Kapitel 14

Kehrtwende

Als die vorletzte Schulwoche des Jahres begann, war der Großteil der Schule in Weihnachtsstimmung. Mir wurde dort auch zum ersten Mal bewusst, dass dies das erste Weihnachten ohne meine Eltern werden würde. Kaum, dass mir dieser Gedanke bewusstwurde, baute sich so eine Abneigung gegen Weihnachten auf, dass ich glatt die komplette Lust verlor. Ich sprach am Montag Petra auf dieses Thema an und sie fragte mich, was ich mir zu Weihnachten wünschen würde – sowohl, was wir an Weihnachten machen wollten und auch, was ich mir als Geschenk wünschte. Ich schlug ihr vor, dass wir es so wie die letzten Jahre halten sollten und gemeinsam mit meiner Oma Weihnachten verbrachten – diesen Vorschlag fand sie gut. Außerdem kündigte sich, wie ich erfuhr, auch Onkel Steffen an, worüber ich mich auch sehr freute. Als Geschenk wünschte ich mir von Petra einen neuen kleinen Fernseher, da meiner schon technische Probleme hatte und teilweise manchmal nicht mehr anging. Im Gegenzug fragte ich sie, ob sie Wünsche für Weihnachten haben würde, worauf sie mir mehrere Vorschläge machte. Das fand ich insofern praktisch, sodass sie eben nicht wusste, was genau sie geschenkt bekam und sie sich wenigstens ein bisschen überraschen lassen konnte.

Ich sprach mit ihr außerdem über ein Thema, über das ich mir in den letzten Wochen ziemliche Gedanken gemacht hatte: das Gästezimmer. Petra lebte jetzt schon seit mehreren Monaten in dem Gästezimmer und hatte sich dort recht gut eingerichtet, aber mir tat es irgendwie total leid, dass sie ihr Leben vermutlich wegen mir so stark einschränkte. Deswegen schlug ich ihr vor, dass sie doch ins Schlafzimmer meiner Eltern ziehen könnte. Sie fragte mich gleich mehrfach, ob ich damit wirklich einverstanden war und mittlerweile konnte ich mit dieser Vorstellung leben. Wir machten noch aus, dass viele der Sachen von meinen Eltern, wie auch ihr großes Bett und die Schränke, im Keller aufgehoben werden würden, sodass ich diese später verwenden konnte, wenn ich irgendwann auszöge.

In dieser vorletzten Schulwoche fiel mir außerdem noch auf, dass Janine körperlich sehr schlecht aussah. Nicht nur, dass ich ihr im Gesicht ansah, dass sie in den letzten Tagen vermutlich zu wenig geschlafen hatte, sondern auch, dass ihre Kleidungswahl öfters eher suboptimal war und sie noch nie mit solch zerknitterter oder einfach unsauberer Kleidung in der Schule war. Dass ich diesen Eindruck von ihr gewinnen konnte, lag vor allem auch darin, dass ich mit Janine in dieser Woche etwas mehr als in den ganzen Wochen davor sprach. Unsere Gesprächsthemen waren weiterhin nur sehr kurz und fast nur auf den schulischen Rahmen bezogen, aber wir redeten fast täglich einige Sätze miteinander. Ich hatte auch den Eindruck, dass Janine ein wenig meine Nähe suchte, aber das konnte ich mir womöglich auch eingebildet haben. Da ich durch diesen ganzen Weihnachtsmist schon ziemlich angefressen war, waren meine Wut und Enttäuschung, die ich auf Janine, aber auch Julia hatte, in diesem Zeitraum weiterhin heftig. Ich bemühte mich aber zumindest, im direkten Gespräch mit Janine freundlich zu bleiben.

Am Montag der letzten Schulwoche, wir hatten Mitte Dezember, fehlte Janine plötzlich in der Schule. Das war ungewöhnlich, weil Janine so gut wie nie krank war und selbst mit Krankheit meist noch zur Schule kam, um keinen Unterricht zu verpassen. Am Dienstag war sie wieder da und sie erklärte allen, die sie nach ihrem Fehltag fragten, dass sie einfach mit einer Erkältung durchgehangen hatte. Mich wunderte nur, dass sie auf einmal wieder erstaunlich fit war, direkt einen Tag nach der Erkältung. Ich sprach sie darauf aber nicht an, auch wenn ich in dieser Woche erneut spürte, dass Janine vermehrt meine Nähe suchte. Ein interessantes Detail war auch, dass sie am Dienstag den Weg fuhr, den sie sonst immer fuhr, wenn sie mit mir gemeinsam unterwegs war. Unsere Blicke trafen sich über einige Meter Entfernung bei der Rückfahrt, als wir auf die U-Bahn warteten und auch, als wir ausstiegen, aber mehr als ein „Ciao“ gab es von uns nicht.

