Kapitel 16

Ein Knistern

Ich traf mich am 27. Dezember nachmittags mit Janine. Sie hatte sich wieder etwas stärker als sonst geschminkt: Ihre Wimpern wirkten sehr lang und wirklich sexy und ihr Lippenstift, der mit einem satten Rot schon recht polarisierte, zog mich ohne Frage an, aber ich versuchte mich schnell von solchen Gedanken abzulenken. Nach unserer Umarmung gab sie mir im Gedanken einfach einen Kuss auf die Wange, um festzustellen, dass sie doch leichte Abdrücke hinterließ, was darin endete, dass sie relativ lange an meiner Wange herum wischte, bis die Flecken verschwunden waren. Ihre Kleidung betonte ihre Figur, aber sie zeigte keine Haut, was bei diesen Temperaturen Ende Dezember auch alles andere als förderlich gewesen wäre. Ich hingegen hatte mir zur Abwechslung etwas mehr Gel in die Haare getan, damit sie nicht ganz so durcheinander waren, aber Janine war offenbar auch an diesem Tag ziemlich aufgedreht – wenige Minuten nach unserer Umarmung verwuschelte sie meine Haare, während ich mich erfolglos dagegen wehrte. Generell war ihre Stimmung überragend gut und sie steckte mich damit so richtig an, was ich richtig angenehm fand.

Wir gingen zunächst in ein großes Einkaufszentrum und versorgten uns dort mit einem warmen Kakao – direkt danach zog es uns wieder nach draußen und wir bummelten über einen eher untypischen Weihnachtsmarkt, der vor allem aus klassischen Jahrmarkt-Fahrgeschäften bestand. Währenddessen war Janine fast ausschließlich am Reden, sie erzählte mir noch viel aus ihrem Heimatort und von ihrem Heiligabend dort. Sie hatte wohl sehr viel Kleidung, aber auch Geld geschenkt bekommen, worüber sie sich ziemlich freute.

Als wir in einiger Entfernung einen zweiten Weihnachtsmarkt fanden, zögerten wir keine Sekunde und ich fand diesen gleich wesentlich angenehmer, da die Lautstärke viel geringer war und die Verkaufsgeschäfte mit viel selbsthergestellten Waren ihren eigenen Charme bildeten. Ich sah das auch in Janines Gesicht, die von Stand zu Stand umherzog und besonders von dem Stand mit selbst gemachten Glastierchen kaum wegzubekommen war. Janine entschied sich dort für drei kleine Tierchen, die ich aus einer spontanen Laune heraus einfach für sie bezahlte. „Das sollst du aber wirklich nicht machen!“, sagte Janine. „Doch, mir ist so danach. Schau, betrachte das einfach als eine Art nachträgliches Weihnachtsgeschenk.“ – „Aber, aber… Ich habe dir ja auch nichts geschenkt!“ – „Das ist doch nicht schlimm.“ – „Doch, ist es! Ich lade dich dafür nachher mindestens zu irgendwas ein.“ – „Das ist doch auch eine gute Idee, siehst du.“ Kaum, dass ich die Glastierchen vom Verkäufer in die Hand gedrückt bekam, gab mir Janine einen Kuss auf die Wange – abwischen war angesagt – und umarmte mich so fest, dass sie mich dabei fast umwarf. Wir bummelten weiter über den Markt und mir fiel dabei auf, dass Janine kleine, niedliche Dinge wie eben diese Glastierchen total liebte. Wir mussten schon total lachen, weil ich sie irgendwann von jedem Stand erfolgreich vertreiben konnte, meist dadurch, dass ich sie entweder langsam wegzog oder ihr in die Seite pikste, was sie nicht lange mit sich machen ließ und sich meist sehr schnell wehrte.

Als wir einen Gang, der die zwei Hälften des Weihnachtsmarkts miteinander verband, betraten, sahen wir über uns ein Netz mit gefühlt unendlich vielen kleinen blinkenden Lämpchen. Janine war genauso fasziniert von dem Farbspektakel wie ich und wir blieben wie einige andere Leute unter diesem Netz eine ganze Weile stehen, um uns das intensiver anzuschauen. Währenddessen traf sich für einige Sekunden auch unser Blick und mein Herz rutschte leicht in die Hose, weil dieser Moment wirklich sehr romantisch war. „Das ist voll schön hier!“, sagte Janine, als sie mir weiter in die Augen schaute. Ich stimmte ihr zu und sie zog mich weiter zu den nächsten Ständen.

Die Stunden verrannen einfach so dahin und wir machten einen gewaltigen Spaziergang, der mit mehreren Pausen über sieben Stunden ging. Wir liefen dabei auch in ziemlich heruntergekommene Gegenden hinein, was weder sie noch mich sonderlich störte, da wir in so einer ungeheuer positiven Stimmung und so vertieft im Gespräch miteinander waren, dass wir die Umgebung nicht mehr mitbekamen. Wir hatten schon recht späten Abend, es war kurz nach 22 Uhr, als wir uns letztlich final auf den Heimweg machten und ich Janine wieder nach Hause brachte. Nachdem wir den ganzen Tag herumalberten und einfach Spaß hatten, entstand in den letzten Minuten ein ernsteres Gespräch.

„Weißt du, dass ich dich bewundere?“, fragte Janine mich plötzlich. Ich war etwas peinlich berührt und fragte zurück: „Nein, warum das?“ – „Du kannst so gut drauf sein, obwohl du schlimme Sachen erleben musstest.“ – „Ich versuche, das Beste daraus zu machen. Aber wie es in meinem Innern aussieht, sieht ja keiner… und da sieht es definitiv nicht so gut aus.“ Ich schaute nachdenklich nach vorne und Janine kam mir einfach während des Gehens näher, um mir den Rücken zu tätscheln. „Also täusche dich nicht, ich zeige nur oft nicht das, was ich denke.“ – „Das klingt total traurig.“ – „Das bin ich auch, immer und immer wieder. Aber Tim und du schafft es, mich immer wieder abzulenken und mir gute Laune zu geben.“ – „Danke. Aber eigentlich wollte ich das gerade von dir auch sagen.“ – „Wie meinst du?“ – „Du munterst mich immer total auf. Du gibst mir Hoffnung.“ – „Das wäre mir ehrlich gesagt gar nicht aufgefallen. Ich versuche einfach nur für die Menschen, die mir wichtig sind, da zu sein.“ – „Genau das meine ich ja!“ Ich schaute sie fragend an, wie sie kurz kicherte und sie meinte: „Das ist genau das, was ich meine. Du bist für mich und für alle anderen da… obwohl du auch an dich selbst denken könntest.“ Ich schämte mich glatt etwas, was Janine mit einem erneuten leichten Kichern quittierte. Janine ergänzte: „Siehst du, wir sorgen gegenseitig dafür, dass es uns besser geht!“ Ich stimmte ihr zu.

