu meiner Mutter aufrechterhielt, selbst, als die beiden sich schon getrennt hatten. Natürlich spielte ich da eine große Rolle, weil er mich ja auch zu der Zeit sehen wollte, aber es war ein Zeichen für mich, dass es gehen konnte. Ich nahm mir daher vor, auf den Ratschlag von Tim und Petra zu hören – mich einfach locker zu machen und diese Dinge zu genießen.
Da ich bereits so früh auf war und irgendwie mit allem sehr schnell war, verwunderte es mich nicht, dass ich an diesem Tag der erste im Klassenraum war. Glücklicherweise war der Raum schon offen, ich wartete drinnen entspannt auf den Unterrichtsbeginn. Ich schloss meine Augen und machte mich auf meinem Stuhl sehr lang. Durch die verkorkste Nacht sackte ich dabei richtig weg, sodass ich kaum mehr was mitbekam. In einem Moment, in dem ich gerade völlig eingeschlafen war, erschreckte ich mich, als ich plötzlich eine Stimme hörte: „Schlafmütze! Aufstehen!“ Durch den Schreck rutschte ich komplett von meinem Stuhl herunter, stieß mir an einer Stelle des Tisches leicht meinen Kopf und saß auf dem Boden. Janine kam aus dem Lachen nicht mehr heraus und die zwei anderen Klassenkameraden, die auch schon im Raum waren, auch nicht. Ich stand auf und schaute nicht ernsthaft grimmig zu Janine, die vor Lachen nicht mehr einen geraden Satz herausbekam. „Das sah einfach so herrlich aus… wie du da…“ Sie lachte herzhaft weiter, als ich zu einer Kitzel-Attacke ansetzte. Sie knickte leicht ein und rannte vor mir fort und aus unserem Raum heraus. Da ich gerade erst wieder wach war, stimmte meine Koordination noch nicht, weswegen ich ihr durch die Flure von zwei Gebäudeteilen und quer über den Hof jagen musste, bis ich sie endlich hatte. Janine hatte an diesem Tag auch den Vorteil, dass sie ganz flache Schuhe ohne jeglichen Absatz trug, weil sie sonst niemals so schnell weggekommen wäre. Dass uns Lehrer zudem anschimpften, weil wir nicht durchs Gebäude rennen sollten, ignorierten wir gekonnt.
Auf dem Hof griff ich ihr mit beiden Händen um ihre Hüften, als sie mit dem Rücken zu mir gedreht war, und kitzelte sie so fies ich konnte. Irgendwann drehte sie sich zu mir um und versuchte sich mit ihren Händen zu wehren, was ihr aber auch misslang, weil ich einfach wesentlich kräftiger als sie war. Nachdem ich sie bestimmt zwei Minuten lang auf dem Hof immer wieder kitzelte, meinte sie, während sie nach Atem rang: „Hör auf… bitte! Ich kann nicht mehr!“ Ich hatte ein breites Grinsen auf den Lippen und schaute sie an, während sie meine Hände griff, damit ich sie nicht noch mal kitzeln konnte. Von einem Moment auf den anderen verschränkte sie ihre Finger mit meinen – ich machte das perplex einfach mit, ohne großartig darüber nachzudenken. Sie schnaufte noch immer nach Luft und schaute mir in die Augen, als sie leise sagte: „Ich wollte nicht, dass du vom Stuhl fällst, ich wollte dich eigentlich nur etwas erschrecken.“ – „Das weiß ich doch.“, sagte ich grinsend zurück. Sie kam mir mit ihrem Gesicht wenige Zentimeter näher und stoppte bewusst. Mein Herz setzte wieder aus, weil ich wusste, dass diese Nähe nun nicht mehr üblich war. Es vergingen einige Momente, während wir so nah waren, und ich traute mich einfach nicht, die letzten wenigen Zentimeter näher zu gehen, um sie zu küssen. Sie kam noch ein letztes Stück näher, sodass unsere Lippen wirklich nur noch den Hauch einer Entfernung voneinander getrennt waren. Sie flüsterte leise: „Wovor hast du Angst? Dass du etwas falsch machen könntest?“ – „Ja… zum Beispiel.“ Es knisterte so laut, dass ich von meiner Umgebung in diesem Moment rein gar nichts mehr mitbekam. „Probiere es doch einfach aus. Ich bin dir doch nicht böse.“ Sie gab mir ohne Vorwarnung einfach einen ganz vorsichtigen und sehr kurzen Kuss, auf den ich auch dieses Mal ein ganz kleines bisschen einging. Eigentlich bestand ihr Kuss mehr daraus, dass sie ihre Lippen einfach vorsichtig auf meine legte – aber sie bekam die Reaktion, auf die sie vermutlich gehofft hatte, da ich auf ihren Kuss einging und nicht völlig steif dabei war. Dieser Kuss warf in meinem Innern wieder alles völlig durcheinander. Janine ging wieder für wenige Zentimeter auf Abstand und flüsterte: „Das war toll!“ Sie lächelte mich ganz breit an, während ich mit mir so gar nicht mehr klar kam. Wir gingen Hand in Hand zum Schulgebäude und in den Klassenraum. Ich sagte ab diesem Zeitpunkt gar nichts mehr und war völlig überfordert. Dass manche Klassenkameraden uns so gesehen hatten, war mir zugegeben nicht ganz recht, weil ich wollte, dass das ein Geheimnis zwischen Janine und mir blieb, aber ändern konnte ich das nicht mehr. Im Klassenraum waren die meisten bereits da und einer der zwei, die mitbekommen hatten, wie ich vom Stuhl fiel, meinte zu mir: „Hast du Janine noch erwischt?“ Ich schaute völlig verwirrt und bekam keinen geraden Satz raus, während Janine einfach für mich antwortete: „Ja, hat er. Er hat mich aber erst auf dem Hof eingeholt.