Suche nach Trost
Diesen Dienstag verbrachte ich größtenteils zu Hause, weil es mir wegen meiner Trauer einfach miserabel ging. Die Nachricht mit der Beerdigung zog mich so richtig runter. Ich dachte an diesem Tag vor allem viel über die Gesprächsgruppe nach, von der ich den Flyer hatte. Mir war das definitiv zu unangenehm, mit unbekannten Personen über meine Gedanken zu sprechen – ich wusste, dass es mir viel mehr half, mit Janine oder Tim über meine Gedanken zu sprechen, weil ich ihnen vertraute. Auch mit Petra darüber zu reden, brachte mir viel. Ich schloss aktuell diese Gruppe für mich aus, aber ich ließ für mich offen, ob ich in einigen Wochen oder Monaten womöglich nicht doch diesen Weg probieren wollte. Ein Telefonat mit dem Psychologen aus dem Krankenhaus verwarf ich an diesem Tag auch, weil es mir nicht so unfassbar dreckig ging, als dass ich die Notwendigkeit sah. Ich war an diesem Tag zwar viel am Weinen und ich brauchte Zeit, aber ich war glücklicherweise emotional nicht allein.
Am Mittwochnachmittag traf ich mich wieder mit Tim, der von alledem noch rein gar nichts wusste. Als er mich sah, wusste er direkt, dass etwas nicht stimmte und als er mich fragte, warum ich einige Tage so plötzlich rein gar nichts mehr von mir hatte hören lassen, erzählte ich ihm die gesamte Geschichte mit meinen Eltern. Tim war, so kannte ich ihn über all die Jahre, verständnisvoll, aber er war jemand, der aussprach, was er dachte, wie auch in diesem Fall: „Warum hast du mich nicht angerufen, wenn es dir so dreckig geht?! Du warst doch auch schon so oft für mich da, wenn es mir nicht gut ging. Bei so was bin ich immer für dich da!“ Ich war erstaunt, dass er so deutliche Worte verwendete, sodass ich gar nichts antwortete. Das Problem war vor allem, dass er uneingeschränkt Recht hatte. Vor allem im letzten Jahr hatte ich ihm oft zugehört, weil er hin und wieder Schwierigkeiten mit seinen Eltern hatte, die mal mehr, mal weniger kurz vor der Scheidung stehen sollten, in denen er als Druckmittel, aber auch als Vermittler regelrecht missbraucht worden war. Mittlerweile war die Verbindung seiner Eltern wohl wieder deutlich stabiler, aber wenn man Tim wie ich kannte, sah man ihm an, dass ihn diese Geschichte durchaus beschäftigte. Zu alledem hatte er vor einem Jahr mit einem Mädchen namens Anna angebändelt, die ihn eine ganze Weile zappeln ließ, sodass ich ihm zwischenzeitlich sogar riet, dass er sie sich ganz aus dem Kopf schlagen sollte. Er blieb aber am Ball und war mittlerweile seit ein paar Monaten schon mit ihr zusammen. Immerhin von dieser Seite aus gab es laut Tim wohl nichts Belastendes mehr, da die Beziehung wohl sehr gut laufen würde. Das freute mich für ihn wirklich, als er mir erzählte, dass es endlich funktioniert hatte. Er war aber auch da unheimlich beharrlich geblieben, ich spürte einfach, wie sehr er Interesse an ihr hatte.
„Ja, du hast Recht… Entschuldige, ich war… einfach zu gar nichts im Stande.“ – „Wie ist Janine eigentlich damit umgegangen, wenn sie so spontan dazwischen geplatzt ist?“ – „Sie war vermutlich völlig überfordert, aber hat es sich nicht anmerken lassen. Sie war auf jeden Fall wirklich lieb zu mir und hat mich abgelenkt, wo sie konnte.“ – „Ja, ich habe auch vermutet, dass sie von ihrer Art her so ist. Du sagst, ihr hattet sogar ein zweites Treffen?“ – „Ja, vorgestern wie gesagt. Ich bin zu ihr nach Hause gefahren und abends waren wir im Kino, weil ihr Vater Freikarten für einen Film hatte.“ – „Dafür rufst du deinen besten Freund nicht an, wenn was ist?“ Er schmunzelte und steckte mich damit an, sodass ich meinte: „Na ja… ach…“ Er gab mir einen leichten, aber nicht schmerzhaften Stupser an die Schulter und fragte: „Und, hast du Interesse?“ – „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich fühle mich unheimlich zu ihr hingezogen, aber… Ich weiß nicht. Ich habe es einfach genossen, dass sie so für mich da war und mich abgelenkt hat. Dass ich sie wirklich finde und sie einfach als Frau meinen Geschmack trifft, macht die Sache auch nicht leichter.