Alles auf Anfang
Einige Stunden später, gegen 21 Uhr, erwachte ich aus meinem Koma. Ich war immer noch völlig fertig, zwang mich aber dazu, aufzustehen und etwas wach zu bleiben, damit ich später halbwegs im normalen Schlafrhythmus schlafen gehen könnte, um so kurz vor dem Schulbeginn nicht wieder Schlafprobleme zu bekommen. Ich aß etwas und sah Petra, die im Wohnzimmer faul auf der Couch lag und fernschaute. Wir schmunzelten und sie fragte: „Wieder besser?“ – „Ja, ich war todmüde vorhin.“ – „Das hat man dir auch angesehen.“ Es entstanden einige Sekunden Stille, bis wir aus meinem Zimmer den Klingelton meines Handys für eine Nachricht hörten. „Ich glaube, da möchte jemand ganz Bestimmtes deine Aufmerksamkeit.“ Mir war das schon wieder etwas unangenehm, aber ich ging in mein Zimmer und fand eine Nachricht von Janine vor, in der sie mich fragte: „Na, bist du schon wieder wach?“ – „Ja, seit wenigen Minuten. Ich war noch nie so müde wie vorhin.“ – „Was bleibst du auch die ganze Nacht wach?“ Mich nervte das in diesem Moment ein wenig, dass sie mir jetzt noch Vorwürfe machte, nachdem sie zur Hälfte daran schuld war, dass ich in der vergangenen Nacht nicht schlafen konnte. Ich antwortete ihr daher für ein paar Minuten nicht und ließ mich vom Fernseher etwas ablenken, bis plötzlich eine weitere Nachricht von ihr kam: „Sorry, das war nicht böse gemeint. Ich mache mir einfach Sorgen um dich!“ – „Ist schon in Ordnung, war nicht weiter schlimm.“ Wir tauschten noch einige Nachrichten aus – ich schaltete meinen Ton meines Handys ab – und beschlossen, erst am nächsten Samstag wieder etwas zu unternehmen. Dadurch, dass Neujahr auf einen Montag fiel und wir nur noch den Dienstag über Ferien hatten, war am Mittwoch leider direkt wieder Schule angesagt, was mich ziemlich störte.
Am Dienstag nutzte ich eine spontane Gelegenheit, um mit Tim Billard spielen zu gehen. Dabei ging es mir vor allem um das Thema Janine, wie ihm vorher schon klar war. „Ich glaube, ich kann mir denken, warum du dich unbedingt mit mir treffen wolltest.“ – „Ich habe eine ganze Menge nachgedacht.“ – „Was empfindest du für sie? Hat es eigentlich noch weiter zwischen euch in der Nacht geknistert?“ Er grinste recht breit, ich hingegen verzog meine Miene fast kein Stück. „Nein, in der Nacht ist nichts weiter passiert, wenn man davon absieht, dass ich die ganze Zeit kein Auge zugemacht habe und gestern fast den ganzen Tag nur geschlafen habe.“ – „Oha, warum das? Du hast doch gesagt, der Kuss hat dir gefallen?“ – „Hat er auch. Aber ich weiß einfach nicht. Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde.“ – „Du hast dich auf den Kuss eingelassen, aber hast dabei nichts empfunden? Erkläre mir die Logik.“ – „Man, es war einfach so ein Hin und Her und ich habe echt lange gebraucht, um ein bisschen von ihr loszukommen. Ich weiß nicht, ob ich das ganze Chaos wieder will. Vor allem weiß ich nicht, ob ich überhaupt Bock auf Mädels habe, nachdem das mit Julia schon in die Hose ging.“ – „Nein, in die Hose ging es ja nicht, so weit hast du es ja nicht kommen lassen.“ Er bekam darauf einen festen Schlag gegen die Schulter, der schon wehtun sollte, ohne ihn dabei aber zu verletzen. „Ey, ganz ehrlich, Janine hat dich geküsst, nachdem sie dich erst zurückgewiesen hat – sie wird gemerkt haben, dass sie dich voll und ganz will, und zwar nicht nur als besten Freund, also: Was willst du mehr? Du konntest das nicht sehen, aber sie sah wirklich sehr verliebt aus, als wir alle das Kartenspiel gespielt haben. Das hat sogar einer von meinen anderen Freunden gesagt, der eigentlich fest glaubte, dass ihr zusammen seid und den Eindruck hatte, dass du Janine beim Kartenspiel richtig kühl behandelt hast.“ – „Krass, dass selbst die anderen das dachten. Ich weiß nicht, ob ich unsere gerade gerettete Freundschaft für die Beziehung aufgeben will. Ich hätte, glaube ich, Schiss, wenn ich es mit ihr versuchen würde. Ich glaube, dass sich dadurch so viel verändern würde. Ich weiß nicht, ob ich das so wirklich will.“ – „Ich verstehe dich echt nicht, erst verbringst du so viel Zeit mit ihr und jetzt hast du plötzlich gar keine Gefühle mehr für sie?“ Ich versenkte ein paar Kugeln der Reihe nach, weil ich mich durch den Kommentar getriezt fühlte und sagte: „Man Tim, ganz ehrlich, natürlich finde ich sie toll… Ich finde sie mega sexy, ich finde ihre Art einfach toll und wir verstehen uns einfach super. Ich weiß halt nur nicht…“ – „Ich glaube, du hast einfach Angst vorm ersten Mal, oder?“ – „Nein, das ist weniger das Problem. Also, ja, auch, aber ich habe einfach generell Angst und will nicht alles kaputt machen.“ – „Schau, beobachte es einfach noch ein wenig und verbringe einfach noch weiter Zeit mit ihr. Wenn der richtige Moment gekommen ist, probierst du es einfach und sagst ihr, dass du mit ihr zusammen sein willst. Als derjenige, der euch wohl sonst von allen am meisten sieht, hatte ich schon vor eurem Streit das Gefühl, dass ihr eigentlich schon fast zusammen seid und nicht mehr viel fehlt. Ihr seid so vertraut miteinander umgegangen, das habe ich bisher nicht so häufig gesehen.“ Ich nickte, er sagte abschließend: „Aber lasse dir nicht zu viel Zeit. Janine ist hübsch, es gibt bestimmt einige andere Kerle, die auch Interesse an ihr haben. Das hast du ja auf Jonas‘ Party gesehen.“ – „Ja, Jonas‘ Party… Hör mir bloß damit auf. Ja, du hast Recht, das setzt mich zusätzlich unter Druck.