“ Die beiden mussten einfach laut lachen, ich versuchte pro forma mich dem anzuschließen, um mir hoffentlich nichts anmerken zu lassen. Ich schaltete komplett ab und war in einem Tunnel, in dem ich fast nichts mehr mitbekam. Selbst Tim, der kurz vor dem Stundenbeginn nun auch neben mir saß, drang kaum zu mir durch. Er fragte leise, sodass Janine es nicht mitbekam, die sich mit einer jungen Frau aus der Klasse unterhielt: „Alles ok bei dir?“ – „Janine und ich… gerade draußen… Kuss.“ – „Ihr habt euch nochmal geküsst?“ – „Ja.“ – „Das ist doch super! Mensch, das läuft doch klasse zwischen euch!“ – „Ja. Irgendwie schon.“ – „Was ist denn mit dir los?“ – „Ich… bin einfach nur völlig durcheinander.“ – „Genieße es doch einfach.“ – „Ich versuch es.“ – „Wie kam das denn zustande?“ Ich erklärte ihm in einigen, sehr abgehackten Sätzen, was vorgefallen war – ich hoffte, dass er mich verstand, weil ich selbst ordentliche Grammatik nicht mehr hinbekam. Er sagte danach: „Mensch Marc, damit hast du doch mittlerweile den Beweis, dass Janine wirklich mit dir zusammen sein will!“ – „Ja.“ – „Was ist mit dir?“ – „Ich finde sie auch toll, ja. Irgendwie. Ich komme gerade nur irgendwie gar nicht mehr klar.“ – „Das sehe ich, war es so schlimm?“ – „Nein, absolut nicht. Ich… irgendwie fühlt sich mein Magen gerade ziemlich flau an.“ – „Beruhige dich, außer dem Kuss ist doch gar nichts passiert. Ey Mensch, sei endlich glücklich, dass sich ein tolles Mädchen ernsthaft für dich interessiert und nicht nur mit dir ins Bett gehen will!“ Er sagte den letzten Teil des Satzes sehr, sehr leise, weil er nicht wollte, dass diesen womöglich noch jemand aufschnappen konnte. „Bin ich auch. Ich bekomme das alles nur irgendwie so gar nicht in den Kopf gerade.“ – „Mach dich locker und genieße das alles endlich. Vielleicht solltest du ein paar mehr Schritte auf Janine zugehen und sie nicht die ganze Zeit auf Abstand halten.“ – „Hat sie dir was erzählt?“ – „Ohne, dass ich dir jetzt eine Antwort auf diese Frage gebe, kannst du dir die Antwort sicherlich denken.“ – „Oh weh.“ – „Aber versuche dir nicht noch mehr Druck zu machen, Janine gibt dir eine ganze Menge Zeit, davon kannst du ausgehen. Außerdem habt ihr euch wieder geküsst, das ist super!“ – „So sehr auf Abstand halte ich sie gar nicht. Ich schreibe ständig mit ihr, wenn wir uns nicht sehen oder wir telefonieren… Und heute Abend mit dem Ball… oh weh.“ – „Das hat sie mir auch gesagt, dass ihr trotzdem auf vielen Wegen in Kontakt bleibt. Was ist denn mit dem Ball?“ – „Ich habe schon wieder richtig große Sorge, wie das heute bei dem Ball wird, wenn wir uns jetzt schon so nah gekommen sind.“ Er sagte das Folgende so laut er durfte, ohne, dass jemand dabei zuhören konnte: „Jetzt genieße das doch und hör auf, nachzudenken!“ Ich nickte darauf nur, weil ich kaum mehr wusste, was ich sagen sollte.
In den ersten beiden Unterrichtsstunden war ich gedanklich nur bei Janine. Auch, als ich von einem Lehrer ohne Vorwarnung drangenommen wurde, bekam ich meine Antwort nur sehr spät und sehr würgend heraus, aber immerhin konnte ich überhaupt eine richtige Antwort geben. In der ersten großen Pause schaffte ich es ausnahmsweise, etwas Abstand zu Janine zu halten, indem ich mit ein paar anderen aus den Klassen die Zeit verbrachte. Janine stand zwar trotzdem nur wenige Meter entfernt von mir, aber ich war froh, dass ich einige Augenblicke nicht an sie denken musste. In der zweiten großen Pause suchte sie sehr gezielt meine Nähe, sodass ich keine Chance hatte. In einem günstigen Moment, als wir kurz nicht in unserer üblichen Clique, unter anderem mit Tim, standen, fragte mich Janine: „Auch wenn wir uns heute Abend bei dem Ball sehen: Unser Treffen morgen steht doch aber immer noch, oder?“ Oh weh, das war ja auch noch. Klar, ich hatte es irgendwie im Hinterkopf, aber durch die anstrengenden letzten Tage mit sehr vielen neuen Eindrücken war das Treffen irgendwie in den Hintergrund geraten. „Ja, na klar.“ – „Was ich dich noch fragen wollte: Wenn ich schon zu dir morgen komme, wäre es ok, wenn ich bis Sonntag bleibe? So könnten wir abends zum Beispiel noch ein paar Filme schauen oder so was.“ – „Ich frage Petra nachher, aber ich denke, das geht sicher in Ordnung.“ – „Prima!“
„Was ich dich außerdem noch fragen wollte: Wie lief das Gespräch gestern? Du hast noch gar nichts erzählt!“ Ich erzählte ihr daraufhin, wie der Abend verlief und dass es wirklich ein positives erstes Treffen war. Sie war so neugierig und freute sich zwischenzeitlich mehr als ich, was ich ziemlich bemerkenswert fand.
Nach der fünften Stunde verabschiedete ich mich zunächst von Janine, da sie wie jeden Freitag vor mir Schluss hatte, während ich noch für zwei Stunden zu Informatik musste. Auch beim Programmieren, welches mir ziemlich viel Spaß machte und daher normalerweise gut von Sorgen und Gedanken ablenkte, hing mir die Szene vom Vormittag im Kopf – und ich bekam sie einfach nicht raus. Tim, der während der zwei Schulstunden immer wieder sah, wie ich gedankenverloren aus dem Fenster schaute, meinte irgendwann zu mir: „Denke nicht zu viel über sie nach.“ – „Das sagt sich so leicht nach heute.“ – „Du machst dich nur unnötig verrückt.“ – „Ich weiß, dass du Recht hast, aber abschalten kann ich trotzdem nicht.“ Er schüttelte grinsend den Kopf und arbeitete weiter an seiner Aufgabe.