“ – „Das glaube ich gerne. Anna hat mir damals auch schon ziemlich geholfen, bevor wir zusammen waren, das hat sie für mich definitiv umso attraktiver gemacht, obwohl sie mich schon ziemlich angemacht hat…“ Wir schmunzelten. „Du meinst, sie hat dir bei dem Problem mit deinen Eltern geholfen?“ – „Ja, sie hat mir einige Male Tipps gegeben, wie ich am besten mit ihnen umgehen sollte. Sie hat fast immer richtig gelegen mit ihren Ideen.“ – „Janine hat sich auf jeden Fall richtig große Mühe gegeben, mich immer abzulenken, wenn sie gesehen hat, dass ich schon wieder daran gedacht habe.“ – „Ich finde es mittlerweile richtig gut, dass ihr euch so gut versteht.“ – „… Mittlerweile?“ – „Ich wusste halt bisher nicht, ob ihr euch wirklich so gut verstehen würdet, aber ich finde das nun richtig gut, weil ich mich halt auch wirklich gut mit ihr verstehe, auch wenn ich mit ihr nicht so viel zu tun hatte bisher. Wenn sich meine Freunde untereinander verstehen, ist das doch gleich viel besser.“ – „Wenn du magst, kann ich ihr ja vorschlagen, dass wir zu dritt was unternehmen. Ich glaube, das dürfte auch ziemlich lustig werden.“ – „Das klingt doch nach einer guten Idee. Habt ihr denn eigentlich schon ein neues Treffen ausgemacht?“ – „Nein, bisher nicht. Ich hatte Montag kurz daran gedacht, sie zu fragen, aber ich habe das doch wieder direkt vergessen, weil wir auch noch so spontan ins Kino sind und so. Sie hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben, als wir uns verabschiedet haben.“ – „Sie hat was?“ – „Ja, ich war selbst überrascht. Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte.“ – „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie empfindet schon eine ganze Menge für dich.“ – „Aber wir haben uns doch nur ein paar Mal gesehen?“ – „Das heißt ja nicht, dass sie gleich mit dir zusammen sein will. Aber ein Kuss auf die Wange bekommt man auch nicht von jeder Frau.“ – „Ja, das stimmt. Aber ich versuche, da nicht zu viel drüber nachzudenken… Ich… grübele sonst nur viel zu viel.“ – „Mach dich locker, du denkst schon genug darüber nach. Frage sie bloß nicht danach oder so, das kommt meinen bisherigen Erfahrungen nach nicht so gut an.“ – „Sie hat mir nur gesagt, dass der Kuss dafür gewesen sei, weil ich halt immer so lieb zu ihr sei.“ – „Aaaah… also hast du doch schon gefragt!“ – „Ja, direkt danach, weil ich so perplex war.“ – „Es muss, wie in deinem Fall, ja auch nicht schlimm sein, dass du gefragt hast. Aber damit hast du auf jeden Fall die ziemliche Sicherheit, dass sie schon sehr viel für dich empfinden muss.“ – „Ich hätte schon viel früher mehr Zeit mit ihr verbringen sollen. Ich hatte echt nicht gedacht, dass sie so angenehm als Mensch ist.“ – „Tja, wird Zeit, dass du das auf jeden Fall nachholst… und wenn man so mitbekommt, dass sehr viele Jungs bereits eine Freundin haben, solltest du da auch noch etwas nachholen.“ Er grinste verschmitzt, ich musste darauf lachen und teilte ihm einen leichten Schlag gegen seine Schulter aus, worauf ich entgegnete: „Glaubst du wirklich, dass so viele der Jungs bereits mit einer Frau im Bett waren?“ – „Bei einigen glaube ich es zumindest, weil ich so manche Freundin von denen bei den ganzen Feiern kennengelernt habe… wo du ja regelmäßig gefehlt hast!“ – „Du kennst doch meine Lust auf solche scheinheiligen Partys.“ – „Ein paar mehr hätten zumindest deinem Standing in der Klasse sicherlich gutgetan.“ – „Ja, mag sein. Na ja, ich bin gespannt, mit dem wir in der elften Klasse zusammen landen. Ich hoffe, dass wir einige neue Leute aus den bisherigen Nebenklassen kennen lernen… Ich würde einiges dafür geben, wenn wir die Idioten loswerden. Dass ich Janine so sehr verteidigt habe, würden mir einige sowieso nicht mehr verzeihen, auch wenn ich bei den Partys mit dabei gewesen wäre.“ – „Das stimmt auch. Ich bin zuversichtlich, dass wir zumindest ein paar Neue in unserer Klasse drin haben werden. Von dem Jahrgang über uns weiß ich, dass die sehr kräftig vermischt wurden, aber sie haben teilweise auch Gruppen auseinandergerissen.“ – „Oh, was… wirklich?“ Ich war negativ erstaunt. „Ja, es gab wohl zwei Fünfergruppen, die sie auseinandergerissen und auf zwei Klassen verteilen mussten.“ – „Ich hoffe nur, dass uns das nicht auch trifft, gerade, wo der Kontakt mit Janine jetzt auch so gut läuft.“ – „Es waren Ausnahmen halt, von daher denke ich nicht, dass uns das trifft. Wir sind außerdem auch nur zu dritt, dadurch ist die Gefahr nicht so groß, dass sie uns zu dritt nicht irgendwo unterbekommen.“ – „Damit hast du auch Recht.“