„Ich frage mich immer wieder, wie du es geschafft hast… an das mit deinen Eltern nicht mehr zu denken.“ – „Das wird niemals passieren. Ich denke immer an sie. Aber wenn wir zum Beispiel Schule haben oder so, denke ich schon weniger an sie. Aber ich will sie auch gar nicht vergessen. Darum ist das auch nicht so schlimm.“ – „Das ist total schwierig… Ich…“ Sie stockte kurz etwas, ich musterte sie dadurch etwas genauer. „Ich muss immer wieder anfangen, zu weinen…“ … was sie in diesem Moment auch begann. „…wenn ich an meinen Vater denke. An all die Sachen… Es tut einfach so weh.“ – „Der Schmerz wird irgendwann weniger.“ – „Meinst du?“ – „Ja, das weiß ich… Es dauert seine Zeit, es kann Monate dauern. Aber irgendwann wirst du damit besser leben können, auch wenn du diesen Menschen trotzdem für immer vermissen wirst.“ – „Ich hoffe es.“ – „Du schaffst das.“ Wir umarmten uns, auch, weil wir mittlerweile vor ihrer Haustür standen. „Oh weh, meine Beine tun total weh!“, meinte Janine, worauf ich ihre Aussage bestätigte. „Der Tag war dafür total schön.“, ergänzte sie, während wir uns in die Augen schauten. Von einem Moment auf den anderen spürte ich wieder, dass es gewaltig knisterte. Ich erwiderte: „Ja, das hat richtig Spaß gemacht. Das können wir gerne wieder machen.“ Sie kam mir nach unserer Umarmung sehr nahe und umarmte mich sehr fest, wodurch sie mich zum zweiten Mal heute fast umwarf. „Mensch, jetzt habe ich ganz vergessen, dich auf irgendwas einzuladen!“ – „Nicht schlimm.“, antwortete ich mit einem Grinsen. Janine darauf: „Ich überlege mir was anderes, wie ich es wieder gut machen kann.“ Ich nickte, worauf mich Janine glatt ein drittes Mal umarmte. Währenddessen sagte sie leise: „Bist du an Silvester auch bei Tim?“ – „Ja. Petra kommt auch mit.“ – „Ok, ich bin mit meiner Mutter auch da. Sehen wir uns da?“ – „Ja, na klar.“ – „Ich freu mich darauf.“ – „Ich mich auch.“ Als wir uns in die Augen schauten, knisterte es schon wieder gewaltig und Janine flüsterte leise: „Gute Nacht. Ich habe dich lieb.“ – „Schlaf gut nachher. Ich dich auch!“ Wir schauten uns direkt danach für zwei, höchstens drei Sekunden in die Augen. Sie gab mir einen Kuss, der irgendwo zwischen Wange und Hals platziert war und schließlich lösten uns endgültig. Janine schloss ihre Haustür auf und flüsterte nochmals ein leises „Nacht!“, was ich erwiderte. Ich blieb dort wie angewurzelt stehen und fragte mich, was das alles nun zu bedeuten haben sollte.

Ich machte mich nach einigen Sekunden auf den Heimweg und schrieb Tim direkt als erstes eine lange Nachricht, wie der Tag mit Janine heute verlaufen war. Da die Nachricht sehr lang wurde, bekam ich die Rückfahrt nach Hause kaum mit. Petra war, als ich nach Hause kam, noch wach, sodass sie mich fragte, wie mein Treffen heute war. Ich verriet ihr erst in diesem Moment, dass das Treffen mit Janine war, was sie direkt ziemlich freute. „Habt ihr euch wieder vertragen?“ – „Ja, einen Tag vor Weihnachten haben wir uns wieder vertragen. Janine geht es aktuell richtig schlecht. Ihr… Vater ist vor wenigen Wochen an Krebs verstorben.“ – „Oha, das ist schlimm. Hast du sie heute getröstet?“ – „Das hatte ich eigentlich vor, aber brauchte ich nicht mal wirklich, sie war total gut drauf. Wir sind stundenlang durch die Stadt spazieren gegangen und hatten richtig viel Spaß. Sie hat mich echt drei Mal umarmt, als wir vor ihrer Haustür standen. Außerdem hat sie mir schon am 23. gesagt, dass sie wohl nicht weiß, was sie über mich denkt.“ – „O la la…“ – „Sie verwirrt mich aktuell ziemlich.“ – „Na ja, wer weiß, vielleicht wird das ja noch wirklich was! Ich glaube, ihr würdet echt gut zusammenpassen.“ – „Kann vielleicht sein, aber ich bin eigentlich froh, dass ich recht gut von ihr losgekommen bin, nachdem wir uns gestritten hatten.“ – „Schau, Großer, wenn sie dich toll findet und du sie auch, spricht doch überhaupt nichts dagegen. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ – „Ich weiß ja nicht, wie toll ich sie eigentlich finde. Na ja, wie auch immer, auf jeden Fall war der Tag heute toll.“ – „Das ist doch schön! Genieße die Zeit mit ihr.“ Ich nickte und legte mich in meinem Zimmer direkt als Erstes auf mein Bett, um den Tag Revue passieren zu lassen. Ich dachte lange über die Frage nach, was Janine wohl wirklich über mich denken würde, aber ehe ich zu einer Antwort kam, wachte ich am nächsten Vormittag wieder durch eine Nachricht von ihr auf.