Als ich nachmittags nach Hause fuhr, überlegte ich ernsthaft, ob ich heute wirklich zum Ball gehen wollte. Ich hatte einfach wirklich Angst, weil ich nicht wusste, was da heute Abend mit Janine womöglich noch passieren konnte. Zwei Mal hatte ich sie bereits geküsst! Den Gedanken, nicht zum Ball zu gehen, verwarf ich sehr schnell wieder, weil ich damit Janine höchstwahrscheinlich so sehr verletzen würde, da sie sich ja ganz offenbar sehr darauf freute, mit mir tanzen zu können. Was mir nur solche Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass ich einerseits unter Druck stand, entscheiden zu müssen, ob ich Janine als Freundin haben wollte und andererseits, dass ich das Gefühl hatte, gar nicht mehr so kontrollieren zu können, wohin die Reise mit Janine ging, weil sie mich in der einen oder anderen Situation einfach überrumpelte.
Ich entspannte für ein paar wenige Stunden zu Hause, indem ich den Fernseher laufen ließ und nebenher an meinem PC spielte. Wenigstens das konnte mich etwas ablenken, aber die Zeit war viel zu schnell wieder vorbei. Ich ging entspannt duschen und zog mir den kompletten Anzug an – Petra schlug das einfach vor und ich musste feststellen, dass ich mir selbst in diesem Outfit echt gefiel, weil man solche Kleidung eben sehr selten trug. Gegen kurz vor halb acht ging ich los und fuhr so wie immer zur Schule. Als ich ankam, war ich einige Minuten früher da, aber kurz nach mir kamen schon die ersten Schülerinnen und Schüler, zum Teil aus meiner Klasse, die mit mir vor der Aula unserer Schule standen. Die Aula wurde eigens für diesen Ball wohl umgeräumt, was hinsichtlich der vielen Stühle, die dort sonst waren, sicherlich ein ziemlich großer Aufwand war.
Tim war auch sehr zeitig dran und wir begrüßten uns per Umarmung. Wir waren vermutlich die Jüngsten dort, da die meisten, die nach und nach kamen, alle vermutlich aus der 12. und 13. Klasse waren. Tim sagte zu mir: „Janine wird es super finden, dass du wirklich hergekommen bist. Vor allem siehst du richtig gut aus!“ – „Danke. Meine Tante war wirklich spontan mit mir vorgestern noch Kleidung kaufen. Sie hat auch schon in Richtung Abiball gedacht, auch wenn das noch eine ganze Weile hin sein wird.“ – „Ja, auf jeden Fall. Bist du aufgeregt?“ – „Wegen Janine meinst du?“ – „Ja.“ – „Natürlich, was erwartest du? Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es.“ – „Mach dich locker.“ – „Das geht nicht, solange ich ständig mit ihr und dem ganzen Problem konfrontiert werde.“ Er schaute mich mit einem sehr strengen Blick an und ich versuchte mich zu erklären: „Ja, ganz ehrlich, es ist ein Problem, eines von vielen, welches Janine und ich haben, seitdem wir mehr Zeit miteinander verbringen.“ – „Sei nicht so hart.“ – „Ich bin nur ehrlich. Erst war Janine anfangs nicht so leicht im Umgang, weil sie aufgrund der alten Klasse total schlecht drauf war. Nun verbringen wir mehr Zeit, verstehen uns schnell richtig gut, da ging bei mir die Scheiße los, weil sie mich einfach mit ihren Reizen angezogen hat und eben, weil wir uns so gut verstanden. Kaum, dass ich mich mit Julia etwas ablenken konnte und Janine endlich etwas aus meinem Kopf rausbekommen habe, rennt sie mir wieder hinterher und küsst mich plötzlich ohne Vorwarnung… und mittlerweile schon zwei Mal. So ganz nebenbei habe ich auch noch meine Eltern verloren, was ich auch nicht aus meinem Kopf raus bekomme… Wie ich jetzt ja nun weiß, ist mein Vater nur mein Stiefvater gewesen und mein richtiger Vater hat nun auch Kontakt zu mir. Mich macht das alles fertig.“ Das war so viel, dass selbst Tim nicht mehr wusste, was er darauf sagen sollte. Ich schaute eine Weile lang weg von Tim, völlig im Gedanken versunken, als er plötzlich sagte: „Marc, psst!“ Von der Gesamtsituation etwas genervt, schaute ich zu ihm: „Bei mir kannst du dich immer auskotzen, das weißt du ja. Aber halte dich zumindest mit deinen Gedanken heute bei Janine zurück. Ich befürchte, du könntest ihr sonst den ganzen Abend kaputt machen.“ – „Ja… Du hast Recht. Entschuldige, dass ich dich gerade so angefahren habe.“ – „Schon in Ordnung. Wie ich ja gerade sagte, du kannst du dich bei mir immer auskotzen, wenn dich etwas bedrückt.“ Ich nickte. Wir standen wieder etwas wortkarg herum, als ich Tim fragte: „Wo bleibt Anna eigentlich?“ – „Sie sollte eigentlich gleich da sein. Versuch trotzdem heute etwas Spaß zu haben, wenigstens Janine zuliebe.“ – „Ja. Wir sehen uns ja nachher noch.“ Er lief an mir vorbei, weil er vermutlich zur Straße gehen wollte, um zu schauen, ob er Anna bereits sah – er sagte nur noch grinsend: „Ach ja, übrigens. Hinter dir.“ Ich drehte mich um und sah Janine, die gerade den letzten Meter auf mich zukam. Sie war wirklich echt sexy, ich bekam meinen Mund vor lauter Staunen nicht mehr zu. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, welches überhaupt nichts zeigte, aber mich dadurch umso mehr anmachte, auch, weil es ihre Oberweite betonte… Sie trug Schuhe mit sehr hohen Absätzen, auf denen sie, auch, als sie vor mir stand, nicht hundertprozentig sicher ausschaute. Passend zu ihrem blauen Kleid hatte sie ihre Augen neben der klassisch schwarzen Wimperntusche in Ansätzen auch blau betont. Besonders fielen mir ihre langen, blonden Haare auf, die sie gänzlich offen trug. Sie lächelte durch mein Staunen etwas peinlich berührt, umarmte mich leicht und gab mir einen Kuss auf die Wange. Durch ihre sehr hohen Absätze musste sie sich nicht auf Zehenspitzen begeben.