Um mich abzulenken und weil wir keine Lust hatten, rauszugehen, verbrachten wir noch einige Zeit vor Tims Spielekonsole, bis Tim mich währenddessen fragte: „Wo du vorhin von Janine gesprochen hast: Willst du jetzt warten, bis sie sich meldet oder schlägst du ihr ein Treffen vor?“ – „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich hätte jetzt wieder ein paar Tage vergehen lassen und sie denke ich einfach angeschrieben. Ich wollte es jetzt auch nicht übertreiben.“ – „Sieh es so: Noch haben wir viel frei. Wenn wieder Schule ist, wird Janine sicherlich wieder viel lernen und dadurch kaum Zeit haben.“ – „Stimmt auch wieder. Mal schauen, vielleicht rufe ich sie nachher oder morgen an.“
Kurz, bevor ich von Tim aus nach Hause fuhr, fragte ich ihn noch etwas, was mir sehr auf der Seele lag: „Ich habe meine Tante zwar noch nicht gefragt, aber… Könntest du dir vorstellen, mit zur Beerdigung meiner Eltern zu kommen?“ Er schaute mich gar nicht überrascht an und meinte verständnisvoll: „Na klar komme ich mit, wenn deine Familie damit einverstanden ist.“ – „Danke.“ Ich drückte ihn freundschaftlich und fuhr nach Hause, wo Petra gerade von ihrer Arbeit aus nach Hause kam. Sie sah fertig aus und ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, sie zu fragen…
„Ist es ok für dich, wenn…“ – „Ja?“ – „Ich würde gerne meinen besten Freund, Tim, mit zur Beerdigung nehmen.“ Sie wusste einige Sekunden nicht, wie sie darauf reagieren sollte, sah mir aber vermutlich an, dass mir das wichtig war und meinte verständnisvoll: „Ja, na klar, es ist ok.“ – „Tim war sehr oft hier zu Besuch, früher oft auch über Nacht und ich weiß, dass Mama und Papa ihn sehr gerne hatten. Sie haben ihn sogar auch mitgenommen, wenn wir Tagesausflüge gemacht haben.“ – „Dann ist es erst recht ok. Mach dir keinen Kopf, Großer.“ Sie überlegte wieder einige Sekunden und meinte: „Wenn du möchtest, ist es auch ok, wenn du Janine mitnimmst.“ Dieses Mal war ich völlig erstaunt: „… Janine?“ – „Sie kannte doch die beiden auch, oder?“ – „Sie… hat sie einmal gesehen, als ich mich mit Janine das erste Mal getroffen habe. Mama hat sie so sehr gemocht, dass sie ihr sogar etwas zu Mittag gemacht hat, worüber Janine und ich erstaunt waren.“ – „Deine Mutter war eine herzensgute Seele, das stimmt.“ Wir waren still und ich sah nach einer halben Minute, dass Petra Tränen in den Augen hatte. Sie weinen zu sehen, machte mich in diesem Moment unheimlich fertig. Aber ihr zuliebe beherrschte ich mich, ging zu ihr und streichelte ihr über den Rücken, um sie etwas zu beruhigen. Ich sagte zu ihr: „Denk nicht darüber nach… Wir können nichts daran ändern.“ – „Damit hast du Recht, Großer. Also wie gesagt, ich denke, du kannst sie ruhig mitnehmen. Deine Mutter hat sie offenbar auch gemocht. Ich mochte sie auch sehr, als sie sich letztens vorgestellt hat.“ – „Ich werde sie fragen, ob sie mitkommen würde. Ich fühle mich irgendwie komisch dabei, sie zu fragen, weil… na ja, weil ich halt auch noch nicht so lang Kontakt mit ihr habe.“- „Das kannst du selbst entscheiden, du musst sie auch nicht mitnehmen. Ich habe Onkel Steffen außerdem auch schon Bescheid gegeben, was passiert ist. Er wird auch mit dabei sein.“ – „Ok, das würde Mama und Papa sicher freuen.“
Steffen war der Onkel, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, mit dem ich aber halbwegs regelmäßig Kontakt via Telefon und Postkarte hielt. Ich freute mich wirklich, ihn nach den vielen Jahren wieder zu sehen, auch wenn der Anlass dafür nicht schlechter hätte sein können. Ich nahm mir vor, während ich dort mit Petra zusammensaß, dass ich zukünftig mit Onkel Steffen regelmäßiger Kontakt haben wollte, weil meine Familie durch den Verlust meiner Eltern sehr, sehr klein geworden war.