Am Mittwoch wiederholte sich das Spiel und Janine nahm viele Chancen wahr, in meiner Nähe zu sein. Ich verstand ihr Verhalten nicht, sodass ich sie nach Unterrichtsschluss leicht genervt darauf ansprach, als wir kurz unter vier Augen waren: „Kannst du mir erklären, warum du die letzten Tage die ganze Zeit in meiner Nähe bist? In jeder Pause, egal, mit wem ich quatsche oder gerade Zeit verbringe?“ – „Ist das denn so schlimm?“ – „Es ist auf jeden Fall ziemlich merkwürdig, dass du immer genau durch Zufall zu dem Ort kamst, an dem ich gerade war und mit irgendjemand sprach. Wieso verbringst du nicht auch mit all den anderen Zeit, so wie bisher auch immer?“ Sie schaute ziemlich verletzt und wusste wohl nicht, was sie erwidern sollte. Da ich an diesem Tag durch eine Klausur, die nicht ganz so gut ausfiel, wie ich es erhofft hatte, angefressen war – es war immerhin noch ein befriedigend, also alles im grünen Bereich -, ließ ich Janine ohne Vorwarnung einfach stehen, ohne noch etwas zu sagen. Ich drehte mich auch nicht mehr um, es war mir einfach völlig egal, was sie in diesem Moment dachte.

Ich rief am frühen Mittwochabend Tim an, weil ich mit ihm über Janine sprechen wollte. „Weißt du, was mit Janine los ist?“ – „Ganz genaue Sachen weiß ich auch nicht. Sie hat mir nur gesagt, dass sie total enttäuscht und traurig ist, dass ihr halt so gar keinen Kontakt mehr habt und sie daher einfach etwas mehr deine Nähe zu suchen versucht, weil sie halt gerne wieder mehr Kontakt mit dir hätte.“ – „Hättest du mich nicht vorwarnen können?“ – „Sie hat mir das erst heute Morgen verraten, ich hatte vorhin noch nicht dran gedacht. Sorry.“ – „Ok, nicht schlimm, du kannst ja für ihr Verhalten nichts, sorry… Und erst recht nicht, wenn du heute erst selbst von ihren komischen Ideen erfahren hast.“ – „Du klingst extrem genervt. War es denn so schlimm heute?“ – „Sie war echt die ganze Zeit in meiner Nähe, in jeder Pause, auch in den kleinen Pausen, wenn ich bewusst den Raum verlassen habe, um mit jemand quatschen zu können.“ Tim entgegnete: „Das ist schon recht krass.“ – „Ja, ich habe sie vorhin einfach darauf angesprochen, da hat sie mich nur gefragt, ob ich das schlimm finde. Sie hat vorhin eine Ansage bekommen und ich habe sie stehen lassen, weil ich einfach keinen Bock auf diesen Blödsinn hatte.“ – „Das ist auf jeden Fall echt schwierig zwischen euch.“ Ich stimmte ihm zu und er gab mir den Rat, die Angelegenheit nicht zu hart zu betrachten, weil er vor allem vermeiden wollte, dass der Konflikt noch weiter eskalierte. Er sagte mir aber auch, dass er sich selbst wünschte, dass der Kontakt zwischen Janine und mir normal werden würde, einfach, um wieder Harmonie zu haben.

Am nächsten Tag wiederholte sich das Spiel und sie stand in den großen Pausen immer bei uns in der Jungs-Gruppe. Hin und wieder tat sie dies unter normalen Umständen, aber ich bemerkte, dass Janine oft meinen Blick suchte. Sie fragte mich im Rahmen dieser Pausen mehrfach etwas, um offenbar etwas mehr Persönliches aus mir heraus zu bekommen. Es war so wie normal wie immer, zumindest für die anderen – ich wusste aber, dass sie das aktuell nur machte, um meine Nähe zu bekommen. Ich nahm es hin und versuchte mich nicht weiter daran zu stören, auch wenn ich Janines Verhalten so plötzlich einfach nicht verstand.