Ich bekam zur Begrüßung nicht mal ein richtiges „Hey du“ heraus, worauf sie mir entgegnete: „Na du! Du bist ja wirklich hier.“ – „Klar. Ich hatte ja gesagt, dass ich vorbeischaue.“ Sie lächelte und fragte mich: „Ist das der Anzug, den Petra mit dir kaufen gegangen ist? Der sieht richtig toll an dir aus.“ Sie bekam dabei richtig große Augen und strahlte förmlich, was sie dank des leichten Glitzers an ihrem Kleid schon tat. „Du riechst richtig toll, weißt du das?“ – „Danke schön.“ Sie kam mir nochmals nahe, speziell meinem Hals – es fing schon wieder an, zu knistern…
Als Janine sich wieder von mir löste, schaute ich mich nach Tim um und sie fragte: „Warum ist Tim weggegangen?“ – „Er wollte nach Anna schauen und ich sehe gerade, er hat sie auch gefunden.“ Ich nickte in die Richtung, sodass Janine sich dorthin umdrehte und wir feststellten, dass auch Anna echt richtig hübsch ausschaute. Ihr Kleid war schon etwas kürzer und zeigte wesentlich mehr Haut, was ich bei diesen niedrigen Außentemperaturen echt abenteuerlich fand – aber sie war ohne Frage echt attraktiv und passte optisch richtig gut zu Tim.
Janine und ich standen noch einige Zeit zusammen, in der wir kaum etwas sagten. Ich machte dafür die Entdeckung, dass bei diesem Ball offenbar die meisten wirklich Pärchen waren und nur ein paar wenige als Single hergekommen waren. Unabhängig davon war mir klar, dass ich heute wohl nur auf Janine und sie wohl nur auf mich fixiert sein würde, sodass es für mich keine Rolle spielte, ob beispielsweise andere Single-Frauen aus den anderen Jahrgängen zu dem Ball kamen.
Janine sagte: „Du bist so still… Alles ok?“ – „Bei mir ist alles ok. Ich bin vor allem gerade nur neugierig, wer hier alles so zum Ball kommt. Wie lange hast du gebraucht, um dich so hübsch zu machen?“ Sie lächelte wieder ganz breit und sagte: „Sehr lange. Wie lang genau willst du lieber nicht wissen, aber es war schon gut, dass ich zwei Stunden vor dir Schluss hatte.“ – „Oha.“ Janine bemerkte, wie ich sie nochmals komplett musterte, sie gefiel mir einfach unheimlich gut. „Du siehst wirklich toll aus.“ – „Danke schön.“ Sie gab mir nochmals einen Kuss auf die Wange. Während ich mich weiterhin in der Umgebung umschaute und dabei vor allem Tim und Anna beobachtete, die herumturtelten und Zärtlichkeiten austauschten, spürte ich plötzlich, wie Janine einfach meine Hand nahm, ihre Finger mit meinen verschränkte und mich vorsichtig mitzog. Ich schaute sie verwundert und etwas irritiert an, sie sagte: „Hier, schau, sie haben die Aula geöffnet.“ Ich folgte Janine und zwang mich dazu, es locker zu nehmen, dass Janine Hand in Hand mit mir zur Aula ging. Wir zeigten beim Empfang unsere Tickets vor und konnten bei der Garderobe, die von zweien aus der 13. Klasse organisiert wurde, unsere Sachen abgeben. Die ganze Aula und auch der Vorraum mit der Garderobe waren richtig festlich geschmückt – ich wusste damit nicht so richtig viel anzufangen. Janine hingegen strahlte noch mehr und ich fand es erstaunlich, dass sie überhaupt noch mehr als bereits in den letzten Minuten strahlen konnte. Wir warteten auf Tim und Anna, die einige Zeit nach uns ihre Kleidung abgaben. Zu viert betraten wir den Hauptraum der Aula. Ein Teil der Aula bestand aus Tischen mit jeweils einigen Stühlen, der Großteil der Aula war aber komplett frei geräumt und diente als Tanzfläche. Ein paar wenige Mutige gingen direkt zur Tanzfläche, während ich mich anbot und für uns vier zunächst etwas zu trinken kaufte.
Als ich voll bepackt mit den Getränken wieder zu den Tischen kam, bemerkte ich, dass der DJ, auch ein älterer Schüler, erst Lust auf lockere Tanzmusik hatte. Er packte vor allem deutlich ältere Songs aus, was ich nicht schlecht fand. Tim und Anna warfen sich nach wenigen Minuten direkt ins Getümmel, Janine warf mir einen längeren fragenden Blick zu, wie ich im Augenwinkel bemerkte… bis sie von Tim angesprochen wurde, wo sie denn blieb. Sie folgte ihm direkt und ließ mich links liegen, was mir in diesem Moment aber ganz recht war. Obwohl Janine doch anfangs recht unsicher auf den hohen Absätzen wirkte, fand ich es faszinierend, wie sehr sie doch tanzte – sie machte auf jeden Fall das Beste aus ihrer Situation mit diesen Schuhen. Ich beobachtete Janine relativ lange und spürte, wie sehr sie mich mit ihrem Outfit erregte.
Unabhängig davon, dass ich Tanzen nicht mochte, brauchte ich einfach eine ganze Weile, um so aufzutauen, dass auch ich mit auf die Tanzfläche kommen würde. Es gelang mir auch nicht immer – ich traute mich vor allem auf die Bühne, wenn mir einfach alles egal wurde und es mir einfach egal war, was andere über meinen Tanzstil hielten. Auch wenn Janine an Silvester das Gegenteil behauptete, wusste ich, dass mein Tanzstil eher chaotisch als ästhetisch war, zumindest fühlte sich das für mich so an.