Ich ging nach einigen Minuten, in denen wir still beieinandersaßen und uns moralisch stützten, wieder in mein Zimmer und lenkte mich zunächst so gut es ging ab. Ausnahmsweise machte ich nach einiger Zeit etwas, wovon mich Janine bisher immer überzeugen wollte: Ich schrieb ihr, wenn es mir dreckig ging. „Hey du, na, was machst du gerade?“ Ich hatte Glück, da sie auch online war, sodass sie fix zurück antwortete: „Nichts Besonderes, ich habe einige Videos im Internet angeschaut. Wie geht es dir?“ – „Nicht gut… Meiner Tante geht es auch richtig schlecht und ich habe sie gerade sehr lange getröstet.“ – „Du hast sie getröstet?“ – „Ja… Es war sonst keiner da.“ – „Und wer tröstet dich?“ Ich antwortete ihr darauf nur „…“ und hatte bereits wieder Tränen in den Augen, weil ich nicht wusste, was ich darauf noch sagen sollte. „Ist alles ok bei dir?“, schrieb sie mir nach einigen Sekunden. Es überkam mich einfach: „Es ist halt einfach gar nichts in Ordnung, ich bin völlig fertig und müde und auch, wenn ich ausschlafen kann, fühle ich mich jeden Tag, als hätte ich nachts fast nicht geschlafen… Petra ist jetzt hier ja nun wirklich eingezogen und wir verstehen uns super, aber es ist einfach… es ist einfach nur alles kaputt. Sie ist genauso lieb wie meine Eltern, vermutlich sogar noch viel lieber, aber wenn ich sie sehe, erinnert mich das einfach nur noch mehr an all das… Ich weiß nicht, wie das weiter gehen soll. Ich weiß nicht, wie ich in knapp zwei Wochen wieder zur Schule gehen soll, wenn ich so fertig bin.“ – „Wir bekommen das gemeinsam hin, Tim ist doch auch für dich da. Wenn wir dann zusammen in einer Klasse sind, helfen wir dir und lenken dich ab.“ – „Dafür bin ich euch auch wirklich dankbar. Ich versuche die ganze Zeit, irgendwie nicht den Kopf hängen zu lassen, aber es geht mir einfach dreckig.“ – „Möchtest du mich heute noch sehen?“, fragte sie mich plötzlich. Das kam überraschend und ich hatte auch nicht in diese Richtung gedacht, weil wir es schon halb zehn abends hatten. Nach einigen Sekunden schrieb ich ihr: „Ist das nicht zu spät für dich? Bis du hier bist und wenn du nachts wieder nach Hause fährst… Ich würde mir viele Sorgen machen.“ – „Das ist absolut nicht schlimm, ich würde für dich auch nachts wieder nach Hause fahren. Meine Eltern sind bis morgen Nachmittag nicht da, dadurch bekommen sie das nicht mit.“ – „Aber hast du nicht gesagt, dass du dich fürchtest, wenn du so spät noch draußen unterwegs sein müsstest?“ – „Was… Nein, das habe ich nie gesagt.“ Sie hing einen zwinkernden Smiley an ihre Nachricht, was mich zum Schmunzeln brachte, obwohl meine Augen voller Tränen waren.
„Ich weiß nicht… Ich habe nur ein furchtbar schlechtes Gewissen, wenn du jetzt extra wegen mir hergefahren kommst.“ – „Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben. Ich bin immer für dich da!“ – „Du bist lieb… Danke. Ich frage kurz Petra, ob sie damit einverstanden ist.“ – „Mach ganz in Ruhe.“ Ich ging zu ihr, die in ihrem Zimmer bereits bettfertig war und entspannt fernschaute. Ich rechnete fest damit, dass sie meinen Vorschlag ablehnen würde, doch sie fragte nur: „Sind denn Janines Eltern damit einverstanden, wenn sie so spät noch herumfährt?“ Sie sah an meiner leicht verlegenen Reaktion, dass das wohl geheim passieren würde und meinte: „Also sagen wir es so: Ich habe nichts dagegen, aber ich möchte nicht, dass sie Ärger bekommt oder womöglich du, weil sie ja zu dir gefahren ist. Du darfst das keinem erzählen, weil es immer irgendwelche Plappermäuler gibt. Du holst sie mindestens von der Haltestelle ab!“ – „Danke!“ Sie lächelte mich sanft an und ich ging zurück zu meinem Handy, wo ich ihr schrieb: „Meine Tante ist einverstanden, wenn du heute noch herkommst.“ – „Ok, ich mache mich in fünf Minuten auf den Weg!“ – „Ich hole dich von meiner Bushaltestelle ab, darum schreib mir, wenn du in den Bus steigst. Wenn irgendwas ist, rufst du mich sofort an, ok?“ – „Ja, so machen wir das. Bis gleich!“ Meine traurige Stimmung war selbstverständlich weiterhin vorhanden, aber mir ging es allein wegen des Wissens, dass Janine noch gleich bei mir sein würde, schlagartig besser. Ich machte mich schnell frisch und zog mir ein frisches Oberteil an. Anschließend war ich schon bereits auf dem Weg zum Bus, da Janine mir geschrieben hatte. Ich war unheimlich aufgeregt, als der Bus an der Haltestelle ankam und Janine als Einzige ausstieg. Aufgeregt, weil es eben Janine war und weil wir uns so spät noch trafen… Es war eine ungewohnte Situation, auch wenn wir letztens beim Kino sogar noch etwas später unterwegs waren.
Ich fand sie wieder unheimlich süß, obwohl sie kaum geschminkt war und ganz normale Kleidung trug. Wir umarmten uns lange und ich schaute sie etwas länger an, was sie sogleich bemerkte und recht eingeschüchtert von sich gab: „Also, weißt du, ich bin halt von zu Hause aus direkt los, dadurch hatte ich keine wirkliche Zeit, mich richtig ausgehfertig zu machen…“ Ich fand ihre Sorge erst recht süß und überlegte fast einen Moment zu lang, was ich antworten könnte, weil ich auch nicht zu viel von meinen Gedanken über sie preisgeben wollte: „Das ist doch überhaupt nicht schlimm, mich stört das überhaupt nicht, du brauchst dir darum ja nun wirklich keine Gedanken zu machen… Danke, dass du überhaupt hergefahren bist.“ Sie umarmte mich daraufhin erneut und sagte leise: „Ich habe dir ja gesagt, dass ich für dich da bin, wenn es dir nicht gut geht.“ Ich nickte vorsichtig, sodass sie das spürte.