Als der Schultag zu Ende war, machte ich mich zügig auf den Rückweg, da ich Petra versprochen hatte, einen Großeinkauf mit ihr zu erledigen. Kaum, dass ich von der Schule losging, hörte ich einen Ruf von einigen Metern hinter mir: „Marc!“ Ich lief weiter, weil ich wusste, von wem die Rufe stammten. Janine wiederholte ihren Ruf, aber ich ging stur weiter, bis sie mich plötzlich einholte und schnaufend neben mir lief, während ich weiter stur nach vorne schaute und sie halbwegs ignorierte. „Hey … warte kurz!“ Ich war schon sichtlich genervt, auch wegen meines Zeitdrucks und blieb stehen, um sie anzuschauen. „Was möchtest du von mir?“ – „Ich muss mit dir reden.“, entgegnete sie mir schnaufend. „Ist es wichtig?“ – „Ja, schon.“ Ich schaute sie an und gab ihr meine volle Aufmerksamkeit. „Ich… ich möchte mit dir über das vor ein paar Wochen reden… Über die Feier von Jonas und so.“ – „Und warum das?“, fragte ich sie recht aggressiv, während sie ziemlich eingeschüchtert meinte: „Mensch, ich möchte einfach, dass es so wie früher zwischen uns wird. Dass wir diesen blöden Streit zum Beispiel vergessen.“ – „Hast du dich denn von deinem Freund getrennt oder warum interessierst du dich auf einmal wieder für mich?“ – „Meinen Freund? Wie kommst du denn darauf, dass ich einen Freund habe?“ Wir wurden lauter. „Denkst du etwa, ich bin blind, oder was? Dieser Typ, mit dem du bei Jonas‘ Feier rumgeknutscht hast? Du hast doch danach auch noch mehr als genug Zeit mit ihm verbracht!“ – „Bist du denn blöd? Das war doch nicht mein Freund!“ – „Also gibst du zu, dass du einen Freund hast, selbst wenn er es nicht war!“ – „Wie kommst du denn auf so was? Außerdem – mit wem soll ich denn da geknutscht haben? Ich habe niemandem geküsst!“ – „Ich habe es doch selbst gesehen! Der Typ, mit dem du später im Nebenraum die ganze Zeit zusammensaßt!“ – „Ach, du meinst den? Er war einfach nett, nicht mehr! Da hast du dir gedacht, wenn du schon nicht mit mir zusammen Zeit verbringen kannst, schnappst du dir direkt Julia, was?“ Das war ihr Problem. „Wer hat denn angefangen?“ – „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich bei dieser Feier niemandem geküsst habe? Ich habe noch nie jemanden geküsst! Was spinnst du dir da zusammen?“ Ich hatte von dieser Diskussion einfach genug und da ich in wenigen Metern einige aus unserer Klasse sah, die gleich bei uns sein würden, brach ich die Diskussion einfach ab: „Ach komm, lassen wir das einfach gut sein, ich habe da echt keinen Nerv für jetzt… Ich habe es eilig.“ Ich ließ sie einfach stehen und sie sagte relativ leise, aber so, dass ich es noch verstand: „Ich will doch einfach nur, dass es wieder so wie früher wird… So unkompliziert. Ohne, dass wir uns streiten.“ Ich schüttelte entnervt den Kopf und ging strikt weiter.

Janine folgte mir kein zweites Mal, was gut war, da ich in Ruhe nachdenken konnte. Sie hatte niemanden geküsst? Hatte ich mir das womöglich wirklich eingebildet? Hatte sich meine Wut aus einer falschen Wahrnehmung gebildet? Ich konnte mir das irgendwie nicht vorstellen, weil meine Sicht doch so eindeutig an diesem Abend war… Aber nichtsdestotrotz: Es war im Grunde möglich, dass ich an diesem Abend einfach einen Knick in der Optik hatte. Aber mir war klar, dass ich Janine die Provokationen ihrerseits nicht so schnell verzeihen würde – unabhängig von der Geschichte, dass sie sich an dem Partyabend wohl doch keinen geangelt hatte. Sie hatte mich mit einigen Aussagen spürbar angegriffen und verletzt, auch im Gespräch vorhin, als sie meinen Kontakt mit Julia verurteilte. Ja, es war eine Provokation meinerseits an diesem Abend, aber trotz allem war sie doch beim Tanzen gewesen und da war es mein gutes Recht, mit jeder Person Zeit zu verbringen, wie ich es wollte. Ich war ihr keine Rechenschaft schuldig. Sie regte sich ja schließlich auch nicht auf, dass ich mit Tim und Anna zum Beispiel etwas Zeit verbracht hatte.