“ – „Versuch dich etwas zu entspannen, so schnell wird Janine schon sicher nicht aufgeben…“ – „Vermutlich, ja…“ – „Sieh es so: Was hast du ernsthaft zu verlieren? Klar, Janines Freundschaft, aber du könntest dafür so viel mehr dazu gewinnen, sehr viel Erfahrung, viele Gefühle, die du noch nicht kennst und einfach eine ganze Menge Spaß, so gut, wie du dich ja mit ihr verstehst.“ – „Ja, du hast ja Recht… Es ist einfach schwierig.“ – „Außerdem finde ich eine Sache komisch: Julia lässt du abblitzen, als sie sich auf dich gelegt hat und dich küssen will, aber bei Janine lässt du direkt den Kuss zu?“ – „Ja, das verstehe ich erst recht nicht. Ich habe mich nicht unter Kontrolle gehabt, ich weiß nicht, warum. Sie hat mich einfach genau in diesem Moment so angezogen, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte.“ – „Das sagt doch eigentlich schon viel aus. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du ihr für den Kuss sogar noch entgegen gegangen bist?“ Er zwinkerte, während ich mit den Schultern zuckte und nichts mehr zu diesem Thema sagte. In den darauffolgenden Billardspielen redeten wir mehr über Tims Heiligabend und seinem Eindruck von Silvester, worüber ich ganz froh war, da er mich damit etwas von Janine ablenkte. Mir wurde klar, dass mich das Thema sehr schnell einholen würde…
Als ich abends zu Hause war und mir, wie die ganze Zeit, Janine im Kopf umher ging, fragte mich Petra, ob ich nicht am nächsten Tag auch zu Oma mitkommen wollen würde, da Petra sie nachmittags besuchen gehen wollte.
Das Thema Janine holte mich wie erwartet direkt am nächsten Tag ein, dem Mittwoch, da eben wieder Schule angesagt war. Nach unserem Streit hatte ich mich bewusst einen Platz weggesetzt von ihr, sodass ich einfach mit Tim tauschte und Tim zwischen Janine und mir saß. Janine und ich fuhren auch nicht gemeinsam zur Schule, da wir einfach auch gar nicht daran gedacht hatten, das auszumachen. Als ich, schon ziemlich früh, in der Schule ankam, sah ich dort bereits Janine, wieder etwas stärker geschminkt, aber dafür nicht freizügig, die gerade ihre Sachen für die erste Stunde auf ihren Tisch legte. Als sie mich sah, sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und kam zu mir, um mich ziemlich schwungvoll zu umarmen. „Hey, bist du wieder ausgeschlafen?“ – „Na ja, wie man es nimmt… Gestern Abend fiel es mir schon ziemlich schwer, wieder einzuschlafen.“ – „Mir aber auch.“ Sie gähnte daraufhin laut, was mich zum Schmunzeln brachte. Da wir etwas verloren im Raum standen und neben uns schon drei weitere da waren, ging ich zielgerichtet zu meinem Sitzplatz, der eben ein Platz von Janine entfernt war. Sie schaute mich etwas perplex und überrascht an und ich wusste nicht, was ich nun richtig machen sollte. Ich war schon nicht abgeneigt, mich wieder neben Janine zu setzen, aber Tim war noch nicht da, weswegen ich das nicht einfach so machen wollte – ich wollte ihn wenigstens schon vorher fragen, ob der Rücktausch des Platzes für ihn ok war. Janine folgte mir die wenigen Schritte, ging an ihrem Tisch vorbei, setzte sich etwas provokativ auf meinen Tisch und strich mit ihrem Finger manchen Linien auf meiner Tischhälfte entlang. Ich schaute nach einigen Sekunden zu ihr hoch und fragte sie leise: „Alles ok?“ – „Du? Gefällt dir dein Sitzplatz hier eigentlich?“ – „Eingelebt habe ich mich hier schon.“ Ich wollte, dass sie ihre Frage direkt stellte. Janine: „Na ja, ich fühle mich auf meinem Platz nicht unbedingt so wohl. Ich glaube, irgendetwas fehlt mir.“ Wir grinsten und sie zog mich schon wieder an. „Mhm, meinst du etwa, dass du eine Veränderung deiner Sitznachbarn brauchst?“ – „Ja, irgendwie schon.“ – „Magst du Tim etwa als Nachbar nicht?“ Ich verzog mit Absicht meine Augenbraue nach oben, um dieses Spiel noch ein wenig weiterzuspielen. Sie schmunzelte und meinte: „Doch, doch, ich mag Tim total gerne.“ – „Aber?“ – „Ich glaube, ich würde mich freuen, wenn noch jemand anders neben mir sitzt.“ – „Wen könntest du denn meinen?“ – „Ich habe da vielleicht an dich gedacht.“ – „Oder meintest du vielleicht doch jemand anders?“ – „Nein, ich meinte schon ziemlich sicher dich. Vielleicht hilft es ja, wenn du dich wieder neben mich setzt.“ – „Bist du sicher?“ – „Ja, doch. Ich denke schon. Willst du dich denn wieder neben mich setzen?“ Auf die direkte Frage hatte ich gewartet, sodass ich antwortete: „Klar, können wir machen, wir sollten Tim aber vorher fragen, weil er sich ja auch umsetzen muss.“ Tim betrat wie aufs Stichwort den Raum, sah Janine und mich und meinte, weil er irgendwie den Braten roch: „Schon ok, setz dich wieder um, so, wie es bisher war.“ Janine schloss das Thema mit einem „Prima!“ ab und ich rutschte einen Platz weiter, sodass wir wieder in der alten Formation zusammensaßen. Janine sagte, als sie neben mir saß: „Weißt du, jetzt spüre ich ganz deutlich, dass mir hier nichts mehr fehlt.“ Ich grinste weiterhin und Janine umarmte mich. Die Angewohnheit, mir etwas zuzuflüstern, während sie mich umarmte, würde sie wohl niemals loswerden – sie sagte ganz leise währenddessen: „Danke. Du bist echt lieb.“ Ich entgegnete ihr, als wir uns lösten: „Ich sitze doch gerne neben dir, aber das weißt du.“ Sie lächelte und ich stellte wieder fest, dass ich ihr Gesicht einfach unheimlich sexy fand. Ihre schönen Augen, die Janine etwas mehr geschminkt ziemlich verrucht aussahen ließen, dazu ihre recht kleine Nase und die schmalen Lippen…
Was die anderen aus unserem Raum hinsichtlich unseres Dialoges dachten, war mir in diesem Moment ziemlich egal, auch wenn ich im Nachhinein sicher war, dass die sich ziemlich wunderten, was wir da eigentlich für eine Show abzogen.