Wir gingen entspannt wieder zu mir nach Hause und Janine fragte währenddessen: „Petra hat wirklich nichts dagegen, wenn ich jetzt noch für ein bis zwei Stunden bei dir bin?“ – „Oh, du sagst ja jetzt auch ihren Vornamen immer.“ Janine brachte mich zum Schmunzeln und sagte: „Na ja, du springst immer so hin und her mit Tante und Petra, da habe ich mir jetzt einfach Petra angewöhnt. Macht es für dich bestimmt auch einfacher.“ – „Ja, das stimmt, das macht es wirklich. Wenn ich sie rufe, sage ich ja auch nur Petra, und nicht Tante Petra oder so.“ – „Kann ich verstehen. Das machen wir bei uns in der Familie auch so.“ – „Aber nein, absolut nicht, Petra hat nichts dagegen. Ich habe sie vorhin gefragt und sie hat sich nur Sorgen gemacht, dass du vielleicht Ärger bekommst, wenn deine Eltern das irgendwie rausbekommen sollten oder so, auch wenn wir das natürlich keinem verraten.“ – „Ich muss dir was beichten.“ Ich schaute sie erstaunt und skeptisch an und sie sagte: „Ich habe es meiner Mutter vorhin gesagt, weil ich sie angerufen habe.“ – „Oh, wie hat sie reagiert?“ – „Sie hat es mir erlaubt…“ – „Einfach so?“ – „Na ja, ich… ich…“ – „Ja?“ – „Ich habe ihr erzählt, warum ich jetzt hierher gefahren bin.“ Mhm, im ersten Moment war ich verstimmt, weil ich nicht wollte, dass der Tod meiner Eltern eine größere Runde macht – im zweiten Moment sagte ich mir aber, dass es nicht schlimm war, weil klar war, dass ihre Eltern das irgendwann mitbekommen würden, da ich so viel Kontakt mit Janine mittlerweile hatte und sicherlich auch öfters bei ihr zu Hause sein würde. Sie fragte ganz vorsichtig, offenbar mit schlechtem Gewissen: „Ist das ok… dass ich es meiner Mutter erzählt habe? Es ist mir einfach so rausgerutscht, aber ich wusste einfach nicht, was ich ihr sagen sollte, als sie mich fragte, warum ich jetzt so spät abends noch herfahren wollte.“ – „Es ist schon ok. Es wäre natürlich schöner gewesen, wenn du mich vorher gefragt hättest, aber ich denke, es ist ok. Auch wenn deine Eltern damit vielleicht bemerken, dass ich sie letztens angelogen habe.“ – „Du hast sie angelogen? Wann denn?“ – „Als deine Mutter mich gefragt hat, ob es mit dem Kino nicht zu spät für mich sei, habe ich zu ihr gesagt, dass meine Eltern damit kein Problem haben. Dabei stimmte das nicht.“ – „Mach dir darum keine Gedanken, sie wird das schon verstanden haben, warum du die Unwahrheit gesagt hast. Sie hat mir auch versprochen, dass sie meinem Papa nichts erzählt, dass ich heute noch zu dir gefahren bin.“ – „Ok, alles klar. Ich… finde es einfach nur super, dass du wirklich jetzt hier bist. Es ist, wie gesagt, wirklich nicht so schlimm, dass du es deiner Mutter erzählt hast.“ Ich konnte ihr trotz der schlechten Lichtverhältnisse im Gesicht ablesen, wie erleichtert sie war.
Als wir die Wohnung betraten, deutete ich Janine nur an, dass wir uns leise in mein Zimmer begeben sollten, da Petra vermutlich schon schlief. Das bemerkte ich spätestens daran, dass sie ihren Fernseher ausgeschaltet hatte, sodass durch die Schlitze der Gästezimmertür kein Licht mehr schien.
In meinem Zimmer konnten wir abgesehen davon auch nicht allzu laut sein, auch wenn die Schalldämmung durch die Wände recht gut war, sodass man sich zumindest sorgenfrei in Zimmerlautstärke unterhalten konnte, ohne im Zimmer nebenan jemand aufzuwecken. In meinem Zimmer sagte ich zu ihr: „Entschuldige, dass mein Zimmer so unaufgeräumt ist, ich… hatte einfach überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich heute noch Besuch bekomme.“ – „Bei mir zu Hause sieht es gerade bestimmt drei Mal schlimmer aus, die paar Sachen auf deinem Schreibtisch sind doch nicht schlimm.“ Na ja, genau genommen waren die das geringere Übel, weil in meinem Zimmer noch etwas Schmutzwäsche verstreut lag und ich auch schon seit einigen Tagen nicht mehr gesaugt hatte. Mir war das peinlich, aber Janine half mir sogar ganz fix noch beim Wegräumen meiner Wäsche. Sie ging damit völlig normal um, dass sie auch vereinzelte Unterwäsche von mir fand. Was außerdem hinzu kam, war, dass mein Bett bereits zum Schlafen vorbereitet war, da ich das machte, kurz, bevor ich mit Janine vorhin schrieb. Janine fragte mich: „Ist es ok, wenn ich mich trotzdem auf dein Bett setze? Weil ich die Kleidung von draußen trage.“ – „Setz dich ruhig, das stört mich nicht. Ja, das hatte ich vorhin auch schon alles gemacht, kurz, bevor wir geschrieben haben.“ – „Ist doch überhaupt nicht schlimm. Komm, setz dich zu mir.“ Sie klopfte auf eine Stelle neben sich, wo ich mich hinsetzen sollte, was ich auch tat.