Der nächste Tag war zugleich der letzte Schultag in diesem Jahr, Heiligabend war bereits übermorgen. Der Unterricht in der Schule war lächerlich und entspannt, da kein Lehrer mehr so richtig Lust hatte. Dadurch war meine Laune den ganzen Tag über konstant gut und Janine suchte zudem zur Abwechslung tagsüber nicht meine Nähe. Praktisch war in diesem Zusammenhang außerdem, dass ich noch Informatik hatte, während Janine schon zwei Stunden früher Schluss hatte. Ich verließ mit Tim kurz vor drei Uhr nachmittags mit ziemlich guter Laune den Informatikraum, als ich Janine auf einer der Sitzbänke in den Schulfluren sitzen sah. Ich wandte meinen Blick sofort nach dem Entdecken wieder von ihr ab, in der Hoffnung, dass sie mich nicht gesehen hatte und ich mit Tim einfach durch den Ausgang entkommen konnte, aber der Plan scheiterte von Anfang an. Sie lächelte vorsichtig und kam auf mich zu, während Tim sich einfach von mir verabschiedete und mir sagte, dass wir uns an Heiligabend noch sehen würden. Ich wollte ihm eigentlich sagen, dass ich jetzt direkt mit ihm mitkommen würde, aber er zog einfach schon von dannen, sodass Janine schüchtern vor mir stand und ich sie richtig entnervt anschaute, weil ich einfach meine Ruhe haben wollte, vor allem, da die Ferien für mich jetzt begonnen hatten.

Wir verließen stillschweigend die Schule und ich passte mich ihrer Gehgeschwindigkeit an, weil ich ihr zumindest ein paar wenige Minuten geben wollte. „Wie war Informatik?“ – „Langweilig, da wir heute nichts Neues mehr gemacht haben und die meiste Zeit nur im Internet unterwegs waren.“ Es trat wieder Stille ein und ich fragte sie nach vielen langen Momenten: „Hast du die ganzen zwei Stunden extra wegen mir gewartet?“ – „Ja.“ – „Warum das?“ – „Weil ich unser Gespräch von gestern noch fortführen wollte.“ – „Nun kannst du mir ja direkt erklären, mit wem du zusammen bist, wenn es nicht der Typ von der Feier ist.“ Mein sanfter Ton war für heute definitiv verbraucht, meine gute Laune auch. „Marc, ich habe keinen Freund, das habe ich dir gestern schon gesagt. Ich hatte bisher keinen Freund, aber das weißt du doch auch.“ – „Und was war mit dem Typen auf Jonas‘ Feier?“ – „Du meinst, der Typ, der da die ganze Zeit bei mir war?“ – „Ja, genau dieser komische Vogel.“ – „Sei nicht so aggressiv, du kennst diesen Typen nicht!“ – „Du wolltest dieses Gespräch, ich wollte eigentlich nur entspannt nach Hause fahren und mich darüber freuen, dass Ferien sind, also wirst du jetzt mit meiner Laune leben müssen.“ Janine schaute richtig verletzt, blieb aber standhaft und meinte: „Beherrsche dich einfach!“ – „Ja, ja…“ – „Dieser Typ war ziemlich betrunken und er hatte Interesse an mir. Aber ich nicht an ihm. Er war halt einfach nett und darum habe ich mit ihm Zeit verbracht. Außerdem hingst du mit Julia rum.“ – „Was ist dein Problem, dass ich mit ihr Zeit verbracht habe? Du lässt ja deine Wut nicht nur an mir aus, sondern auch an ihr, indem du sie einfach ignorierst.“ – „Das stimmt nicht!“ – „Da sagte sie aber was anderes.“ – „Wir hatten deutlich weniger Kontakt, ja, aber ignoriert habe ich sie nicht!“ Unser Konflikt spitzte sich weiter zu. „Im Grunde kann es mir auch egal sein, ob du mit Julia noch befreundet bist oder nicht. Aber es ist doch reichlich merkwürdig, dass du ganz plötzlich wieder zu mir Kontakt suchst, als du bemerkst, dass ich mit Julia nicht mehr so viel rumhänge.“ – „Was stört dich daran?“ Interessant – sie musste es offenbar mitbekommen haben, dass ich mit Julia nicht mehr viel zu tun hatte. „Ich fühle mich ehrlich gesagt verarscht, wochenlang meidest du mich und auf einmal ist es das Gegenteil…“ Ich schaute sie ausnahmsweise an, während ich bisher größtenteils nach vorne auf den Weg schaute und sah, dass sie kleine Tränen in den Augen hatte. „Du bist doch kein Stück besser, Marc. Kaum, dass ich dir gesagt habe, dass ich nicht weiß, ob ich dich als festen Freund haben möchte, nutzt du die erstbeste Chance und machst mit Julia rum, was?“ Alter.