Im Laufe dieses Tages erinnerte unser Klassenlehrer daran, dass zwei Tage später, am Freitagabend, der alljährliche Winterball der Schule stattfand. Er war für alle Lehrer und Schüler freigegeben, aber laut unserem Lehrer waren erfahrungsgemäß eher ältere Schüler in unserem Alter dort. Die Schülervertretung hatte schon vor einigen Wochen Werbung dafür gemacht, aber wie bisher hatte ich solche Veranstaltungen prinzipiell ignoriert, weil ich damit nicht viel anfangen konnte. Während unser Klassenlehrer auf Nachfrage mancher Mitschülerinnen und Mitschüler einiges mehr von den letzten Winterbällen erzählte, malte ich gedankenverloren und zutiefst gelangweilt auf einer leeren Seite in meinem Schreibblock herum, während Janine mich zwischendrin mit dem Ellenbogen leicht anstupste. Ich schaute sie fragend, aber weiter gelangweilt an, worauf sie ihr Gesicht verzog und ganz leise flüsterte: „Das bist so typisch du!“ Ich zuckte mit den Schultern, während sie mir scherzhaft die Zunge rausstreckte und weiter ziemlich neugierig den Ausführungen unseres Lehrers lauschte.
Nach der Stunde meinte Janine: „Der Winterball klingt toll!“ Ich reagierte darauf nicht großartig und murmelte nur vor mich hin: „Ich habe keine Lust, dorthin zu gehen.“ Janine ignorierte mein Gemurmel und meinte: „Ich weiß nicht so recht, ob ich wirklich hingehe. Vor allem, wenn vermutlich keiner mit mir tanzen will.“ – „Wer sagt denn das, dass keiner mit dir tanzen will? Ich bin mir sicher, dass du dort jemand zum spontanen Tanzen findest. Vielleicht findest du auch vorher schon wen, der mit dir hingeht.“ – „Woher willst du das wissen?“ – „Also… na ja, mein Bauchgefühl sagt mir das.“ – „Das klingt nach keiner wirklich sicheren Prognose.“ Sie schmunzelte und ergänzte: „Warum willst du eigentlich nicht hingehen?“ – „Ach, tanzen ist doch einfach nichts für mich. Ich habe doch daran keinen echten Spaß.“ – „Ich kann immer noch nicht verstehen, wie es Leute geben kann, die keinen Spaß am Tanzen haben. Ich tanze richtig gerne!“ – „Wahrscheinlich, weil du es eben auch gut kannst.“ Sie dachte kurz nach und meinte: „Du hast doch an Silvester auch getanzt, du konntest das doch echt gut!“ – „Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich sehr schlecht bin, aber Spaß macht es mir trotz allem nicht so richtig.“ – „Na siehst du, wenn du sogar selbst sagst, dass du nicht schlecht tanzt, kannst du es doch wieder unter Beweis stellen!“ – „Nein, lass lieber gut sein. Silvester hat mir, denke ich, für eine Weile gereicht.“ – „Du bist so eine Spaßbremse! Na gut, ich greife auf das Versprechen zurück, was du mir an meinem Geburtstag gegeben hast – dass du zum Tanzen mitkommst.“ Netter Versuch, Janine. „Das Versprechen hast du an Silvester schon eingelöst, das gilt nicht mehrfach.“ Ich grinste sie an und sie meinte: „Ach menno, na gut, halt anders: Wenn du nicht hingehst, gehe ich auch nicht hin.“ Ich schaute sie skeptisch an und sagte: „Das ergibt doch keinen Sinn! Fair ist es auch nicht, wenn du da eigentlich hingehen willst. Du bringst dich doch damit nur um einen bestimmt schönen Abend.“ – „Doch, das macht absolut Sinn! Ich gehe einfach auch nicht hin, wenn du nicht hingehst, auch, weil vermutlich keiner mit mir tanzen wird.“ – „Jetzt mach dich nicht herunter, du weißt das doch gar nicht.“ – „Siehst du, genauso wenig, wie du weißt, ob du nicht doch ein richtig guter Tänzer bist, wenn du das fast nie machst.“ Wie sehr ich solche Spielchen, die Janine in diesem Fall spielte, nicht mochte. „Ich mache dir das Angebot, dass ich noch mal überlege, ob ich mitkomme und du aber in jedem Fall hingehst, auch, falls ich nicht kommen sollte.“ – „Ich kann dir das wirklich glauben, dass du zumindest darüber nachdenkst, ja?“ – „Ja, du hast mein Ehrenwort.“ – „Na gut, gibst du mir endgültig Bescheid, sobald du es weißt? Allzu viel Zeit haben wir nicht mehr.“ – „Ja, ich versuche, mich bis morgen entschieden zu haben.“
Na prima, Janine erwartete nun fest, dass ich zu diesem Winterball auch vorbei schauen würde… Ich hatte keinen Nerv für diesen Mist. Tim schnappte ich mir daraufhin zügig, mit dem ich kurz unter vier Augen sprach: „Was gibt es denn so Dringendes?“ – „Ich habe ein Problem: Janine erwartet, dass ich mit zum Winterball komme.“ – „Du gehst einfach hin und dein Problem ist gelöst.“ Er schmunzelte und ich meinte: „Ach, ne? Mir ging es auch um was anderes, nämlich um die Frage, was du an diesem Tag anziehst.“ – „Ich habe seit ein paar Monaten extra einen Anzug für solche Zwecke. Ich glaube aber nicht, dass man da echt mit Anzug kommen muss. Wenn du ein ordentliches Hemd, schwarze Jeans und Herrenschuhe trägst, ist das auch sicher kein Problem.“ – „Oh weh, mir mangelt es ja allein schon an den Schuhen. Verdammter Mist.“ – „Ich habe theoretisch ein zweites Paar sogar zu Hause, aber das wird dir nicht passen. Selbst kaufen solltest du das nicht, das kann ganz schön teuer werden.“ – „Ja, das habe ich befürchtet. Ich frage Petra nachher.“ – „Willst du also tatsächlich hingehen?“ – „Ja, weil ich eben nicht als Spaßbremse dargestellt werden will, wie es Janine vorhin schon gemacht hat.“ – „Tja, ich kann nicht ganz abstreiten, dass du viele Sachen einfach nicht magst, die aber viele von uns mögen. Aber betrachte das doch so: Vielleicht knistert es mit Janine ja umso mehr, falls ihr da Zeit verbringen solltet.“ – „Mal schauen, ich gehe vor allem nur hin, um nicht als Spielverderber zu wirken, aber, ob ich wirklich tanze, wage ich noch ernsthaft zu bezweifeln.“ – „Warte – du gehst hin, und weißt aber vorher schon, dass du nicht tanzen wirst?“ Er schaute mich skeptisch an, darauf meinte ich: „Ehrlich gesagt gehe ich nur wegen Janine hin, dass sie zumindest gesehen hat, dass ich da war. Aber Lust auf Tanzen habe ich keine.“ – „Mensch, du kannst ganz schön kompliziert sein…“ Wie sehr er damit richtig lag…