Janine erzählt:
„Du hast vorhin geschrieben, dass du Petra getröstet hast?“ – „Ich hatte mich vorhin mit Tim getroffen und kam nach Hause… Da habe ich es ihr direkt im Gesicht angesehen. Sie tat mir einfach leid.“ Marc saß neben mir und ich schaute ihm lange Zeit ins Gesicht. Ich sah ihm im Gesicht an, dass er völlig fertig sein musste. Dass er psychisch am Abgrund war, war logisch, aber ich sah ihm zum ersten Mal an, wie schlecht es ihm körperlich ging. Er hatte leichte Augenringe und das Freundliche in seinem Gesicht war völlig verschwunden. An diesem Abend sah er auch bleich aus und ich bemerkte, wie er an Hautfetzen an seinen Fingern zog. Seine Finger sahen alle nicht gut aus. Nicht nur, dass er seine Fingernägel tief gerissen hatte, er hatte von vielen Fingern auch seine obere Hautschicht abgezogen. Ich war erschrocken, weil ich all diese Details in den letzten Treffen mit ihm gar nicht bemerkt hatte. Mein schlechtes Gewissen wuchs deutlich, weil ich mit ihm vielleicht zu viel unternommen hatte und er dadurch womöglich noch erschöpfter war, wenn er schon so schlecht schlief. Während er mir davon erzählte, wie leid ihm Petra tat, fühlte ich wohl so sehr wie noch nie bei allen Gesprächen über seine Eltern mit. Ich mochte seine Eltern sehr, als ich sie bei unserer Arbeit am Vortrag kennen lernte. Aber es war zugleich noch wesentlich schwerer für Marc, weil er sich mehr oder weniger auch um Petra kümmerte. Ich hatte wirkliche Angst, dass er an dieser Verantwortung irgendwann zerbrach.
Ich strich ihm über den Rücken, als ich bemerkte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Es war für mich ungewohnt, einen Jungen weinen zu sehen. Vor allem bei Marc schockierte es mich, da ich ihn in der Schule fast immer als sehr selbstbewusst kennen gelernt hatte. Ich war auch erstaunt, wie sehr er sich mir gegenüber öffnete. Unsere Vertrauensbasis war sehr groß geworden, obwohl wir lange Zeit nur in der Schule Kontakt hatten. Wie das in so kurzer Zeit möglich war, konnte ich mir nicht erklären, aber ich wusste, dass wir uns im Innern sehr ähnlich waren. Deswegen mochte ich ihn auch so sehr. Wir verstanden uns einfach blendend.
„Hat denn Petra jemand, der sie tröstet?“ Er holte sich ein Taschentuch und setzte sich wieder neben mich, während ich meinen Arm einfach um ihn legte und ihn näher zu mir zog. Mir fiel schlichtweg nichts Besseres in diesem Moment ein. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht… Meine Oma und sie verbringen sehr viel Zeit miteinander. Ich weiß nur, dass sie in den letzten Tagen manchmal bei Freunden war, aber ich weiß nicht, ob sie mit denen wirklich darüber gesprochen hat.“ – „Willst du sie nicht fragen?“ – „Ich könnte das tun, ja.“ – „Ich mache mir Sorgen um dich, hey…“ – „Das weiß ich und das will ich aber eigentlich nicht.“ – „Hey, nicht mehr an deinem Finger herumspielen, das ist nicht gut.“ Ich hielt mit meiner freien Hand seine Hände fest, an denen er versuchte, weiter an einem blutigen Hautzipfel herumzuziehen. „Tut mir leid, ich mache das einfach, ohne darüber nachzudenken.“ – „Deine Finger sehen schon ganz schlimm aus, lasse sie besser etwas heilen.“ – „Ja, du hast ja Recht.“ Er schaute Richtung Boden und wusste definitiv nicht, wohin mit sich und der Welt. Ich sagte zu ihm: „Schau mal, ich habe das mit Petra gesagt, weil ich sehe, dass es zu viel wird, wenn du auch noch die ganze Zeit versuchst, dich um sie zu kümmern.“ – „Aber sie ist ja auch für mich da und erlaubt mir so viel. Sie nimmt viel Rücksicht, sie schläft extra im Gästezimmer und nicht im Zimmer meiner Eltern und versucht irgendwie alles richtig zu machen.“ – „Ich will dir ja nur damit sagen, du musst auch auf dich aufpassen, hörst du?“ – „Ich versuche es…“ – „Auch, wenn ich es schon so oft gesagt habe: Du kannst immer anrufen, wenn es dir nicht gut geht, ok?“ Er sagte plötzlich: „Ich habe mir, als ich von dem Unfall gehört habe, gewünscht, dass ich mit im Auto gesessen hätte, damit ich diese Qual einfach nicht habe.“ – „Das darfst du nicht denken! Deine Eltern hätten diesen Gedanken niemals zugelassen, wenn…“ – „Wenn sie noch da wären! Sprich es ruhig aus!“ Er wurde plötzlich recht aufbrausend und laut. Ich bremste ihn in seiner Lautstärke, damit Petra nicht vielleicht noch dadurch wach wurde. „Hey, psst. Deine Eltern hätten solche Gedanken von dir niemals gewollt. Sie würden wollen, dass du zur Schule gehst, ein gutes Abitur machst und dass du deine Zeit mit Menschen wie Tim verbringst, die dir sehr wichtig sind.“ Er lächelte etwas und sagte: „Du bist mir ebenso wichtig!“ Er brachte mich zum Lächeln, weil ich genauso wie er fühlte. Er war mir sehr wichtig geworden und dieser Moment, in dem ich ihn tröstete, brachte mich nur noch mehr durcheinander. Ich wusste nicht, was ich für ihn fühlte. Ich wusste aber, dass er mir sehr viel bedeutete.