Wer hat mir Julia denn ans Herz gelegt? Warum bist du so heftig eifersüchtig? Außerdem geht es dich rein gar nichts an, ob ich mit Julia irgendwas hatte oder nicht!“ Sie weinte mittlerweile stärker. „Hast du vielleicht überlegt, dass du mir wichtig bist?! Dass ich mir die letzten Monate zurückwünsche? Alle unsere Gespräche, Unternehmungen und Übernachtungen?“ Natürlich berührte mich das im Innern, aber ich hatte meinen Zorn nicht unter Kontrolle: „Wie hast du mir das denn in den letzten Wochen gezeigt?“ – „Man, Marc, echt… du kannst manchmal so ein Arschloch sein!“ – „Ganz ehrlich, auf die Scheiße habe ich keinen Bock mehr, beleidigen lassen muss ich mich von dir auch nicht.“ Ich erhöhte meine Gehgeschwindigkeit deutlich und ließ sie stehen, während ich mitbekam, wie sehr sie weinte. Mein Trotz war stärker. Ich war im Allgemeinen froh, dass nahezu alle Schüler schon aus der Schule waren und zumindest keiner aus unserer Klasse diese ganze Szene mitbekommen konnte. Sie sagte mit lauter, verzweifelter Stimme: „Man Marc… Ich möchte doch nur, dass wir uns wieder verstehen, so wie früher. Ich habe schon meinen Vater verloren, verdammt noch mal, ich will dich nicht auch verlieren!“ Ich blieb in meiner Bewegung stehen und war erschrocken. Sie hatte was?

Das war einer der Momente meines Lebens, in denen ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich drehte mich um und sah, wie Janine mittlerweile richtig eingeknickt war und mir mit verlaufener Schminke im Gesicht hinterher schaute. Ihr Heulkrampf ging ab dort erst so richtig los und sie hatte sich überhaupt nicht mehr in Griff. So hatte ich sie bisher noch nie erlebt, obwohl ich sie recht oft hatte weinen sehen. Ich stand dort bestimmt einige Sekunden und schaute sie aus wenigen Metern Entfernung an, weil ich mit der Situation völlig überfordert war. Meine Wut war zwar noch immer da, aber ihr weinender, schluchzender Anblick zerbrach alle meine Widerstände. Ich ging auf sie zu und in die Hocke, um mit ihr auf einer Höhe zu sein – so weit war sie mittlerweile eingeknickt. Wir schauten uns in die Augen und ich sagte zu ihr: „Das… Das habe ich nicht gewusst. Das tut mir fürchterlich leid mit deinem Vater.“ Sie weinte hemmungslos weiter und ich half ihr dabei, dass sie sich wenigstens wieder hinstellte. Anschließend tat ich etwas, was ich wenige Minuten zuvor definitiv noch nicht getan hätte – ich umarmte sie und gab ihr die Chance, sich in meiner Schulter komplett auszuweinen. Sie drückte sich richtig fest in mich hinein und beruhigte sich überhaupt nicht. Sie versuchte mehrfach, mir etwas zu sagen, konnte es aber physisch und psychisch einfach nicht. Irgendwann schaffte sie es zumindest, wenige Worte zu flüstern, die ich nur sehr schwer verstand: „Mein Vater… ist Samstagmorgen friedlich eingeschlafen.“ – „Mein Beileid. Ich… kann verstehen, wie du dich fühlst.“ – „Es war Krebs bei ihm… die Ärzte… haben offenbar einen Tumor bei ihm übersehen und er hatte keine Chance mehr.“ Kaum nach diesem Satz brach sie mir ohne Vorwarnung fast vollständig zusammen. Glücklicherweise reagierte ich schnell genug und fing sie auf, auch wenn ich dabei mein ganzes Gewicht entgegenstemmen musste. „Ist alles ok?“, fragte ich sie besorgt. Nach einigen Sekunden, in denen sie offenbar wieder mehr zu Bewusstsein kam, entgegnete sie mir: „Entschuldige… Mir war gerade kurz total schwummrig.“ – „Soll ich den Notarzt rufen? Nicht, dass du noch mal zusammenbrichst!“ – „Nein, nein… Es geht bestimmt gleich wieder. Lass mich einfach kurz auf die Stufe setzen.“ Das taten wir, wir setzten uns auf eine der Steinstufen, die zum Eingang unserer Schule führten. „Soll ich deine Mutter anrufen?“ – „Nein, brauchst du nicht. Das geht bestimmt gleich wieder.“ Ein Gutes hatte ihr Fast-Zusammenbruch immerhin: Sie hatte schlagartig mit dem Weinen aufgehört.