Sie schrieb mir eigentlich nur, ob ich mir was für die nächsten Tage vorgenommen hatte und da ich wieder zu faul zum Tippen war, rief ich sie einfach wieder an. Da sie ja wusste, dass mir die Gespräche nichts kosteten, fragte sie auch nicht mehr nach, wenn ich sie einfach spontan anrief. So erzählte sie mir, dass sie wohl mit mehreren Frauen aus der Klasse in den nächsten Tagen verabredet sei, was mich für sie wirklich freute, da sie endlich Anschluss gefunden hatte. Wir redeten nur knapp zehn Minuten, aber ich spürte, dass es ihr echt guttat. Mir tat es definitiv auch gut – auch wenn ich wieder daran denken sollte, meinen Klingelton auszuschalten, wenn ich mich abends schlafen legte…

Die Tage bis Silvester vergingen recht flott, obwohl ich in diesen Tagen größtenteils zu Hause war und mich entspannte. Mit Janine telefonierte ich tatsächlich jeden Tag, auch wenn es jeweils immer nur recht kurz war. Jedes Mal war sie diejenige, die mich irgendwie anschrieb oder direkt anrief, was ich schon ziemlich bemerkenswert fand. Janine versuchte mich in diesen wenigen Gesprächen mehrfach davon zu überzeugen, nach Tims Feier bei ihr zu übernachten. Anfangs sperrte ich mich etwas, weil mir vom Gefühl her danach war, schon wieder nach Hause zu fahren, zumal ja auch Petra mit bei war. Selbst am Silvestervormittag schrieb sie mir nochmals und da Petra meine leicht genervte Reaktion auf Janines Nachricht durch Zufall mitbekam, erklärte ich ihr die Hintergründe und sie meinte total verständnisvoll: „Ganz ehrlich, wenn sie dich schon so oft fragt, bleib‘ doch bei ihr. Ich komme schon allein nach Hause.“ – „Bist du sicher? Ich hätte ein schlechtes Gewissen irgendwie.“ – „Wegen mir? Ach Quatsch, bleib du bei Janine. Sie freut sich bestimmt ziemlich.“ – „Na gut, okay, machen wir das so. Ich darf nur nicht vergessen, heute noch Übernachtungssachen mitzunehmen.“ Als ich Janine letztlich meine Zusage für die Übernachtung schrieb, kam von ihr ein „Das ist aber echt toll!“ mit einem lachenden Smiley zurück. Petra sagte später: „Brauchst du eigentlich noch mehr Anzeichen dafür, dass sie dich toll findet?“ Sie steckte mich mit ihrem Schmunzeln an und ich meinte: „Nein, eigentlich nicht. Ich weiß halt nicht.“ – „Finde es einfach heraus, Großer.“

Wir fuhren abends los und ich musste zugeben, dass mich die Knallerei schon recht störte – ich versuchte meine Abneigung aber zu unterdrücken. Als wir beim Wohnhaus von Tim und seiner Familie eintrafen, liefen wir auch direkt Janine und ihrer Mutter über den Weg. Ich war wirklich überrascht, beide zu sehen, weil ich mir nur zu gut vorstellen konnte, wie grausam es den beiden gehen musste. Als wir in Tims Wohnung waren, machte mich Janine mit ihrem Aussehen gleich ziemlich an. Sie trug zwar recht normale Klamotten, aber ihr etwas glitzerndes Oberteil hatte ein recht gewagtes Dekolletee. Zudem hatte sie einen ziemlich kurzen Rock und eine entsprechende Strumpfhose an. Ihre Haare waren von vorneherein offen und sie hatte leichte Locken, die sie nur noch attraktiver machten. Ihre Augen waren stark mit Wimperntusche betont und sie hatte außerdem etwas grünlichen Lidschatten aufgetragen. Als Janine bemerkte, wie ich sie musterte, schmunzelte sie und ich entgegnete ihr ein leises Pfeifen. Sie streckte mir die Zunge heraus und wurde kurze Zeit später, wie mir auffiel, etwas rot im Gesicht.

Die Erwachsenen, unter anderem Tims Eltern, Janines Mutter und Petra verbrachten sehr schnell Zeit unter sich, sodass Tim, Janine und ich gemeinsam rumhingen. Tim fiel, wie auch mir, recht schnell auf, dass Janine ziemlich meine Nähe suchte, aber auch immer wieder Körperkontakt herstellte, indem sie meinen Arm griff, wenn sie mir unbedingt etwas zeigen wollte oder mir irgendetwas Spannendes erzählen wollte. Als Janine auf Toilette war und kurz, bevor viele von Tims weiteren Gästen kamen, sagte er zu mir: „Sie hängt ja fast wie eine Klette an dir.“ – „Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist. Ganz so heftig war es beim letzten Treffen nicht.“ – „Hat sie sich in dich verknallt?“ – „Ich befürchte es.“ – „Wäre es wirklich so schlimm?“ – „Eigentlich schon, ich war froh, die Sachen irgendwie geregelt bekommen zu haben.“ – „Mhm, zwischen euch läuft es von vorneherein ziemlich schwierig, oder?“ – „Ich weiß auch nicht.“ Mit einem skeptischen Blick schaute ich Tim an und wir schmunzelten, bis Janine von der Toilette kam und Tim weitere Gäste besuchen ging. Darunter war auch seine Freundin Anna, sodass es dazu führte, dass Janine und ich weitestgehend unter uns blieben, damit Tim für alle möglichen Gäste verfügbar war. Ich konnte mit den anderen Gästen nicht so wirklich viel anfangen, Janine offenbar auch nicht, sodass die Feier zugegeben recht langweilig war. Als Tims Eltern die Lautstärke der Musik hochdrehten, fühlte sich Janine wie berufen, es einigen anderen gleich zu tun und tanzen zu wollen – sie wollte mich überraschend zu der Gruppe im großen Wohnzimmer ziehen, die vorsichtig Lust auf Tanzen hatten, aber ich wehrte mich leicht. „Hey, lass uns doch auch tanzen gehen!“ – „Nein, ich möchte nicht. Tanzen ist doch nicht so meins.“ – „Komm, jetzt sei nicht so ein Spielverderber. Außerdem hast du schon im Club nicht getanzt.“ – „Ja, die Musik ist gerade einfach nicht so mein Geschmack.“ – „Hey, warte, du hast gesagt, beim nächsten Mal tanzt du mit! Ich habe dein Versprechen nicht vergessen! Ich möchte das hier und heute einlösen!“ Verdammter Mist.