„Ja, du hast Recht, was du über meine Eltern und über mich gesagt hast.“ – „Siehst du.“ Ich rutschte zur Lehne hinter mir, stützte mich auf sie und deutete Marc an, es mir gleich zu tun. Er setzte sich nah neben mich und lehnte sich ebenfalls an. Er schloss dabei seine Augen und wir blieben für einige Momente komplett still. Marc fragte mich plötzlich: „Würdest du… na ja, würdest du…“ – „Ja?“ – „Würdest du mich zur Beerdigung begleiten?“ Ich war erschrocken, weil ich damit gar nicht gerechnet hatte. Ich wusste auch ehrlich gesagt gar nicht, ob ich das wollte. Mein Gefühl sagte mir, dass so etwas wie eine Beerdigung eigentlich nur für die Familie und die engsten Freunde war. Ich war zwar noch nie auf einer Beerdigung, aber… „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“ – „Schade… Tut mir leid, dass ich dich gefragt habe. Ich…“ Ich unterbrach ihn sanft: „Hör mir erst zu, ok?“ Er war darauf still und ich sagte: „Ich möchte einfach nur, dass die Beerdigung ganz in eurer Familie bleibt, weißt du? Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn sich einer durch mich gestört fühlen würde.“ – „Das wird nicht passieren, weil du ja wegen mir mit dabei bist, weil ich damit einverstanden bin. Petra hat es sogar von sich aus vorgeschlagen.“ – „Sie hat es vorgeschlagen?“ – „Weil sie halt weiß, dass wir uns so gut verstehen. Tim wird auch mitkommen, weil er so viel Kontakt mit meinen Eltern in den letzten Jahren hatte.“ – „Das… ist wirklich lieb, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Also, in Ordnung, ich komme für dich mit, wenn es dir damit besser geht.“ – „Das wird es bestimmt. Ich würde mich wirklich freuen und meine Eltern freuen sich bestimmt auch.“
Direkt im Anschluss sah ich wieder, wie einige Tränen sein Gesicht hinunterliefen. Ich wischte sie mit meinem Zeigefinger mehrfach weg, ohne, dass wir dabei etwas sagten. Ich sagte leise zu ihm, dass er näher zu mir rücken sollte, weil ich meinen Arm um ihn legte, sodass er in meinem Arm saß. Ich fand es angenehm, dass Marc mir so nah war, aber gleichzeitig war ich im Innern auch aufgewühlt, weil ich diese Nähe nicht gewohnt war. Um ihn einfach weiter zu trösten, streichelte ich ihm vorsichtig über seinen Kopf. Er weinte noch einige Zeit weiter, immer wieder, aber es wurde weniger. Wir sprachen über eine Viertelstunde kein Wort mehr, bis ich feststellte, dass Marc eingeschlafen war. Ich war auch schon erheblich müde, wollte Marc aber ehrlich gesagt nicht wecken. Vor allem wollte ich das deswegen nicht, weil er schon so fertig aussah und ich den Eindruck hatte, dass er ausnahmsweise friedlich eingeschlafen war. Zumindest konnte ich an Marcs Reaktionen ablesen, dass er die Kopfmassage sehr genossen hatte und dass ihn das ein wenig entspannte. Ich griff mir vorsichtig Marcs Schlafdecke und deckte Marc und mich so gut es ging zu. Er rührte sich dabei kurz, sodass ich meinen Arm, der hinter ihm war, befreien konnte, weil dieser bereits eingeschlafen war. Ich hatte die kurze Hoffnung, dass er dabei von sich aus womöglich aufwachen würde, damit er sich wenigstens vernünftig hinlegen würde, sie erfüllte sich aber leider nicht. Ich rutschte ihm vorsichtig noch etwas näher, sodass sich unsere Körper berührten und lehnte mich mit meinem Kopf ganz vorsichtig an seine Schulter. Es war für mich so wesentlich bequemer, direkt neben ihm sitzen bleiben zu können. Ich zwang mich dazu, auch zu entspannen und schloss irgendwann vor Müdigkeit meine Augen, bis auch ich einschlief.
Marc erzählt:
Ich erwachte vormittags und fühlte mich enorm ausgeschlafen, aber ich hatte dafür kräftige Rückenschmerzen. Als ich die Augen öffnete, sah ich auch sofort warum: Ich hatte im Sitzen geschlafen und Janine lag direkt an mich gekuschelt!
Ich zuckte leider etwas stärker, weil ich mich so erschreckt hatte, sodass Janine unruhig wurde, aber immerhin noch weiterschlief. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, was gestern Abend vorgefallen war … und dann erinnerte ich mich: Janine war zu mir gefahren, um mich zu trösten und mir ging es gestern so richtig schlecht. Janine wollte, dass ich nah bei ihr saß und hatte einfach meinen Kopf gestreichelt, was ich in diesem Moment einfach genoss, weil es mir unheimlich half. Es war so ungeheuer angenehm, sodass ich schnell bemerkte, wie müde ich wurde, aber da war es schon zu spät…
Ich war erstaunt, dass Janine mich nicht geweckt hatte, weil sie ja auch irgendwann nachts eigentlich wieder nach Hause wollte. Mir kam auch der Gedanke, dass sie womöglich Ärger bekam, weil sie die ganze Nacht bei mir blieb… Dieses Gefühl, so mit Janine oder allgemeiner gesagt mit einem Mädchen Zeit zu verbringen, kannte ich nicht. Es warf in meinem Innern alles durcheinander, wo durch meine Eltern schon vieles nicht mehr im Reinen war. Meine Gefühle für Janine waren… wohlig warm, es machte mich richtig glücklich.