Um es nicht zu überstürzen, beschlossen Janine und ich, dass wir nicht wie früher jeden Tag gemeinsam morgens und nachmittags von der bzw. zur Schule gemeinsam fuhren. Ich empfand diese Lösung eigentlich sogar als angenehm, weil ich früher schon den Eindruck gewonnen hatte, dass wir vereinzelt einfach gar keine Themen mehr hatten, wenn wir jeden Tag vor und nach der Schule noch Zeit verbrachten, zumal wir uns ja den ganzen Tag über im Normalfall sahen.
Am Mittwochnachmittag ging ich direkt nach der Schule zu meiner Oma, die gesundheitlich definitiv schlechter als sonst ausschaute. Mir machte das große Sorgen, auch wenn sie ihre schlechte körperliche Verfassung als kleine Wehwehchen abzutun versuchte. Wir aßen gemeinsam zu Mittag und ließen einfach die Seele baumeln. Ich erzählte unter anderem von Janine und dem Winterball, worauf Petra mir vorschlug, dass wir noch direkt an diesem Tag Kleidung kaufen gehen sollten. Ich war überrascht, stimmte ihr aber zu. Petra begründete das damit, dass ich nicht nur Kleidung für einen potenziellen Abiball in wenigen Jahren haben würde, sondern auch damit, dass sie glaubte, dass Janine und ich zusammenkommen würden und sie die Chance dafür erhöhen wollte. Oma schloss sich diesen Gedanken ebenfalls an, obwohl sie Janine nicht mal kennengelernt hatte. Ich spürte, wie Petra sich wirklich Mühe gab, mich in Richtung Janine zu schieben, wobei ich nicht mal wusste, ob ich überhaupt eine Beziehung mit Janine wollte. Ja, ich hatte sie geküsst, aber ich war mir nicht sicher, ob das Pendel nicht doch bei einer Freundschaft stehen blieb. An diesem Schultag gingen wir beispielsweise auch wie beste Freunde miteinander um, ohne, dass sie mich jedes Mal direkt stark körperlich anzog. Anziehung besaß sie eine Menge, gerade der Kuss schüttelte mich ordentlich durch. Aber nichtsdestotrotz: Warum gingen alle von einer nahenden Beziehung aus?
Einige Minuten später sagte Petra in meine Richtung: „Ich wollte auch deswegen, dass du heute mitkommst, weil Oma und ich… noch mal über deinen leiblichen Vater mit dir sprechen wollten.“ War vorher meine Stimmung richtig gut, weil ich mich von der besten Laune der beiden hatte anstecken lassen, war diese Aussage ein Schlag in die Magengrube. Ich war froh, dass ich das Thema bis auf einige wenigen Momente in den letzten Wochen weitestgehend verdrängt hatte, jetzt holten sie die Gedanken wieder hoch. Ich schaute Petra zweifelnd an und sie sagte: „Wir wollten nur, dass du weißt, dass dein leiblicher Vater Christian sich bei uns gemeldet hat und uns gesagt hat, dass er sich über einen Kontakt mit dir sehr freuen würde, falls du das möchtest.“ Meine erste Reaktion kam prompt: „Ich weiß es nicht.“ – „Es erwartet keiner und auch er nicht, dass du sofort dich für einen Kontakt entscheidest, aber wir fanden es richtig, dass wir dir ehrlich sagen, dass seinerseits ein wirklich ehrliches Interesse an einem Kennenlernen besteht.“, ergänzte Petra. „Ich habe mich auch schon ein paar Mal gefragt, ob ich es nicht einfach auf einen Kontakt ankommen lassen sollte.“ Beide schauten recht hoffnungsfroh und Oma sagte: „Schau, du hast doch wirklich nichts zu verlieren. Wenn du ihn nicht magst, habt ihr keinen weiteren Kontakt miteinander. Du kannst nichts verlieren, es zwingt dich keiner zu dem Kontakt.“ – „Du musst auch keine Sorgen haben, dass du plötzlich zu ihm ziehen sollst. Wir wohnen zusammen, ich bin für dich da, daran ändert sich nichts.“, schob Petra noch hinterher. „Danke“, richtete ich an sie. Ich war froh, dass ich die beiden hatte und dass Petra mit mir zusammenlebte. Nach einigen Momenten, in denen ich mich in den Sessel richtig tief hineinfallen ließ, bat ich beide darum, einen kurzen Spaziergang machen zu können, weil ich über den Vorschlag nachdenken musste. Ich lief vom Wohnhaus meiner Oma quer durch verschiedene Straßen und legte dabei eine etwas längere Strecke als geplant zurück, was mich überhaupt nicht störte. Ich dachte auch darüber nach, warum meine für mich wirklichen Eltern – meine Mutter und Matthias, mein Stiefvater – mir nichts davon gesagt hatten. Nach einer Weile konnte ich es halbwegs nachvollziehen: Wer wusste schon, wie schwierig das Verhältnis zu meiner Mutter und meinem Stiefvater geworden wäre, wenn sie mir das früher gesagt hätten? Nichtsdestotrotz taten sich weitere Fragen auf, die Petra und meine Oma mir noch beantworten mussten. Dass Petra meine Tante und meine Oma wirklich meine Oma war, konnte ich schlussfolgern, weil beide mütterlicherseits waren. Bisher ging ich davon aus, dass ich väterlicherseits keine weiteren Verwandten besaß, aber das konnte sich nun schlagartig ändern, wenn ich mich auf einen weiteren Kontakt einließ.