Ich wehrte mich ab diesem Zeitpunkt nicht weiter und gesellte mich zu den anderen, wo ich für einige Lieder neben Janine tanzte, so gut ich konnte. Wir berührten uns dabei etliche Male unabsichtlich und in einem Fall ließ ich mich dazu überreden, mit ihr sehr nah zu tanzen, was mich furchtbar anmachte, weil ich dabei oftmals ihre Oberweite zu Gesicht bekam. Ich setzte mich bei unserer Pause wieder auf meinen ursprünglichen Platz und fragte sie: „Na, nun glücklich?“ – „Total! Du kannst doch super tanzen, ich weiß gar nicht, was du hast!“ – „Das sagst du doch bestimmt jetzt nur so.“ – „Nein, absolut nicht.“ Leise flüsterte sie mir zu: „Wenn du dir die anderen anschaust, sieht man, dass die meisten überhaupt kein Gefühl für die Musik hatten. Das wirkte bei dir ganz anders.“ – „Danke für das Kompliment.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und wir verbrachten weiterhin Zeit zu zweit. Tim und Anna kamen zwischenzeitlich zu uns, aber allzu lange hingen wir vier leider nicht zusammen. Janine lehnte gegen 23 Uhr eine Weile lang ihren Kopf gegen meine Schulter, weil uns recht langweilig war – die Erwachsenen und einige der anderen, die in unserem Alter waren, schienen sich aber bestens zu verstehen. Ich wusste selbst nicht so genau, wieso wir an diesem Abend keinen richtigen Anschluss fanden, vermutlich lag es aber daran, dass das in sich geschlossene Cliquen von Tim waren, die – anders als bei Jonas‘ Feier zum Beispiel – nicht so offen waren, um neue Leute zu integrieren.

Kurz vor Mitternacht wurde es recht hektisch im Wohnzimmer, da für jeden zügig ein Getränk organisiert wurde. Ich bemerkte erst beim Countdown, dass Janine gar nicht neben mir stand, als wir alle im Wohnzimmer auf einen Fernseher schauten und die Zeit laut herunterzählten. Die letzten Sekunden verrannen und das neue Jahr war da. Ich stieß mit vielen der verschiedenen Gäste an und direkt im Anschluss verzogen diese sich in Richtung Flur, um sich anzuziehen und nach unten zu gehen, damit das Feuerwerk beobachtet werden konnte. Ich fand es ein bisschen schade, dass Janine direkt um Mitternacht gar nicht bei mir stand. Daher holte ich zügig das Anstoßen mit ihr nach, als die meisten schon in Richtung des Flurs gingen: „Frohes neues Jahr, Janine.“ Sie kam mir nach dem Anstoßen sehr nahe, während wir uns dabei in die Augen schauten. Es knisterte von einem Moment auf den anderen wieder gewaltig. Als Janine direkt nah vor mir stand und ich ihr wirklich hübsches Gesicht wahrnahm, zog sie mich körperlich sehr an. Wir schauten uns intensiv in die Augen. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und kam mit ihrem Gesicht meinem immer näher. Wie in Trance machte mich etwas kleiner, sodass Janines Gesicht direkt wenige Zentimeter vor meinem war. Unsere Lippen kamen sich immer näher und dieser Moment erregte mich so gewaltig, dass ich mich fast nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Sie sagte leise, als sie sehr nah vor meinem Gesicht war: „Wünsche ich dir auch.“ Unsere Lippen berührten sich direkt im Anschluss und ich war in diesem kurzen Moment wie weg. Ich wusste nicht, was ich da gerade tat und warum ich es tat. Es war wirklich nur ein kurzer Moment, vielleicht zwei oder drei Sekunden, aber dieser Kuss warf in meinem Innern alles komplett durcheinander. Wir beendeten unseren Kuss, nachdem Tim vom Flur aus zu uns rief: „Kommt ihr auch mit raus?“ Ich antwortete perplex für Janine und mich: „Ja, wir kommen auch.“. Janine schwieg. Tim grinste noch kurz und verschwand wieder im Flur.

Ich ließ völlig erschrocken direkt größeren Abstand zu Janine entstehen und schaute bewusst von ihr weg, da mir dieser Kuss und mein katastrophaler Aussetzer ziemlich unangenehm waren. Was hatte mich denn dabei geritten? Als wir nach unten gingen, nahm ich kurzzeitig Janines Gesicht wahr und sie machte einen strahlenden und zugleich verwirrten Eindruck. Bei mir hingegen machte sich immer mehr Unwohlsein und Verwirrung breit, je mehr Zeit nach dem Kuss verging. Ich spürte, dass Janine mich sehr genau beobachtete und mir tat es fast irgendwie leid, so knallhart auf Abstand zu ihr gehen zu müssen, aber mein Inneres zwang mich regelrecht dazu. Obwohl der Kuss dafür sorgte, dass ich mich körperlich um ein Zigfaches mehr als jemals zuvor zu ihr hingezogen fühlte, blieb ich auf Abstand zu Janine.