Wenige Minuten, nachdem die drei auf die Tanzfläche gingen, stellte ich außerdem fest, dass ich tatsächlich nicht der Einzige war, der nicht zum Tanzen nach vorne ging. Immerhin waren ein paar wenige andere auch eher faul oder nicht mutig – es musste trotzdem recht lustig ausgesehen haben, da diejenigen, die sich nicht trauten, fast immer allein an ihrem Tisch saßen, sodass einige Tische somit eine Art Aufpasser besaßen. Mir war nach kurzer Zeit langweilig, weil sich die Musik kaum veränderte. Ich spielte mit meinem Handy herum, bis die drei kurz wieder zu mir an den Tisch kamen und Anna mich fragte: „Mensch Marc, hast du keine Lust aufs Tanzen?“ – „Noch nicht, vielleicht später. Mir ist gerade noch nicht so danach. Ich finde die Musik auch nicht so richtig geil.“ Janine fragte erneut vorsichtig: „Möchtest du wirklich nicht?“ Sie schaute mir intensiv in die Augen, was mich extrem anzog… Ich blieb aber standhaft: „Nein, wirklich nicht. Vielleicht aber nachher.“ Sie ließ mich als direkte Strafe wieder links liegen und motivierte die anderen beiden, wieder auf die Tanzfläche zu gehen. Die Musik veränderte sich langsam und wurde ein bisschen ruhiger, aber wir waren eigentlich immer noch recht weit von dem entfernt, was ich auf einem Winterball erwarten würde. Wer hatte einen Schüler dieser Schule als DJ engagiert?
In der nächsten langen Phase, in der ich wieder nur herumsaß und allenfalls mit einem Klassenkameraden am Nebentisch ein paar wenige Worte wechselte, bemerkte ich, dass sich einige der Jungs definitiv für Janine interessierten. Bei den mittlerweile ruhigeren Liedern baten sie zwei Jungs ums Tanzen und sie stimmte beiden Tänzen zu. Irgendwie regte sich in meinem Innern etwas Widerstand, als ich sah, wie nah die beiden mit Janine tanzten. Durch die lockere Musik kam es nicht dazu, dass die Jungs Körperkontakt zu ihr aufbauen konnten, sie tanzte einfach locker neben den beiden, ohne, dass da was passierte. Mir ging währenddessen das Gespräch mit Tim durch den Kopf, als er mir erzählte, dass ich nicht zu lange warten sollte, wenn ich mich auf Janine einlassen wollte. War das einer der Vorboten, von denen Tim gesprochen hatte?
Janine kam, nachdem sie mit dem zweiten Schüler zu einem spaßigen Song getanzt hatte, zu mir an den Tisch, ohne Tim und Anna. Sie trank den letzten Rest ihrer Limonade aus und wollte aufstehen, um sich noch ein Getränk zu holen, aber ich war schneller und meinte: „Ich mache das schon, bleib ruhig sitzen. Was möchtest du?“ Sie lächelte und meinte: „Ein Orangensaft.“ Ich kaufte für uns beide ein Getränk und als ich wieder am Tisch war, kramte Janine schon in ihrem kleinen Portemonnaie nach Geld, als ich zu ihr meinte: „Nein, behalte dein Geld. Geht auf mich.“ – „Aber… Du hast ja vorhin schon die Getränke von uns übernommen, ich will nicht, dass das zu viel wird.“ – „Ist schon in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“ – „Danke dir.“ Sie strahlte wieder bis über beide Backen, gab mir einen Kuss auf die Wange und trank etwas von ihrem Orangensaft, während ich die mittlerweile große Personenanzahl auf der Tanzfläche beobachtete. Nach einigen Momenten trafen sich Janines und mein Blick, wir schauten uns definitiv länger als gewöhnlich an. Im Hintergrund wechselte der DJ den Song. Er ging endlich zu den ruhigen Songs über und als Janine den Liederwechsel bemerkte, sagte sie zu mir: „Marc, hast du jetzt Lust, mit mir zu tanzen?“ Ich wusste nicht so recht: „Ich… ähm, also-“ Sie sagte ziemlich eindringlich: „Na komm schon, bitte!“ Ich atmete tief ein und wollte ihr ein weiteres Vielleicht entgegenbringen, doch sie griff einfach meine Hand, zog mich in den Stand und letztlich zur Tanzfläche. Tim und Anna sahen, dass ich nun auch auf die Tanzfläche kam und schmunzelten. Tim sagte: „Na siehst du, geht doch!“ Janine kam mir sehr nahe. Wir legten unsere Arme eng umeinander und waren Kopf an Kopf. Die Verführung war groß…
Janine fing vorsichtig an, sich zu bewegen und flüsterte mir leise immer wieder zu, wie ich mich nun als Nächstes bewegen sollte. Es waren glücklicherweise nur sehr wenige Schritte, die sie immer wiederholte, sodass ich es schnell verstand und mich immerhin bei diesem sehr ruhigen, romantischen Lied mit ihr bewegen konnte. „Warum hattest du es so eilig, mit mir zu tanzen?“, fragte ich sie, während ich gerade wieder einen kleinen Fehler in meiner Schrittfolge machte, den Janine mit einem niedlichen Schmunzeln hinnahm. „Reicht das, was heute Morgen und an Silvester passiert ist, nicht als Antwort?“ Sie schmunzelte ganz leicht, ich darauf: „Doch, ich glaube, das sind überzeugende Gründe.“ Sie kicherte erneut, sagte aber nichts weiter. Die Atmosphäre war angenehm, da der Diskjockey nur noch bei den ruhigen Liedern blieb und ich die Zeit, die ich mit Janine tanzte, kaum mitbekam. Ich schaffte es glücklicherweise auch, alles andere um mich herum auszublenden, sodass ich wirklich nur noch auf Janine konzentriert war.
„Ich finde es toll, dass du heute extra wegen mir hergekommen bist. Ich habe mich die ganzen Stunden schon darauf gefreut.“ – „Woher weißt du, dass ich extra wegen dir hier bin?“ – „Du wärest doch niemals im Leben zu diesem Ball gegangen, wenn ich dich nicht überredet hätte.“ Sie kicherte leise, womit sie mich in diesem Moment ansteckte. „Na gut, ok, du hast gewonnen. Ja, ich bin nur wegen dir heute hier.“ Sie gab mir einfach einen Kuss auf die Wange, was für mich zwar normal war, mich aber in diesem Moment so überraschte, dass ich selbst die wenigen Schrittbewegungen nicht mehr ordentlich hinbekam und für einige Momente alles durcheinander machte, was Janine mit einem weiteren Schmunzeln quittierte.