Als ich später als gewollt bei meiner Oma wieder ankam, schaute mich vor allem Petra ziemlich sorgenvoll an, Oma war auf der Couch weggenickt. Ich hingegen war wieder gut drauf. „Ich denke, ich möchte ihn kennen lernen.“ Petra fragte vorsichtig nach und sagte: „Bist du sicher?“ – „Ja, ich bin mir sicher. Ich möchte gerne wissen, was er für ein Mensch ist… wie er so ist. – „Das ist toll, Großer.“ Sie ließ einige Sekunden vergehen und ich fragte sie: „Aber ich möchte zunächst einige Fragen beantwortet haben – was mich am Meisten frage, ist, wann Mama mit… Matthias zusammengekommen ist und auch, wann sie sich von meinem Vater getrennt hat.“ – „…“ Sie wollte gerade ansetzen, da fiel mir glatt noch etwas ein: „Ist… mein Nachname denn auch mein richtiger Nachname?“ Damit überraschte ich selbst Petra, weil sie nicht davon ausging, dass ich in so komplizierte Bahnen dachte. „Dein Nachname ist schon richtig, keine Sorge. Du hast den gleichen Nachnamen wie deine Mutter. Matthias hat deine Mutter geheiratet und euren Namen angenommen.“ – „Ist das aber nicht ungewöhnlich? Ich habe bisher immer mitbekommen, dass die Frau öfters den Namen des Mannes annimmt.“ – „Das ist auch oft so, aber umgekehrt gibt es das natürlich auch. Matthias hat das deswegen gemacht, weil… er vermutlich verhindern wollte, dass du irgendwann vielleicht durch Zufall Verdacht schöpfst.“ – „Aber… wenn beide nicht verheiratet gewesen wären, wäre das ja auch nicht anders gewesen.“ – „Ja, damit hast du Recht – er sagte damals, dass sie einfach auf Nummer sicher gehen wollten. Abgesehen davon liebte er deine Mutter und dich, als wärest du sein eigenes Kind.“ – „Ich… hatte niemals Verdacht geschöpft, ich wäre niemals auf so eine Idee gekommen. Er war so wie immer.“ – „Es zwingt dich keiner dazu, ihn als dein Stiefvater anzusehen. Er hat dich fast dein gesamtes Leben lang auch aufgezogen. Du warst damals ein Jahr alt, als sich deine Mutter von deinem richtigen Vater getrennt hat. Wenige Monate später ist sie mit Matthias zusammengekommen und ein paar Monate danach haben die beiden schon geheiratet.“ – „So schnell haben sie geheiratet?“ – „Wir waren damals auch etwas überrascht, aber man hat bei den beiden bemerkt, dass sie perfekt zusammengepasst haben. Er konnte gut damit leben, dass du eben sein einziges Kind sein würdest, da deine Mutter damals sagte, dass sie keine weiteren Kinder haben wollte. Aber es gibt noch ein Detail, welches… du noch wissen solltest.“ – „Was kommt denn jetzt noch?“ Mir drehte sich der Magen um. „Es betrifft deine Mutter. Obwohl sie eigentlich nur dich als Kind haben wollte, haben Matthias und sie vor einigen Monaten beschlossen, nochmal Eltern werden zu wollen… Du solltest ein Geschwisterchen bekommen. Wir haben vom Krankenhaus gehört, dass deine Mutter bei dem Autounfall schwanger war.“
Das tat mir fürchterlich in der Seele weh – ich wäre Bruder geworden! Nicht nur, dass meine Eltern in dem Autounfall ihre Leben verloren hatten – das Kind, welches in meiner Mutter heranwuchs, hatte keine Chance, das Licht der Welt zu erblicken! Ich setzte mich auf den Sessel und sackte ein wenig in mich zusammen, weil das sehr viele harte Informationen an einem Tag waren. Nach einigen Minuten kamen mir ein paar Tränen, weil mir dadurch auch die Chance, einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen, genommen wurde. Als mir das bewusst wurde, wachte Oma auf und Petra brachte mich, obwohl ich das überhaupt nicht wollte, zum Schmunzeln, weil sie sich über Omas kurz verwirrten Zustand und ihren festen Schlaf, der eigentlich nur ein kurzes Nickerchen sein sollte, lustig machte. Mir brannte eine weitere Frage unter meinen Fingernägeln: „Habe ich eigentlich noch Geschwister durch meinen Vater?“ – „Nein, er hat keine Kinder. Also nur dich, besser gesagt.“ – „Wie heißt er eigentlich? Christian meintest du?“ – „Genau. Sein Nachname ist auch anders als deiner, nicht, dass du dich wunderst. Deine Mutter und er waren damals nicht verheiratet und sie haben sich entschieden, dass du eben den Nachnamen deiner Mutter bekommst.“ – „Habe ich durch Christian eigentlich noch weitere Onkel und Tanten? Oder Oma und Opa?“ – „Soweit ich weiß, leben seine Eltern seit einigen Jahren nicht mehr. Seine Eltern, sprich deine Oma und dein Opa, waren wohl sehr schwierige Menschen, wie er sagte.“ – „Warum das?“ – „Sie waren sehr schlimme Trinker und waren eigentlich ständig betrunken.“ – „Trinkt Christian auch?“ – „Nein, hat er nie. Er hat die Verhältnisse mehr als verabscheut und war früher deswegen wohl kaum zu Hause. Ich weiß zwar nicht genau, was in den letzten Jahren war, aber als ich ihn vor einigen Wochen sah, wirkte er auf mich sehr vernünftig.“ – „Du hast ihn getroffen?“ – „Ja, ich habe ihn zwei Mal gesehen. Das erste Mal wenige Tage nach dem Unfall. Allein durch das Jugendamt und so hat sich der Kontakt ergeben. Es war wichtig, dass er auch wusste, dass ich zu dir gezogen bin und das Sorgerecht für die restliche Zeit übernehme, bis du 18 bist. Das zweite Treffen war auf seinen Wunsch hin, da hat er mir erzählt, dass er dich gerne kennenlernen wollen würde.“ – „Verstehe.“