Ich suchte die Nähe von Tim, der mit seiner Freundin Anna zusammenstand. Tim, offenbar schon etwas angeheitert, meinte ganz trocken: „Bist ja ganz schön rangegangen, was?“ Ich schüttelte den Kopf und er fragte: „Was denn, war es so schlimm?“ – „Darum geht es nicht. Ich fühle mich irgendwie total überrumpelt.“ – „Warum das?“ – „Ich war eigentlich dazu übergegangen, wieder eine gewisse Distanz zwischen ihr und mir einzuhalten.“ Anna fragte vorsichtig: „Jetzt, ohne dich zu ärgern: War es denn so schlimm?“ – „Nein, war es nicht. Der Kuss war eigentlich echt super. Aber ich befürchte, dass es das alles wieder unheimlich komplizierter macht, vor allem, da Janine ja ganz offenbar mehr Interesse an mir hat.“ Tim antwortete: „Warum hast du dich auf den Kuss eingelassen, wenn du ihn nicht wolltest? Da gehören in den meisten Fällen immer zwei dazu… wenn man jetzt von der Geschichte mit Julia absieht.“ – „Ich weiß es nicht, das bringt mich völlig durcheinander.“ Nach wenigen Sekunden stellte ich das viel Schlimmere fest: „Oh Scheiße.“ Beide fragten zeitgleich: „Was denn?“ – „Ich bin ja heute noch über Nacht bei ihr.“ Tim meinte wieder auf seine lockere Art: „Ganz ehrlich, schau doch einfach, wie das wird. Mach dir nicht so eine Platte. Genieße es doch einfach, dass dich eine tolle junge Frau interessant findet.“ – „Wie soll ich das genießen, wenn ich nicht weiß, ob ich das überhaupt will?“ – „Also vor einigen Wochen konntest du eigentlich nicht genug bekommen von ihr…“ Er ärgerte mich wieder, sodass ich ihn schon fast anbellte: „Jetzt nimm mich ernst!“ – „Entschuldige, entschuldige. Mach dich locker und versuche heute einfach zu entspannen. Wenn du nicht mehr von ihr willst, zwingt dich doch dazu auch keiner. Schau, du kannst doch a-“ Er unterbrach plötzlich, weil Janine fast aus dem Nichts auftauchte und sich zu uns stellte. Tim zu Janine: „Hey Janine!“ – „Hey ihr drei.“ Janines Blick traf meinen und etwas in meinem Körper zerquetschte meinen Magen gerade auf einen Bruchteil seiner eigentlichen Größe. Ich war völlig verunsichert, schon fast unglücklich mit meiner Situation, während Janine eher enttäuscht, zumindest aber ratlos aussah. Tim fragte uns: „Wie findet ihr das Feuerwerk?“ Er ging kurz wenige Meter weg, um selbst eine Rakete starten zu lassen und kam danach wieder, während wir alle einstimmig sagten, dass uns das Feuerwerk echt gut gefiel. Ehrlich gesagt achtete ich fast gar nicht auf das Feuerwerk, weil ich wie in Trance unterwegs war. Als Tims Eltern zu uns stießen, standen Janine und ich wieder leicht abseits, sodass ich die Chance nutzen wollte und die Richtung von Petra ansteuerte, die mit Janines Mutter zusammenstand. Janine aber bemerkte mein Vorhaben, mich von ihr wegzuschleichen, sodass sie meinen Namen rief, als ich ihr schon den Rücken zugedreht hatte: „Marc?“ Ich drehte mich zu ihr und schaute etwas an ihr vorbei, weil ich mich nicht traute, ihr in die Augen zu schauen. „Ja?“ – „Ist… alles ok mit dir?“ Ich versuchte meine Gedanken zu überspielen: „Klar, was soll sein?“ Ich spürte allerdings sofort, dass Janine mich durchschaute. „Ach… nichts, schon gut.“ Ich sah wieder diesen traurigen Blick in ihren Augen, bevor ich mich umdrehte und zu Petra ging. Ich blieb dort relativ lange und redete mit Janines Mutter und ihr. Janine kam nach wenigen Minuten auch hinzu, sodass ich keine Zeit hatte, über das alles nachzudenken. Mir wurde zudem auch schnell klar, dass ich für die nächsten vielen Stunden sicherlich auch nicht dazu kommen würde… Daher stellte ich mir die Frage, wie ich die nächsten Stunden überhaupt ordentlich überstehen sollte, ohne Janine womöglich aus Tollpatschigkeit gar noch mehr zu verletzen.

Nach etwa einer halben Stunde hatten Tim und einige andere ihre Raketen steigen lassen und wir gingen wieder in Tims Wohnung, da den meisten von uns langsam kalt wurde. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir noch länger draußen sein würden, weil es mir dadurch leichter fiel, etwas Abstand von Janine halten zu können, aber kaum, dass ich mir in der Wohnung die Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, spürte ich die knifflige Situation. Jetzt rächte es sich, dass Janine und ich mit den anderen nicht so richtig viel Kontakt aufgebaut hatten, weil wir eben die ganze Zeit viel unter uns geblieben waren… Ich rettete mich von Moment zu Moment, da ich mir erst absichtlich etwas zu trinken holen ging, während ich bemerkte, dass Janine gerade ins Wohnzimmer hineinkam. Ich ließ mir in der Küche viel Zeit und hatte gerade vor, nach Tim und Anna zu sehen, als Janine in die Küche kam und ich dort mit ihr allein war. Unsere Blicke trafen sich direkt und mir war sofort wieder richtig schlecht. Ich fühlte mich, als wurde mir die Luft abgeschnürt und ich war in meiner Bewegung völlig festgefroren. Janine kam mir sehr vorsichtig Schritt für Schritt näher und schaute äußerst verunsichert. Ich ging instinktiv einen Schritt nach hinten, weil ich aus der Situation hinauswollte, nur, um festzustellen, dass ich nicht weiter nach hinten konnte, da hinter mir direkt die Küchentheke war. Janine kam mir sehr nah. Es knisterte von einem Moment auf den anderen ohrenbetäubend laut – Janine flüsterte: „Was ist los mit dir? Wollen wir… kurz reden? Du weichst mir aus, das sehe ich doch. Ich verstehe dich nicht. Habe ich etwas falsch gemacht?“ Wir zuckten plötzlich zusammen und lösten uns sofort, als Tim mit einem anderen seiner Freunde in die Küche kam und die beiden einfach eine Polonaise begannen. Tim ahnte offenbar, was gerade passierte und versuchte seinen Kumpel aus der Küche zu manövrieren, nur war dieser bereits so angeheitert, dass er sich nicht ablenken ließ und mich einfach griff, um die Polonaise anzuführen. Ich war zwar einerseits froh, aus der Situation gerettet worden zu sein, andererseits hatte ich noch viel weniger Lust, diese Menschenkette anzuführen, geschweige denn überhaupt an einer solchen teilzunehmen. Besonders unangenehm wurde es, als nach einigen Metern in der Wohnung Tims besagter Freund Janine aufforderte, die Kette dann anzuführen, sodass ich Janine meine Hände auf die Schultern legte. Ich wollte am liebsten aus all diesen Situationen raus und musste das einige Minuten mitmachen, bis sich die Kette endlich auflöste. Die Gelegenheit war günstig: Ich verschwand wieder in die Küche, in der noch mein Getränk stand, welches ich mir zuvor holen wollte. Gerade noch rechtzeitig kam ich ins Wohnzimmer zurück, als Janine in die Küche wollte. Wir warfen uns einen sehr langen, stummen Blick zu und ich ging direkt zu Tim und Anna, die mit einem anderen Freund von Tim zusammenstanden. Tim schaute mich an und flüsterte leise: „Sorry. Ich wollte euch nicht stören. Habt ihr euch noch mal geküsst?“ – „Nein. Du hast nicht gestört. Janine will wissen, was los ist. Ich bin einfach überfordert.“ – „Sie hat mir eben auch nur gesagt, dass sie gerade richtig unglücklich ist. Es fühlt sich für sie an, als hat sie Mist gebaut.“ – „Hat sie ja gar nicht. Sie hat nichts falsch gemacht. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich weiß einfach nicht, wie ich die Übernachtung bei ihr überstehen soll.“ – „Ist es dann nicht sinnvoller, wenn du hier vielleicht mit ihr redest? Oder geht doch zu zweit noch mal nach draußen und schaut euch das Feuerwerk an. Da seid ihr dann wenigstens zu zweit.“ – „Ich weiß einfach nicht.“ – „Wie hast du die Polonaise gefunden?“, fragte Tim direkt an Janine gerichtet, die plötzlich neben mir auftauchte. Ihre Antwort war sehr nüchtern, schon fast kühl: „Das war eine wirklich witzige Idee.“ Ich sah, wie Janine mich von der Seite anschaute, doch richtete ich meinen Blick weiterhin vor allem zu den anderen drei, mit denen wir zusammenstanden. Ich klinkte mich für meine Verhältnisse überproportional viel in das Gespräch ein, sodass Janine mich nicht ansprechen konnte und allgemein über eine halbe Stunde lang fast gar nichts sagte.