Wir tanzten so eng umarmt fast eine ganze Stunde, was über die lange Zeit gesehen echt anstrengend wurde. Janine hatte mich mit ihrer Präsenz aber so abgelenkt, dass ich lange Zeit gar nicht spürte, wie anstrengend es eigentlich wirklich war. Als wir uns wieder am Tisch ausruhten und zu Tim und Anna gestoßen waren, tranken wir noch etwas, bis die beiden Mädels sich kurz auf die Toilette verzogen. Tim sagte zu mir: „Na siehst du, es geht doch!“ Wir stießen als Zeichen des Erfolgs unsere Fäuste aneinander und er sagte: „Hast du darauf geachtet, wie glücklich Janine ausschaut?“ – „Nein, wie auch, du Spaßvogel…“ Ich streckte ihm die Zunge raus und sagte: „Du hast doch selbst gesehen, dass Janine über meine Schulter hinweg geguckt hat, ich konnte natürlich nicht sehen, wie sie drauf war.“ – „Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen wie während eures Tanzes. Ich fand es übrigens süß, wie Janine dir immer wieder zugeflüstert hat, was du machen sollst.“ Er musste schmunzeln, während mir das fast ein bisschen peinlich war. Er sagte: „Ist doch nicht schlimm. Sie war sicher heilfroh, dass du überhaupt zum Tanzen mitgekommen bist.“ – „Na ja, sie hat einfach meine Hand genommen und mich mitgezogen.“ – „Ihr blieb ja auch keine andere Wahl, wenn du von selbst nicht auf die Idee kamst, mit ihr zu tanzen…“ – „Es ist ja nicht so, dass ich nicht wusste, dass Janine mit mir tanzen wollte, aber mir war einfach nicht danach. Ich konnte auch einfach mit der Musik von vorhin nichts anfangen.“ Er zog eine Schnute und ich schüttelte grinsend den Kopf. Ich sagte zu Tim: „Ich werde, denke ich, gleich nach Hause gehen.“ – „Jetzt schon? Findest du das nicht ein bisschen früh?“ – „Mir reicht das einfach, ich werde langsam auch müde.“ – „Schau doch, dass du Janine zumindest nach Hause bringst. Sie geht bestimmt davon aus.“ – „Schlimm, was von mir alles erwartet wird…“ – „Das war doch nur ein Vorschlag, du musst es natürlich nicht machen. Aber ich denke, Janine wird sich ziemlich darüber freuen.“ – „Ja, klar wird sie sich freuen.“ – „Wenn du all die Sachen weißt, warum machst du sie nicht einfach?“ – „Weil ich einfach oft keine Lust habe, ständig die Erwartungen von allen zu erfüllen.“ Er schaute mich fragend an, aber das Thema beließen wir dabei beruhen, da Janine und Anna ziemlich zügig von der Toilette wiederkamen. Als ich Janine anschaute, sah ich ihr an, dass sie glücklich war – genau, wie Tim beschrieben hatte. So hatte ich sie äußerst selten gesehen und wenn, normalerweise nur, während ich mit ihr allein unterwegs war. Eine Ausnahme war ihre Geburtstagsfeier in der Diskothek, wo sie sich voll austoben konnte und dadurch pudelwohl fühlte.
Als die beiden sich zu uns setzten, sagte ich in die Runde: „Ich denke, ich würde jetzt gehen wollen.“ Janine schaute enttäuscht und sagte: „Oh, wirklich jetzt schon? Wir sind doch gar nicht so lange bisher da, es ist doch noch recht früh.“ Ich antwortete ihr: „Na ja, ich bin halt schon ziemlich müde und weiß nicht so richtig.“ – „Bleibst du wenigstens noch eine Stunde? Dann würde ich mitkommen, weil ich auch nicht all zu spät zu Hause sein will.“ Tim, der im Rücken von Janine saß, sowie Anna, die auf seinem Schoß saß, nickten mir aufdringlich zu. Ich war leicht genervt, weil Tim – Anna sah ich ja selten – mich sehr in Richtung von Janine trieb und mir ständig versuchte, zu helfen, indem er mir sagte, was ich machen sollte. Ich ignorierte einfach die beiden und dachte über Janines Frage nach. Wenn Janine direkt mitkommen würde, spielte mir das in die Karten, weil ich sie schon durchaus nach Hause bringen wollte, allein auch deswegen, weil ich mich wohler fühlte, dass sie heil zu Hause ankommen würde. „Na gut, ok, ich bleibe noch für eine Stunde.“ – „Das klingt toll!“, sagte Janine. „Falls du nachher wirklich mitkommst, bringe ich dich noch nach Hause, ok? Oder wirst du abgeholt?“ – „Nein, meine Mutter hat mich nur hergefahren. Das wäre toll, wenn du mich noch nach Hause begleitest.“ Tim zeigte mir versteckt seinen nach oben zeigenden Daumen, wofür ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte, weil ich schon selbst wusste, was ich machen wollte und was nicht. Nichtsdestotrotz war und blieb er mein bester Freund, weil er ja auch einfach nur das Beste für Janine und für mich wollte.
„Super, so machen wir das. In einer Stunde fahren wir los zu dir nach Hause und dann passt das.“ Sie nickte und fragte uns drei: „Wollen wir nochmal tanzen gehen?“ Ich lauschte der Musik und bemerkte, dass der merkwürdige DJ mittlerweile wieder etwas Pop und Rock spielte, was ich zwar musikalisch ganz nett, aber zum Tanzen völlig ungeeignet fand. Tim und Anna standen direkt auf, Janine schaute mich hingegen fragend an: „Kommst du auch?“ Ich gab mir selbst einen Ruck und sagte: „Klar!“ Sie freute sich total und nahm wieder meine Hand, sodass sie mich vorsichtig in Richtung Tanzfläche zog. Wir tummelten uns in die große Meute und versanken in der Menschentraube. Janine und ich achteten darauf, beisammenzubleiben, auch wenn wir locker tanzten, weil die Musik es einfach hergab. Ich bemühte mich, auf den Rhythmus, aber auch auf Janine zu achten, weil sie gerade wirklich nicht sicher auf den hohen Schuhen wirkte. Währenddessen, bei einem leiseren Abschnitt eines Liedes, fragte ich sie: „Kommst du mit den Schuhen wirklich klar? Nicht, dass du noch beim Tanzen hinfällst.“ – „Ach, das geht schon. Ich habe die zum ersten Mal so richtig an, ich muss mich nur daran gewöhnen.“ – „Ok, wie du meinst. Pass weiter gut auf.“ Sie nickte und schenkte mir ein breites Lächeln, welches ich erwiderte. Die letzten Songs, die ich an diesem Abend mitnahm, waren wieder ruhigere, sodass wir eng miteinander tanzten konnten.