Wir saßen mehrere Minuten auf dieser Stufe. Ich gab ihr was zu trinken und mein letztes übriges Brot, was ich mir für die Schule gemacht hatte. „Danke schön.“, sagte sie gleich mehrfach, während sie aß und trank. Während des Essens bekam sie langsam auch wieder etwas Farbe im Gesicht, auch wenn sie weiterhin besorgniserregend schlecht aussah. „Tut mir leid, falls ich dir Angst gemacht habe. Ich wollte das nicht. Ich will dich vor allem auch nicht von deinem Zuhause fernhalten. Du kannst ruhig nach Hause fahren, wenn du möchtest. Ich werde schon nach Hause kommen.“ – „Das ist nicht schlimm, wirklich nicht. Und nein, das kommt gar nicht in Frage, dass ich jetzt einfach gehe. Ich bringe dich in jedem Fall bis ganz nach Hause. So lasse ich dich ganz bestimmt nicht allein nach Hause fahren. Wer soll dich auffangen, wenn du womöglich noch mal zusammenbrichst? Außerdem glaube ich, dass wir wirklich noch ganz in Ruhe reden sollten, ohne uns zu streiten, aber das machen wir besser nicht jetzt, dafür bist du gerade zu schwach.“ – „Lass uns wirklich ganz in Ruhe reden. Danke, dass du… mich aufgefangen hast. Ich hatte einfach keine Kraft mehr in den Beinen, ich konnte einfach nicht mehr.“ – „Gern geschehen. Es war vor allem gut, dass ich überhaupt da war, um dich aufzufangen. Du hättest dich echt verletzen können.“ – „Das stimmt wohl…“ Wir saßen insgesamt locker eine Viertelstunde da und schwiegen den Großteil der Zeit über, weil sie wieder Kontrolle über ihren Körper bekommen wollte. Ich fragte sie: „Geht es dir schon etwas besser?“ – „Ja, ein wenig… Dein Brot war wirklich lecker.“ – „Das ist schön. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag: Ich rufe uns jetzt ein Taxi und wir fahren direkt zu dir nach Hause.“ – „Nein… das kostet doch echt einiges an Geld, die Strecke bis zu mir ist ja nicht gerade kurz… Ich komme auch schon mit Bus und Bahn nach Hause.“ – „Keine Widerrede. Ich bezahle das Taxi auch.“ – „Das will ich erst recht nicht. Du hast jetzt schon genug für mich gemacht.“ – „Keine Widerrede. So wacklig, wie du auf den Beinen bist, fahren wir jetzt mit dem Taxi. Du bleibst schön sitzen, ich rufe jetzt eins.“ Gesagt, getan.