In einem Moment, in dem die Gruppe auseinander zu brechen drohte, stellte ich mein Getränk ab und ging zielgerichtet in Richtung Toilette, während Janine mir hinterherschaute. Zu meinem Glück standen mehrere an, sodass ich ein paar Minuten damit herumbekam. Ich ließ mir viel Zeit, obwohl ich eigentlich gar nicht wirklich musste. Als ich wieder im Flur war, blieb ich dort bewusst stehen und lehnte mich an eine Wand an, während ich mit meinem Handy herumspielte. Es verging kaum eine Minute, als ich eine Nachricht von Janine bekam: „Wo bist du hin?“ Leider klickte ich reaktionsschnell auf die auftauchende Nachricht, sodass Janine sehen konnte, dass ich ihre Nachricht gelesen hatte. Ich wusste nicht, was ich machen oder antworten sollte. Ein paar weitere Minuten stand ich im Flur, als Tim plötzlich in den Flur gelaufen kam und mich zielgerichtet einsammelte: „Komm mal mit, ich habe mir vor ein paar Wochen ein lustiges Kartenspiel gekauft, was ich dir noch zeigen wollte.“ Eigentlich wollte ich nicht unbedingt, aber ich wollte gleichzeitig nicht, dass die Freundschaft zwischen Tim und mir unter der Situation mit Janine litt. Als ich in das Wohnzimmer hineinkam und mir einzelne andere, die ebenfalls mitspielen wollten, noch folgten, sah ich sofort Janines fragende Blicke. Tim fragte mich: „Hast du nicht schon mal ein ähnliches Kartenspiel gespielt?“ – „Ja, meins ist so ähnlich. Das hier sieht aber auch echt lustig aus.“ – „Kann ich noch mitmachen?“, fragte Janine plötzlich von der Seite. Tim antwortete: „Klar, setz dich dazu.“ Ich überlegte wirklich, ob mir das so angenehm war, machte aber auch Tim zuliebe mit. Janine setzte sich direkt neben mich. Auch wenn Janine damit wieder sehr viel Nähe zu mir genoss und vor Freude an dem Spiel mehrfach spielerisch meinen Arm griff, um Körperkontakt aufzubauen, war es gut, dass wir dieses Spiel spielten. Wir hatten bei diesem Spiel sehr viel Spaß und Janine und ich konnten die Situation von vorhin damit viel einfacher ausblenden. Gleichzeitig sprachen wir aber auch nicht darüber, was die Sache ja eigentlich auch nicht wirklich besser machte. Ich wusste aber, dass ich in dem Moment darüber noch nicht hätte reden können.

Wir blieben bis zwei Uhr morgens auf Tims Feier und fuhren zu viert nach Hause. Petra fuhr auf dem Nachhauseweg auf halber Strecke einen direkten Weg zu unserem Zuhause, sodass Janine, ihre Mutter und ich allein waren. Janine und ich waren aufgrund der Vorkommnisse ziemlich schweigsam und Janine traute sich, wahrscheinlich auch wegen ihrer Mutter, nicht meine Nähe zu suchen. Dafür war ihre Mutter recht gesprächig bzw. versuchte sie das zumindest zu sein: Sie fragte uns viel über unsere Eindrücke des Abends aus und ich erfuhr dabei zumindest, dass sie doch ziemlich großen Spaß an dieser Veranstaltung hatte. Mich freute das, weil sie das hoffentlich ein wenig von ihrem schmerzlichen Verlust ablenken konnte.

Als wir bei ihnen zu Hause ankamen, ging ihre Mutter direkt kurz ins Bad. Ich war währenddessen mit Janine in ihrem Zimmer und half ihr dabei, das Bett zu beziehen. Wir machten das ziemlich stillschweigend, bis ich bemerkte, dass Janine mich währenddessen mehrfach anschaute, sich aber offenbar nicht traute, mich anzusprechen. Ich versuchte diese Momente anfangs zu ignorieren, doch beim wiederholten Male fragte ich sie vorsichtig: „Alles ok?“ – „Ich… Ja, alles ok, ich komme gerade nur mit dem Bettlaken nicht so richtig klar.“ – „Was funktioniert denn nicht?“ – „Halt mal bitte das Ende eben fest.“ Das tat ich wie befohlen und kurze Zeit später waren wir mit dem Bett fertig. Janines Mutter gab das Bad nun auch frei und wünschte uns eine gute Nacht. Janine fragte mich direkt, als ihre Mutter in ihrem Schlafzimmer verschwand: „Marc?“ Ich schaute ihr in die Augen und sie dachte mehrere Sekunden nach, sodass ich den Moment überbrücken wollte und sie einfach fragte, ob ich zuerst ins Bad gehen durfte – was sie etwas perplex bejahte.