Nach etwas mehr als einer Stunde schlug Janine von sich aus vor, dass wir uns nun auf den Nachhauseweg aufmachen sollten. Wir verabschiedeten uns von Anna und Tim – Tim flüsterte mir währenddessen zu: „Versau es nicht!“ Ich ignorierte seinen Kommentar einfach und ging mit Janine zur Garderobe. Nachdem ich ihr in ihren Mantel hineinhalf, gingen wir hinaus in die Kälte. Wir waren gerade die ersten Meter gegangen, da fing Janine schon an, zu frieren, obwohl sie einen verhältnismäßig dicken Mantel trug. Ich musste leicht schmunzeln, während sie sagte: „Du bist doof!“ – „Ist dir wirklich jetzt schon kalt? Wir sind doch gerade erst raus!“ – „Na ja, mir ist öfters sehr schnell kalt. Bei dir zu Hause ist mir doch auch oft schnell kalt geworden, während du total warm warst.“ – „Das stimmt.“ Ich dachte einige Sekunden nach und meinte: „Magst du mein Jackett zum drüber werfen haben? Das ist zwar nicht so groß und nicht so dick, aber so hättest du immerhin etwas.“ Ich fand es zugegeben auch recht kühl, weil die Temperatur in den letzten Stunden wirklich abgestürzt war, aber es war eigentlich zu ertragen, auch ohne Jackett. „Das ist lieb, aber ich will ja nicht…“ Es folgte eine kurze Fröstelattacke von Janine. „… ich will ja nicht, dass du stattdessen frierst.“ – „Ich friere so leicht nicht.“ Ich zog einfach mein Jackett aus, um vor allem ihren Rücken damit zu bedecken. Sie legte sich das Jackett noch ein wenig zurecht und wir gingen weiter. „Das ist echt toll! Es hält den kalten Wind etwas ab.“ – „Das ist schön zu hören.“ Wir schauten uns kurz an und lächelten. Janine war einfach sexy, auch wenn sie gerade mein Jackett trug, was ihr von der Größe wieder so gar nicht passte.
Auf dem Weg zur U-Bahn entwickelte sich ein intensives Gespräch über den Abend, speziell aber darüber, wer alles aus unserer Klasse und den Nebenklassen auf dem Ball war und wie hübsch die meisten wirklich aussahen. In der U-Bahn, mit der wir zunächst in Richtung meines Zuhauses fuhren, legte Janine, als wir uns kurz hinsetzten, ihren Kopf wieder auf meine Schulter, was mich schon gar nicht mehr irritierte, weil ich es von früher schon gewohnt war. Ich spürte dieses wohlige Gefühl, welches ich vor einigen Monaten immer hatte, wenn Janine meine Nähe suchte. Ich legte einfach meinen Arm um sie, worauf sie sich umso intensiver an mich herankuschelte. Sie griff nach meiner linken freien Hand und schien sie sich genauer zu betrachten. Parallel dazu redeten wir noch über den Ball, auch wenn Janine meine Hand aus mir unerfindlichen Gründen interessanter als das noch laufende Gespräch über den Ball fand.
Wir stiegen nach wenigen Minuten bereits wieder aus und ich ging mit ihr zur Bushaltestelle, an der wir haarscharf den Bus verpassten und daher 20 Minuten hätten warten müssen. Sie schlug vor: „Lass uns doch einfach laufen.“ – „Bist du sicher, dass du nicht noch mehr frierst, gerade durch den leichten Wind und so?“ – „Das ist, glaube ich, immer noch besser, als wenn ich hier an der Bushaltestelle rumstehe…“ – „Aber ich könnte dich immerhin wärmen und den Wind ein bisschen abfangen.“ Ich wurde ausnahmsweise etwas mutiger und zwinkerte ihr zu. Wir schmunzelten, sie sagte: „Das wäre bestimmt auch eine Lösung, aber ich denke, wir können wirklich zu mir nach Hause laufen. Ich finde das Wetter einfach schön, auch wenn es furchtbar kalt ist.“ Ich stimmte ihr zu, sodass wir losgingen. Sie fragte mich direkt nach dem Loslaufen, während sie in Richtung Himmel schaute: „Kennst du dich mit Sternenbildern aus?“ Ich war völlig überrascht von der Frage und meinte: „Nein, sehr wenig. Du etwa?“ – „Ja, ich habe viel darüber gelesen. Ich finde das irgendwie total spannend.“ – „Warum das?“ – „Ich liebe einfach den Sternenhimmel, wenn er so klar ist wie heute. Ich habe gerade schon zwei Sternenbilder entdeckt, die man gerade sehr schön sehen kann.“ Sie blieb stehen und sagte zu mir: „Komm her zu mir, vielleicht kann ich sie dir zeigen.“ Ich kam ihr nahe, sodass wir Kopf an Kopf waren. Wir schauten in den völlig wolkenfreien Himmel. Dass es gefühlt immer kälter wurde, ignorierte ich an dieser Stelle einfach. Janine deutete mit ihrem Finger und einigen Erklärungen an, welche Sterne sie gerade betrachtete und welche wohl ein Sternenbild ergeben würden.