„Woher weißt du eigentlich all diese Sachen? Hat er euch das alles erzählt?“ – „Nein, wir haben das gemeinsam erlebt, da deine Mutter und ich eben natürlich auch zusammen aufgewachsen sind.“ – „Ach ja, stimmt.“ Das wurde mir in diesem Moment wieder so richtig bewusst, dass Petra all die Sachen aus der Kindheit meiner Mutter natürlich wusste. „Ich habe damals auch sehr viel mit den beiden Zeit verbracht, als sie noch gar nicht zusammen waren. Deine Mutter und dein Vater sind erst nach einigen Jahren zusammengekommen. Gar nicht so sehr viel später kamst auch schon du.“ – „Sie waren gar nicht lang zusammen? War… ich denn geplant?“ Sie traute sich die Antwort nicht so richtig zu geben, sodass ich schlussfolgerte: „Nicht so richtig also.“ Oma antwortete plötzlich: „Nein, du warst wirklich nicht geplant. Als deine Mutter aber erfahren hat, dass sie mit dir schwanger ist, war für sie sofort klar, dass sie dich bekommen will.“ Ich lächelte, als ich das hörte, und wurde von Frage zu Frage immer neugieriger, gerade auch, weil Petra, als auch Oma von früher so viel wussten. „Warum haben sich die beiden eigentlich so schnell wieder getrennt, kaum, dass es mich gab?“ Petra fuhr fort: „Sie hatten ziemlich viel Krach und ich glaube, dein Vater kam anfangs damit überhaupt nicht klar, dass er nun Verantwortung hat und nun Vater sein muss.“ – „Was er ja nun nicht wirklich war.“ – „Das ist aber nicht nur die Schuld von ihm, sondern von deiner Mutter, Matthias und Christian, da sie beschlossen haben, das Geheimnis lange vor dir verborgen zu halten und Christian im Hintergrund zu halten. Er war aber indirekt für dich da, auch, wenn du davon nie was mitbekommen hast. Er hat deinen Eltern Unterhalt für dich gezahlt, damit du es guthaben konntest. Er zahlt die letzten Monate auch sogar deutlich mehr Unterhalt als früher, damit ich dafür sorgen kann, dass es dir wirklich gut geht und wir gut über die Runden kommen können.“ – „Das wusste ich wirklich gar nicht.“ – „Konntest du auch nicht, mach dir nichts daraus. Theoretisch hätte Christian deinen Eltern auch gar nichts zahlen müssen, weil beide ja ohne Probleme für dich sorgen konnten, aber es war ihm wichtig. Von daher bin ich mir sicher, dass er sich wirklich ernsthaft für einen Kontakt interessiert.“ – „Warum ist er nicht schon viel früher angekommen?“ – „Ist er, mehrfach sogar. Deine Mutter und Matthias haben aber oft gesagt, dass sie einfach noch nicht glauben, dass es der richtige Zeitpunkt sei.“ – „Warum haben sie mich das nicht entscheiden lassen?“ Petra und Oma schwiegen und ich nahm mich wieder etwas zurück, weil sie dafür am Allerwenigsten konnten. „Danke, dass ihr es mir überhaupt jetzt endlich gesagt habt… Ich… bin zwar völlig verwirrt, aber immerhin weiß ich es jetzt.“
„Großer, wenn du möchtest, schlafe noch ein paar Nächte drüber. Wenn du dir sicher bist, dass du einen Kontakt möchtest, gibst du mir Bescheid und ich organisiere ein Treffen zwischen euch, damit euer erster Kontakt nicht über Telefon stattfinden muss.“ Ich nickte. Als hatte ich an diesem Tag nicht schon genug Gedankenchaos gehabt, schrieb mir Janine wenige Sekunden danach wie aufs Stichwort, nachdem ich in meinem Zimmer war, eine Nachricht: „Ich vermisse dich… Ich würde mir echt wünschen, dass schon Samstag ist.“ Sie hing an diese Nachricht noch einen fröhlich schauenden Smiley, aber das änderte nichts daran, dass mir diese Art der Zuneigung einfach zu viel gerade war – besonders in diesem Moment. Ich wusste natürlich, dass das Vermissen ihrerseits nicht nur freundschaftlich war. Daher schrieb ich wieder das Diplomatischste zurück, was ich konnte: „Ich würde mir auch wünschen, dass Samstag ist. Dann könnten wir irgendwas unternehmen!“ Von ihr kam nur noch ein „Das wäre echt toll!“, auf das ich nichts mehr antwortete.