Im Bad ließ ich mir bewusst ein paar Minuten mehr Zeit, um meine Gedanken halbwegs sortieren zu können. Ich versuchte schleunigst eine vernünftige Antwort auf die Frage, was ich für Janine empfand, zu finden… oder zumindest eine Antwort auf eine mögliche Frage von Janine, warum ich sie geküsst hatte bzw. wie es nun weitergehen sollte. Erwartungsgemäß fand ich auf beide Fragen keine rechte Antwort. Als ich aus dem Bad trat, wartete Janine bereits auf dem Flur draußen und der Moment war irgendwie wieder sehr intim – wir schauten uns einige Momente lang in die Augen und Janine fragte leise: „Ist das Bad jetzt frei?“ – „Ja, du kannst ruhig rein.“ Wir schauten uns nochmals mehrere Momente tief in die Augen und sie zog mich körperlich unheimlich an. Sie ging an mir vorbei und strich mit ihrem Finger bewusst über meine Schultern, was mich erschaudern ließ… Warum sie das tat, blieb mir ein Rätsel.

Ich schaute auf mein Handy und fand eine Nachricht von Tim, die ich gar nicht bemerkt hatte: „Mach dich locker!“ Haha, Tim, das sagte sich so einfach… Ich schrieb Tim, dass wir nun bei Janine und kurz vor dem Schlafgehen waren. Ich schrieb ihm auch, dass wir bisher nicht miteinander gesprochen hatten und generell sehr schweigsam bisher waren. Janine kam aus dem Bad und grinste, als sie bemerkte, dass ich mit meinem Handy herumspielte. Sie roch richtig frisch, das war sehr angenehm. An der Tür blieb sie einige Momente lang stehen. Sie fragte mich: „Ok, wenn ich das Licht ausmache und wir uns schlafen legen?“ Ich nickte und wir legten uns hin. Nach dem obligatorischen „Gute Nacht“ versuchte ich zur Ruhe zu kommen, was mir so rein gar nicht gelang. Ich wälzte mich hin und her und an Schlaf war definitiv rein gar nicht zu denken.

Als ich wieder in Richtung Janine gedreht war, drehte sie sich schlagartig auch zu mir. Wir lagen zu diesem Zeitpunkt bestimmt schon eine halbe Stunde im Bett und ich ging eigentlich davon aus, dass Janine bereits schlief. Ich sollte mich aber irren, da sie leise in meine Richtung flüsterte: „Marc, bist du wach?“ Mein Herz setzte aus, weil ich erahnte, dass Janine mit mir über den Abend sprechen wollte. Unsere Gesichter waren extrem nah. Ich ließ meine Augen geschlossen und reagierte nicht, auch wenn ich mir sicher war, dass Janine spürte, dass ich wach sein musste. Sie wartete noch einige Sekunden und flüsterte nur noch leise: „Schlaf schön weiter…“ Wenige Minuten später schlief sie aber wirklich, weil sie ganz leicht schnarchte, ich hingegen war hellwach.

Dieser Kuss ging mir immer und immer wieder durch den Kopf. Er machte mich total an, aber ich fühlte mich im Innern total unwohl, weil ich diese Nähe mit Janine eigentlich nicht mehr zulassen wollte. Ich war so überrumpelt, als sie mir einfach näherkam, aber ich konnte nicht abstreiten, dass ich die Erfahrung in diesem Moment auch wollte, auch wenn ich sie wegen der schwieriger werdenden Situation zwischen Janine und mir nun bereute.

Die Stunden verrannen so dahin und ich stand gegen acht irgendwann frustriert auf. Janine zuckte kurz und drehte sich, bemerkte aber durch ihren Schlaf nicht, dass ich gar nicht mehr neben ihr lag. Ich setzte mich auf ihren gemütlichen Sessel und schaute durch eine Lücke in ihren Vorhängen nach draußen auf die Straße, auf der sich ein paar wenige Jugendliche regelrecht mit Knallern bewarfen, was ich ziemlich riskant fand. Nichtsdestotrotz lenkten mich die Jugendlichen immerhin eine ganze Weile von meinen Gedanken um Janine ab. Ich wurde zwar von Stunde zu Stunde langsam müder, aber ich wusste, dass ich neben Janine nur aufgewühlt sein würde, weswegen ich mich gar nicht mehr hinlegte… Es hätte nichts gebracht.

Gegen zehn, nachdem ich fast zwei Stunden an dem Fenster saß, drehte sich Janine zu der Seite, auf der normalerweise ich gelegen hätte und schreckte plötzlich hoch, als sie bemerkte, dass ich gar nicht mehr neben ihr lag. Sie schaute zu mir und ich sagte leise: „Hey, guten Morgen.“ – „Morgen… Warum sitzt du dort am Fenster?“ – „Ich war vorhin irgendwann hellwach und bin daher aufgestanden.“ Sie musterte mich etwas länger und sie durchschaute meine Lüge sofort: „Wirklich?“ – „Nein… tut mir leid.“ – „Nicht schlimm… Was ist los?“ Mein Gefühl sagte mir, jetzt zu Janine aufs Bett zu gehen, aber mein Kopf ließ mich stur beim Fenster sitzenbleiben. „Ich habe wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen.“ – „Du hast was?“ Sie schaute völlig erschrocken und erstaunt gleichzeitig. „Ja, ich… habe vermutlich die ganze Nacht nicht geschlafen und wenn, immer nur sehr kurz für ein paar Minuten oder so.“ – „Du musst doch todmüde sein!“ – „Es geht eigentlich. Aber so langsam spüre ich schon die Müdigkeit.“ – „Wieso hast du dich denn nicht einfach wieder hingelegt, wenn du so müde bist? Und sei es nur für eine Stunde?“ – „Ich… weiß es nicht.“ – „Willst du dich jetzt noch für ein oder zwei Stunden hinlegen? Dann gehst du heute halt etwas später nach Hause.“ – „Das geht schon… Ich habe einfach viel nachgedacht.“ – „Über gestern Abend?“ – „Ja, du hast Recht. Das war eine der Sachen.“ Ich wollte ihr den wahren Grund nicht unbedingt verraten… dass der einzige Grund ausschließlich sie war und die Frage, was ich wirklich für sie empfand.