Während unseres Nachhauseweges zu ihr hielten wir immer wieder an, weil sie mir begeistert von der Astronomie und von weiteren Sternenbildern erzählte. Ich fragte sie regelrecht währenddessen aus, weil sie mich mit ihrer Begeisterung ansteckte. Als wir gerade auf der Hälfte der Strecke waren, sahen wir, wie der Bus, den wir eigentlich nehmen wollten, an uns vorbeifuhr. Janine: „Oh weh, haben wir wirklich so lange schon gebraucht?“ Ich schmunzelte: „Ja, wir haben die Zeit völlig vergessen… Aber egal, laufen wir jetzt den Rest trotzdem einfach weiter zu dir. Den Bus kriegen wir jetzt nicht mehr.“ Wir mussten darauf herzhaft lachen und mir war einfach danach, Nähe zu Janine aufzubauen, indem ich sie, während wir lachten, einfach kitzelte. Sie meinte irgendwann: „Wofür ist das denn?“ – „Einfach so. Du hast mich auch schon so oft geärgert!“ – „Das ist voll unfair!“ Sie fing an, sich zu wehren und wir kitzelten uns immer weiter ab, sodass wir natürlich erst recht nicht weiter vorankamen. Erst nach einer ewig lang anfühlenden Zeit schlossen wir einen Friedenspakt. „Ich kann mich so gar nicht richtig wehren, mit den Klamotten und den Schuhen!“ – „Genau deshalb habe ich es ja auch gemacht!“ Sie wollte gerade wieder ansetzen, mich zu ärgern, ließ es aber doch. Die Stimmung war ausgelassen und ich genoss die Lockerheit und die Nähe, die wir in diesen Momenten hatten.
Kurz, bevor wir in die Straße von Janines Wohnhaus einbogen, sahen wir, wie der schon zweite Bus an uns vorbeifuhr. Ohne, dass wir etwas sagten, brachen wir in einen Lachanfall aus, der eine ganze Weile anhielt. Als wir nur noch wenige Meter von ihrem Zuhause entfernt waren, blieb Janine plötzlich stehen und meinte leise: „Komm mal her.“ Mir wurde schon wieder kurz mulmig, aber ich machte einfach, was sie sagte. Sie schaute in Richtung Himmel, zeigte ungefähr auf ein paar wenige Sterne und fragte: „Wenn du diese Sterne betrachtest, welches Sternenbild siehst du da von all denen, die ich dir jetzt gezeigt habe?“ Auweia, dass sie mich mit dieser Frage schockte, damit hatte ich nun am allerwenigsten gerechnet. Ich hatte zugegeben einfach irgendwann gar nicht mehr aufgepasst, weil ich die Nähe zu Janine genoss, aber ich konnte mich immerhin an die ersten beiden Sternenbilder erinnern, die sie mir zeigte und nannte einfach das erste. Sie meinte: „Richtig! Du hast echt aufgepasst!“ Sie strahlte mich wieder an, als wir uns anschauten und ich sagte ehrlich: „Ich habe gut geraten, aber ich konnte mich an die ersten auf jeden Fall noch erinnern, die du mir vorhin gezeigt hast.“ – „Ich weiß doch, dass du dir die Sachen bestimmt nur zum Teil merken konntest, ich wollte dich doch auch nur etwas ärgern und ins Schwitzen bringen.“ Sie schmunzelte und steckte mich an, ich antwortete: „Das hast du auf jeden Fall.“ Direkt vor ihrer Haustür drehte sich Janine zu mir, griff einfach meine Hände und verschränkte ihre Finger mit meinen. Wir waren uns damit automatisch wieder sehr nahe und sie sagte: „Danke, dass du mich bis nach Hause gebracht hast. Allein um diese Uhrzeit gehe ich nicht gerne nach Hause, vor allem nicht mit dieser Kleidung.“ – „Weiß ich doch und kann ich auch gut verstehen. Ich fühle mich doch auch gleich viel wohler, wenn ich weiß, dass du heil nach Hause kommst.“. Wir schauten uns einige Sekunden direkt in die Augen und ich wusste, was das für ein Moment war…
Ich kam ihr noch etwas näher, während Janine einfach abwartete und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ich war einfach noch nicht bereit, ihr einen richtigen Kuss zu geben, weil ich mir mit allem einfach noch immer nicht hundertprozentig sicher war. Aber je mehr wir solche Momente wie diesen Abend hatten, desto mehr fühlte ich mir zu ihr hingezogen. Ich spürte es immer stärker. Deshalb wollte ich ihr zumindest etwas Nähe zurückgeben, indem ich ihr einen Kuss auf die Wange gab, was ich im Vergleich zu ihr bisher äußerst selten gemacht hatte.
Als ich in Janines Gesicht nach meinem Wangenkuss schaute, bemerkte ich, wie sie noch kurz ihre Augen geschlossen hielt, weil sie diesen Wangenkuss offenbar vollkommen genoss. Sie schaute danach unheimlich glücklich wie schon den ganzen Abend über und sagte: „Das war heute der mit Abstand schönste Tag, den ich jemals bisher hatte.“ – „Finde ich auch.“ Sie lächelte und sagte ohne ein Anzeichen eines Zweifels: „Ich liebe dich.“ In mir drehte sich wieder das Karussell ziemlich kräftig und ich versuchte, darauf zu antworten: „Ich… Ich…“ Sie kam mir sehr nah und flüsterte leise in mein Ohr: „Sag nichts, es ist schon total ok so, wie es gerade ist. Ich weiß, was dich beschäftigt.“ Sie gab mir ebenfalls einen Wangenkuss, überreichte mir im Anschluss noch mein Jackett und schloss ihre Haustür auf. Als sie diese geöffnet hatte, schaute sie noch intensiv zu mir und wir tauschten für wenige Sekunden Blicke aus, bis sie mit einem Lächeln das Haus betrat.
Auf meinem Nachhauseweg ließ ich den heutigen Tag einfach sacken. Der Kuss heute Morgen und nun so ein besonderer Abend… Janine sagte mir zum ersten Mal direkt, dass sie mich „lieben“ würde… Ich war so im Gedanken versunken, dass ich dadurch fast nicht mitbekam, wie schnell ich zu Hause ankam. Petra war nicht da und höchstwahrscheinlich auf Arbeit, sodass ich vorsichtig meinen Anzug auszog und verstaute, noch ein bisschen Zeit vor dem Fernseher verbrachte und kurz vorm Schlafen gehen von einer Nachricht von Janine überrascht wurde. Sie schrieb mir: „Ich hoffe, du bist heil zu Hause angekommen. Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast, soll ich dir auch von meiner Mutter ausrichten. Schlaf schön, Nacht!“ Am Ende der Nachricht hing sie einen Herzsmiley heran. Ich antwortete ihr darauf: „Ist alles gut gegangen, ich war sehr schnell zu Hause. Schlaf und träume du auch schön! Nacht!“ Ich legte mich direkt im Anschluss ins Bett und dachte aber letztlich nur an Janine.