Da es schon spät war, gingen Petra und ich recht zügig auf Einkaufstour durch verschiedene Kleidungsgeschäfte, um einen guten Anzug für mich zu kaufen. Petra hatte ein gutes Händchen dafür, was mir optisch gutstand und gut gefiel. Ich war ihr in jedem Fall sehr dankbar, dass sie tatsächlich eine recht große Menge Geld ausgab, nur dafür, dass ich für spezielle Anlässe besondere Kleidung besaß.
Ich dachte spät abends über das Gespräch mit Petra nach und gab ihr noch am selben Abend zu verstehen, dass ich endgültig für das Kennenlernen mit meinem leiblichen Vater bereit war. Am nächsten Morgen, als sie ausnahmsweise auch wieder gleichzeitig mit mir das Zuhause verließ, sagte sie mir, dass sie Christian schon erreicht habe und er direkt am gleichen Tag bei uns abends vorbeischauen würde, sofern ich das wollte. Ich stimmte zu und Petra gab ihm direkt Bescheid, womit das Treffen besiegelt war.
An diesem Donnerstag war ich schulisch gesehen völlig überfordert, weil sich meine Gedanken nur um das nahende Treffen kreisten. In der ersten großen Pause, als ich mit Janine trotz Kälte draußen auf einer der Bänke saß und sie ihren Kopf auf meiner Schulter ablegte, sagte ich zu ihr: „Ich habe übrigens eine Entscheidung wegen Freitag getroffen.“ – „Und?“ Sie zog dabei das Wort so in die Länge, dass ich darüber schmunzeln musste. „Nun ja.“ Sie ließ mich kaum ausreden und sagte schon: „Ich gehe davon aus, dass ich morgen wohl allein auf dem Winterball sein werde…“ – „Wer hat das gesagt?“ Sie schreckte plötzlich hoch und schaute mich von der Seite an. Ich drehte mich zu ihr und sagte: „Also, habe ich behauptet, dass du allein gehen musst?“ – „Ne… Heißt das, du kommst morgen auch?“ – „Ich denke schon, dass es das heißt, ja.“ – „Super!“ Sie umarmte mich und warf mich dabei auf dieser Bank um, sodass Janine und ich in einer von außen sehr missverständlicher Position halb übereinander lagen. Wir behoben dieses Problem sehr schnell und es schien zumindest keiner mitbekommen zu haben, der uns kannte. Direkt im Anschluss war uns das trotz allem offenbar ein wenig unangenehm, auch wenn wir darüber schmunzelten.
Janine bemerkte recht schnell, dass etwas mit mir nicht stimmte – da ich in der ersten Tageshälfte weder Tim noch Janine erzählte, über was ich gestern mit Petra und Oma sprach, wurde Janine immer neugieriger und zugleich sorgenvoller und fragte mich gegen zwölf im Unterricht, indem sie auf einen Schmierzettel eine Frage schrieb: „Du bist den ganzen Tag schon so blass und wirkst meist so abweisend. Was ist los mit dir? Hat es mit mir zu tun?“ Ich schrieb in einem günstigen Moment zurück: „Nein, mit dir hat das nichts zu tun, auch wenn mir alles natürlich ständig im Kopf umhergeht.“ Ich schaute sie nachdenklich an, sie schrieb erneut: „Was ist denn?“ – „Ich habe vor ein paar Monaten etwas erfahren, was ich selbst heute noch nicht in meinen Kopf hineinbekommen habe.“ Sie schrieb darauf nur ein Fragezeichen, und ich ergänzte: „Es hat mit meiner Familie zu tun und vielleicht ist es zur Ausnahme etwas Positives. Ich hoffe es sehr.“ – „Nun sag schon!“, flüsterte sie mir leise zu, worauf wir von unserem Lehrer einen mahnenden Blick zugeworfen bekamen… weil er einfach völlig penibel in diesen Sachen war. Als er wieder abgelenkt war, schrieb ich auf unseren Schmierzettel: „Ich habe vor ein paar Monaten erfahren, dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater war. Mein leiblicher Vater lebt und würde mich gerne kennen lernen. Ich sehe ihn heute!“ Das Ausrufezeichen malte ich besonders dick und Janine konnte sich ein völlig überraschtes „Oh“ nicht verkneifen, was wohl gefühlt die halbe Klasse hörte. Ich tat so, als wäre ich völlig unbeteiligt, als unser Lehrer in einer Mischung aus belustigt und streng zu ihr meinte: „Janine, ist der Unterricht so spannend oder langweilig, dass du ihn kommentieren möchtest? Komm doch einfach nach vorne und rechne die Aufgabe weiter aus, die ich gerade angefangen habe.“ Sie schaute äußerst peinlich berührt, es gab einiges an Gelächter im Raum. Aber hey, sie ging nach vorne und rechnete die bisher unbekannte Aufgabe völlig korrekt zu Ende – was mein Lehrer mit einem zufriedenen „Na immerhin“ und Janine mit einem Lächeln quittierte. Als sie sich wieder neben mich setzte, schrieb sie auf meinen Zettel: „Gleich ist Pause…“ Ich nickte und in der kleinen Pause gingen wir kurz nach draußen auf den Flur, wo ich ihr und direkt auch Tim in Kurzfassung die Dinge erzählte, die ich erfahren hatte. Bei dem Detail, dass ich in wenigen Monaten Bruder geworden wäre, drückte Janine mich ganz fest, weil es mir naheging, auch wenn ich durch die wenigen Monate, die der Unfall her lag, immerhin schon etwas Abstand gewinnen konnte. Beide sagten, bevor wir wieder in den Raum gingen, dass sie mir sehr die Daumen für den Abend drückten. Das brauchte ich auch, denn je näher der Abend rückte, desto aufgeregter wurde ich. Janine schrieb mir in der nächsten Stunde auf unseren gemeinsamen Schmierzettel: „Warum hast du es mir mit deinem leiblichen Vater nicht schon früher erzählt?“ Ich dachte darüber einige Sekunden nach und schrieb zurück: „Weil ich es selbst einfach am liebsten verdrängen wollte. Der Tod meiner Eltern war einfach zu viel. Ich konnte mich mit dem Gedanken, dass es da einen leiblichen Vater geben sollte, nicht beschäftigen. Das war einfach zu viel.“ Sie malte plötzlich einfach ein Herz auf den Schmierzettel, ich schaute verwundert. Sie flüsterte mir dann leise ins Ohr, während es gerade im Raum generell lauter war: „Meine Frage war gar nicht böse gemeint. Ich kann verstehen, dass dir das alles einfach zu viel war. Außerdem kannten wir uns noch gar nicht so richtig, als…“ Ich nickte und flüsterte leise zurück: „Danke, dass du das verstehst. Aktuell passiert einfach so viel gleichzeitig, ich muss das alles erst mal sortiert bekommen.“ Sie gab mir völlig unerwartet einen Kuss auf die Wange, den definitiv einige aus der Klasse ebenfalls auch gesehen haben durften. Mir war das ein bisschen unangenehm, ich tat aber so, als wäre nichts vorgefallen und flüsterte leise: „Danke, dass du für mich da bist.“ Sie legte unter dem Tisch kurz ihre Hand auf meine, ohne aber die Finger mit mir zu verschränken. Obwohl es nur sehr kurz war, kribbelte in mir bereits wieder alles, weil ich wusste, dass das ihrerseits nicht mehr freundschaftlich gemeint war.