„Was denkst du über gestern Abend?“, fragte sie mich sehr vorsichtig. „Ich bin… verwirrt.“ Wir waren eine gefühlte Ewigkeit still. Sie fragte: „Was… denkst du über mich?“ – „Ich… weiß es wirklich nicht, Janine.“ Ich setzte mich jetzt nun aber wirklich zu ihr aufs Bett und Janine sagte: „Ich wollte dich nicht überrumpeln. Ich habe in den letzten Wochen einfach gespürt, dass ich dich wirklich sehr vermisse. Marc, ich bin mir sicher… Ich habe mich in dich verliebt.“ Fuck.

Wir schauten uns einige lange Momente direkt in die Augen und ich war der Feigling, der seinen Blick abwandte. Ich: „Ich… ich… ich weiß es wirklich nicht. Bitte… gib mir einfach Zeit, nachzudenken… In Ordnung?“ – „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Kannst du mir aber etwas versprechen?“ – „Ja?“ – „Dass wir nicht wieder so auf Abstand gehen und einfach ganz normal weiter Zeit miteinander verbringen?“ – „Ja, na klar. Noch mal… soll das uns nicht passieren.“ – „Kannst du mir auch versprechen, dass du mir, sobald du… es weißt, ehrlich sagst, was du über mich denkst?“ Mit diesem Versprechen hatte ich besonders zu kämpfen, weil ich wusste, dass ein ehrliches Nein wieder zu sehr vielen Problemen führen würde… Aber ich hatte mir Zeit zum Nachdenken geben lassen – diese brauchte ich auch definitiv. „Ja, ich sage es dir, sobald ich ein bisschen darüber nachdenken konnte, klar.“ Sie lächelte zaghaft und ich rückte ihr nahe, weil ich sie im Sitzen einfach umarmte. Sie war schon wieder so heftig emotional, dass ich einen Tränenausbruch befürchtete, aber er trat glücklicherweise nicht ein.

Sie flüsterte leise: „Bitte sei mir nicht böse, wenn ich trotzdem mit dir viel Zeit verbringen will, so wie immer… ok?“ – „Nein, natürlich nicht. Ich bin doch auch total gerne mit dir zusammen. Du weißt schon, was ich meine.“ Sie nickte und wischte sich tatsächlich eine kleine Träne weg.

Nachdem wir uns lösten und Janine sich die Nase schnäuzte, fragte sie mich: „Möchtest du noch zum Frühstück bleiben, wenn du so müde bist?“ – „Ich denke, das wird schon noch gehen.“ … damit sie noch ein wenig mehr Zeit mit mir bekam und damit unser Verhältnis somit nicht gleich weiter wie durch den letzten Abend belastet werden würde. Außerdem war sie mir ohne Frage ja sehr wichtig und ich hatte einfach immer Spaß mit ihr. So auch bei unserem Frühstück, bei dem wir wieder so herumalberten, wie es mittlerweile typisch für sie und mich war. Direkt nach dem Frühstück zog ich mir fix meine Sachen für den Tag an und ging völlig übermüdet von Janine los. An der Wohnungstür, kurz vor meiner Verabschiedung, meinte Janine: „Du siehst fertig aus. Leg dich zu Hause direkt hin. Ich meine es ernst!“ Sie schaute wirklich besorgt – nicht ganz zu Unrecht. „Mach ich.“, sagte ich zu ihr und bestätigte auch ihre Frage, dass ich ihr eine Nachricht schreiben würde, sobald ich heil zu Hause angekommen war. Ich wurde schlagartig immer müder, aber hielt es bis zu Hause aus und schrieb Janine noch eine ziemlich mit Fehlern gespickte Nachricht, weil ich mich so gar nicht mehr konzentrieren konnte.

Petra war auch noch da… Sie fragte mich: „Wie war es?“ Ich gähnte heftig und der süffisante Kommentar von ihr war: „Offenbar eine ziemlich wilde Nacht?“ – „Ich habe fast die gesamte Nacht nicht geschlafen.“ – „Warum das? Habt ihr noch so viel herumgeknutscht?“ Sie lachte herzhaft und ich fühlte mich so unendlich peinlich berührt, dass ich mich am liebsten in ein kleines Loch verkrochen hätte. „Woher weißt du davon?“ – „Ich habe euch kurz gesehen, als ich mir die Schuhe anzog.“ – „Oh, verdammt.“ – „War es denn so schlimm?“ – „Nein, nein… Haben denn noch mehr Leute Janine und mich gesehen?“ – „Nein, Tim und ich waren die einzigen. Die anderen waren ja alle im Flur oder bereits schon draußen.“ – „Na immerhin.“ – „Warum warst du jetzt die ganze Nacht über wach?“ – „Ich… ich konnte einfach nicht schlafen, weil mich das mit Janine nicht in Ruhe gelassen hat. Janine hat fast die ganze Nacht über ganz normal geschlafen.“ – „Bist du so aufgeregt deswegen?“ – „Ich wollte sie gar nicht küssen.“ – „Das sah mir gestern Abend aber anders aus.“ Sie schmunzelte. „Sie hat mich einfach irgendwie überrumpelt. Ich… wollte das eigentlich nicht.“ – „Hey Großer, hör mal. Mach dir darum nicht solche Gedanken. Sie findet dich toll und du sie doch auch offenbar, also, was ist dein Problem?“ – „Ich weiß nicht, wie sehr ich sie wirklich mag.“ – „Triff dich doch einfach weiterhin mit ihr so häufig und dann wirst du das doch sehen.“ Ich nickte. „Schau, du hast dich doch zu nichts verpflichtet, nur, weil du sie geküsst hast. Wenn du das nicht weiter möchtest, zwingt dich doch auch keiner dazu. Du glaubst übrigens gar nicht, wie viel Jungs ich damals geküsst habe, mit denen ich aber nie was angefangen habe…“ Ich nickte grinsend, ohne was zu sagen und ging in Richtung meines Zimmers, als Petra noch ganz trocken meinte: „Nacht!“ Ein lauteres Schmunzeln konnte selbst ich mir nicht verkneifen… Ich zog mir schlaftrunken meine Schlafkleidung an, sah noch eine Nachricht von Janine („Schlaf dich schön aus, hörst du? Und wenn du magst, kannst du mir ja schreiben, wenn du wieder ausgeruht bist.“) und fiel in mein Bett, in dem ich vermutlich nach weniger als einer Minute schon einschlief.