„Ich habe so ein schlechtes Gewissen.“, sagte Janine, während ich meinte: „Brauchst du nicht. Mir ist es wichtig, dass du heil und gesund zu Hause ankommst. Es ist auch einfach total kalt, deswegen will ich nicht, dass du da weiter auf den Stufen sitzen musst. Hier, nimm das.“ Ich hielt ihr ein Taschentuch hin. „Deine Schminke ist ganz schön verlaufen…“ Sie versuchte zügig, sich die verlaufene Schminke zu entfernen, was ihr kaum so richtig gelang.

Nach weniger als fünf Minuten stand ein Taxi für uns an der Straße bereit und ich half Janine dabei, aufzustehen und unterstützt durch mich bis zur Straße zu kommen, weil sie weiterhin extrem wacklig war. Im Taxi schwiegen wir nahezu vollständig und ich begann, zu verarbeiten. Ihr Vater lebte nicht mehr? Das war für mich ein Schock, da ich in meinen Kopf noch nicht hineinbekam, dass dieser Mensch einfach nicht mehr existierte. Janine tat mir einfach so unendlich leid, da ihre Mutter und sie das einfach nicht verdient hatten. Ihr Vater selbst war ein so angenehmer Mensch, als ich ihn die wenigen Male erlebte, der Verlust schmerzte mir auch recht stark, obwohl ich ihn natürlich kaum kannte.

Die Fahrt war, wie Janine prognostizierte, wirklich nicht günstig, aber das konnte ich mit meinem wirklich großzügigen Taschengeld schon kompensieren. Petra war da wirklich großzügig – eine ihrer vielen positiven Eigenschaften. Ich half Janine aus dem Taxi und begleitete sie bis zu ihrer Haustür, die sie direkt aufschloss. Sie schaute fragend und ich sagte: „Ich bringe dich bis oben, damit ich sehe, dass du heil in die Wohnung kommst.“ – „Danke.“ Oben vor ihrer Wohnungstür fragte ich sie final: „Wieder alles etwas besser?“ – „Ja, danke schön. Danke, dass du da warst. Ich wollte das alles nicht so bei dir rauslassen, tut mir wirklich leid. Jetzt musstest du unfreiwillig für mich da sein.“ – „Schon ok. War ja nicht das erste Mal, dass ich für dich da war.“ Ich schmunzelte leicht und steckte Janine damit an. Sie fragte, bevor sie ihre Wohnungstür aufschloss: „Können wir uns bitte nicht mehr so streiten wie in den letzten Tagen?“ – „Ja. Ich will das auch nicht.“ – „Wollen wir demnächst über das alles reden? Vielleicht auch schon morgen? Hast du morgen Zeit?“ – „Ja, habe ich. Ja, lass uns morgen quatschen. Soll ich dich um 13 Uhr abholen kommen?“ – „Wenn du möchtest: Klar.“ – „Ok, bis morgen, Janine.“ Ich… überlegte und umarmte sie einfach. Sie drückte mich fest und ließ sich regelrecht in meine Arme fallen. Direkt im Anschluss ging plötzlich Janines Wohnungstür auf und ihre Mutter sah etwas verwundert aus, als sie uns sah. „Mama, wäre es ok, wenn Marc noch kurz mit reinkommt? Ich schulde Marc noch Geld.“ – „Geld? Also, ich… Ja, na gut, klar, kommt ruhig rein.“ Ich war von Janines Frage und indirektem Vorschlag etwas überfordert und folgte Janine in die Wohnung.