Abends kam Christian wie geplant zu uns. Petra war bei dem Gespräch natürlich mit dabei, was mir sehr wichtig war, weil sie ja nun eine meiner wenigen Bezugspersonen war, die ich überhaupt noch besaß. Vor allem war es mir sehr wichtig, jemand Neutrales mit dabei zu haben. Als Christian unsere Wohnung betrat, nachdem Petra ihm öffnete, bekam ich ein warmes, freundliches Lächeln von ihm entgegen und wir gaben uns die Hand. Er sagte: „Wie viele Jahre das jetzt schon her ist!“ Ich grinste ihn an und wir drei betraten das Wohnzimmer.
Das darauffolgende Gespräch ging knapp drei Stunden, sodass der Abend schon weit fortgeschritten war, als Christian nach Hause fuhr. Der erste Kontakt war sehr positiv und ich hatte direkt erstes Vertrauen in ihm gewonnen, da er all meine Fragen mit aller Ausführlichkeit beantwortete. Ich fragte ihn viele Sachen, die ich Petra schon gefragt hatte, einfach auch, um all die Dinge direkt von ihm zu hören. Er bestätigte alles, was auch sie schon erzählt hatte, und erklärte mir, dass meine Mutter und er sich damals einfach nicht mehr verstanden hätten, kaum, dass ich auf der Welt war. Er sagte mir, dass er sich nie um die Verantwortung drücken wollte – in den ersten Monaten nach der Trennung war er regelmäßig zu Besuch und schaute, dass es meiner Mutter und mir gut ging, auch wenn sie eben nicht mehr zusammen waren. Der Kontaktabbruch kam erst zustande, als meine Mutter und Matthias den Vorschlag machten, mich als ihr eigenes Kind aufzuziehen. Laut Christian führte dies zu langen, heftigen Streitigkeiten, von denen Petra mir noch nichts erzählt hatte. Aber als ich so darüber nachdachte, ergab es für mich Sinn, weil er natürlich versuchte, sich dagegen zu sträuben, aber letztendlich klein beigab, weil meine Mutter und Matthias wohl völlig dicht gemacht hätten. Petra stimmte diesen von Christian erzählten Details in etwa auch zu.
Ich spürte, dass Christian und ich wirklich echt prächtig miteinander auskamen, was meine Hoffnung enorm steigerte, auch weiterhin regelmäßigen Kontakt zu ihm haben zu können. Dadurch, dass er im Verkehrswesen arbeitete und wohl größtenteils normale Arbeitszeiten hatte, schlug er vor, dass wir uns ruhig regelmäßiger treffen könnten, sofern ich das wollte. Ich stimmte ihm zu und machte abgesehen davon direkt aus, dass wir uns möglichst bald wieder sahen, weil ich ihn natürlich noch weiter kennen lernen wollte. Seinerseits war definitiv ein ähnliches Interesse da – Petra hatte nichts dagegen und würde wieder mit dabei sein. Unsere Handynummern tauschten wir auch direkt aus und er sagte mir, dass ich ihn jederzeit anrufen durfte, wenn mich etwas bedrücken würde beispielsweise. Dieses Angebot war… zwar zu erwarten, aber trotz allem ungewohnt.
Nachdem ich mich von Christian verabschiedet hatte und er nach Hause fuhr, sprach ich noch kurz mit Petra, der ich meine Eindrücke schilderte. Diese waren durchweg positiv, auch wenn ich mich fragte, warum er damals, als meine Mutter und Matthias auf die Idee kamen, Matthias als meinen richtigen Vater darzustellen, nicht darauf bestand, weiterhin regelmäßigen Kontakt zu mir zu halten. Sie konnte mir darauf auch keine rechte Antwort geben und ich wusste, dass ich ihn das sicherlich noch fragen würde, aber mir war klar, dass diese Antwort in keiner Weise entscheidend darüber war, ob ich weiterhin Kontakt zu ihm halten würde. Ich machte mich nach diesem kurzen Gespräch direkt bettfertig und fiel völlig fertig ins Bett. Als ich müde und erschöpft den Wecker meines Handys stellte, bemerkte ich zwei Nachrichten von Janine. Sie suchte konstant meine Nähe, auch wenn es nur der Austausch von Nachrichten war. In den Nachrichten fragte sie mich, wie das Treffen war und schrieb eine Stunde nach der ersten Nachricht, warum ich nicht antworten würde. Ich fand es manchmal ein wenig lästig, dass sie offenbar erwartete, dass ich ständig und zügig antwortete, aber ich rief sie aufgrund der fortgeschrittenen Zeit auch nicht mehr an. Meine Antwort fiel dieses Mal allerdings arg kurz aus: „Das Treffen lief wirklich sehr gut… Bin todmüde. Nacht!“ Dass Janine mir noch antwortete, bekam ich zwar noch mit, aber ich war schon so müde und tief in meinem Kissen und meiner Decke versunken, dass ich das Handy nicht mehr in die Hand nehmen konnte.