In der Wohnung schaute uns ihre Mutter fragend an und mir war diese ganze Situation irgendwie peinlich. Janine sagte: „Wir sind gerade mit dem Taxi von der Schule hergefahren.“ – „Warum das?“, fragte ihre Mutter. Ich wollte gerade anfangen, wenige Worte rauszubringen, da unterbrach mich Janine: „Marc war da, als mir kurz schwarz vor Augen geworden ist.“ Ihrer Mutter blieb kurz die Sprache weg und sie wirkte völlig entsetzt, als sie fragte: „Was war denn los?“ Janine und ich schauten uns instinktiv an und sie sagte: „Ich habe Marc von Papa erzählt. Mir ist einfach schwarz vor Augen geworden. Marc hat mich aufgefangen.“ – „Mensch, Janine… Lass uns heute noch zum Arzt gehen, damit scherzt man nicht!“ – „Es ist wieder alles gut, ich war einfach wacklig auf den Beinen, vielleicht habe ich heute auch einfach zu wenig gegessen… Marc hat ein Taxi gerufen und bezahlt, weil er nicht wollte, dass ich mit Bus und Bahn herfahren muss.“ – „Danke, das war wirklich vernünftig, Marc. Natürlich bezahle ich die Taxifahrt, wie viel bekommst du?“ – „Das ist schon in Ordnung. Ihr schuldet mir nichts.“ – „Nein, das kommt gar nicht in Frage. Wie viel?“ Ich wollte mich eher ausschweigen, aber Janine nannte direkt den Betrag und ihre Mutter drückte mir sogar mit Absicht ein paar Euro mehr in die Hand, was ich eigentlich nicht annehmen wollte, sie mir aber aufzwang. „Danke, Marc.“ – „Gern geschehen. Es war halt auch Glück, dass ich einfach da war.“ Wir ließen den Moment etwas auf uns einwirken und Janine sagte: „Ich bin auch deswegen auch erst so spät zu Hause, weil ich Marc einfach überraschen wollte. Ich habe gewartet, bis er Schluss hatte. Er hatte wegen Informatik noch zwei Stunden länger.“ Ich nickte, um die Geschichte zu bestätigen – im Grunde war sie auch nicht gelogen. Dass sie deswegen länger gewartet hatte, damit wir uns wieder versöhnen konnten, und dass wir einen heftigen Streit hatten, verschwiegen wir an dieser Stelle.

Ich ergriff final die Initiative und sagte: „Na gut, ich werde jetzt auch wieder nach Hause.“ – „Ich gehe direkt noch die Post von unten holen.“, sagte Janine zu ihrer Mutter. Letztgenannte wirkte davon nicht sonderlich überzeugt, auch wenn Janines Haus einen Aufzug besaß. Janine und standen kurz darauf unten bei ihrem Briefkasten, wo sie mich fragte: „Ist es ok, wenn wir das alles von vorhin meiner Mutter nicht erzählen?“ – „Ja, na klar. Ich dachte mir auch schon, dass du mit Absicht nichts davon gesagt hattest. Und außerdem… warum etwas erzählen, wenn doch gar nichts passiert ist?“ Ich zwinkerte sie an und sie meinte grinsend: „Ja, du hast Recht. Aber dein Angebot mit morgen 13 Uhr steht noch?“ So traurig, verletzt und erschöpft, wie sie dort stand, wurde mir endgültig klar, dass ich unsere Verbindung nicht einfach so aufgeben konnte und wollte. Ich nickte auf ihre Frage hin und antwortete: „Ja, na klar. Wenn du willst, können wir doch morgen einen kleinen Spaziergang machen. Aber ich komme dich auf jeden Fall abholen, weil ich nicht will, dass dir das alles zu viel ist… vor allem wegen heute und so. Und du gehst heute auf jeden Fall noch zum Arzt!“ – „Ja, mache ich wirklich. Danke… für vorhin, dass du für mich da warst.“ – „Gern geschehen.“ Sie umarmte mich und ich hatte wieder den Eindruck, dass sie recht wacklig auf den Beinen war. „Pass auf dich auf.“, gab ich ihr noch mit Sorge mit, wo sie meinte: „Ich versuche es.“ Ich verließ das Haus und machte mich nachdenklich auf dem Heimweg. Mir wurde klar, dass ich mit Janine noch einige Dinge zu klären hatte. Offenbar waren einige Dinge von mir völlig falsch wahrgenommen worden, während sie ziemlich eifersüchtig war. Ich schaute, auch, wenn der Nachmittag einen Schock darstellte, zuversichtlich in die Zukunft der Freundschaft von Janine und mir. Etwas Gutes hatte das ganze Hin und Her mit Janine, aber auch mit Julia. Ich wurde zwischenzeitlich so sehr durcheinander gebracht, dass ich die Nase voll und auf diesen ganzen Gefühlsmist keinen Bock mehr hatte.

Das hatte auch einfach den Vorteil, dass ich mir sicher war, für Janine nicht mehr als freundschaftliche Gedanken zu empfinden, was die Sache zukünftig definitiv leichter machen würde. Mir war auch klar, dass ich Janine nicht mehr ganz so nah an mich heranlassen durfte, aber ich war mir sicher, dass Janine da von sich aus darauf achten würde, weil wir nun umso intensiver wussten, wozu Gefühle führen konnten.