Ich musterte Janine, während sie weiter an mir gelehnt war. Ihre Haare waren durch die ungünstige Schlafposition völlig verwuschelt und ihr Zopf hatte sich so halb geöffnet. Sie schlief friedlich. Ich bemerkte außerdem, dass sich ihr Oberteil ein wenig so geschoben hatte, dass ich ihre Oberweite recht deutlich sah. Das machte mich enorm an, auch wenn ich mich wegen meines Gewissens dazu zwang, diese Situation nicht weiter auszunutzen. Das war auch deswegen clever, weil Janine eine knappe Minute später von sich aus aufwachte.
Sie streckte sich vorsichtig und richtete sich auf. Ich schaute sie an und lächelte, als ich ein freundliches Lächeln von ihr zurückbekam. „Hast du gut geschlafen?“, fragte ich sie. „Ja, es war… echt bequem.“ Sie war etwas verlegen, obwohl ich eigentlich genauso peinlich berührt wie sie war. Ich meinte: „Das ist schön. Wir haben es kurz vor zehn, habe ich gerade gesehen.“ – „Oha, so lange haben wir geschlafen?“ – „Dabei war es gestern nicht so spät, soweit ich mich entsinnen kann.“ – „Du bist um halb zwölf etwa eingeschlafen…“ Ich hatte die ganze Zeit den Spruch „Meine Schulter war offenbar sehr bequem“ auf der Zunge, aber ich verkniff ihn mir, weil ich daran dachte, was Tim zu mir sagte, dass man den Moment nicht einfach kaputt machen sollte. „Du hättest mich ruhig aufwecken können. Entschuldige, ich wollte natürlich nicht einschlafen, weil du ja auch noch nach Hause wolltest.“ – „Hey, das war überhaupt nicht schlimm, ich bin ja auch ziemlich müde gewesen… Wie fühlst du dich?“ – „Ich fühle mich wirklich gut, auch wenn mein Rücken ganz schön schmerzt.“ Wir kicherten und ich fragte sie: „Bekommst du nicht Ärger, weil du jetzt die ganze Nacht hier warst?“ – „Nein, meine Eltern kommen doch erst nachmittags wieder, dadurch bin ich einfach schon wieder zu Hause und sie haben nichts bemerkt. Hatte ich dir gestern Abend auch schon als Nachricht geschrieben.“ Sie lächelte wieder und ich fragte sie: „Möchtest du noch mit mir frühstücken?“ – „Ich würde gerne, aber ich fahr lieber direkt nach Hause, um das Risiko zu vermeiden, dass sie mich wirklich noch sosehen…“ Man sah ihr halt an, dass sie gerade erst aufgestanden war, aber wie gesagt… Sie machte mich so total an.
„Ich bringe dich aber noch nach Hause, wenn du möchtest.“ – „Bist du sicher, dass das nicht zu viel Stress für dich ist? Ich möchte, dass du dich entspannst, wenn du kannst.“ – „Nein, ich bringe dich gerne nach Hause, weil…“ – „Ja?“ – „Na ja, einfach, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, dass ich gestern eingeschlafen war und dass du deswegen die Nacht hierbleiben musstest und so.“ Sie kam mir auf einmal sehr, sehr nahe und war mit ihrem Gesicht wenige Zentimeter vor meinem. Mein Herz setzte plötzlich mehrfach kurz aus und sie sagte, während sie mir direkt in die Augen schaute: „Du hörst jetzt auf, ein schlechtes Gewissen zu haben, es ist alles in Ordnung. Ich bin gerne hier über Nacht geblieben, damit ich dich trösten konnte und jemand da war, der letzte Nacht auf dich aufpasste. Bequem war es auch, also ist wirklich alles in Ordnung.“ Mir blieb nun wirklich die Spucke weg und sie baute wieder mehr Distanz zu mir auf, nicht aber, ohne dabei breit zu lächeln. „Kann ich zumindest euer Bad kurz nutzen, um wenigstens nicht ganz so schlimm auszusehen?“ Ich bemühte mich, wieder ein paar Gedanken sortiert zu bekommen und sagte: „Klar, geh einfach den Flur herunter, du kennst das Bad ja.“ Sie nahm sich ihre kleine Handtasche und ging grinsend in Richtung Bad. Zeitgleich ging ich in Richtung Küche, wo ich Petra sitzen sah, die fast etwas altmodisch in einer Tageszeitung las. „Na, auch schon wach?“ – „Ja, seit einer halben Stunde etwa.“ – „Wurde wohl doch später, was?“ – „Ich war gestern eingeschlafen und sie offenbar auch kurz danach.“ – „Ich gewöhne mich lieber daran, dass du deine Aussagen, wenn es um Janine nicht geht, nicht so ganz halten kannst.“ Sie grinste umso breiter, mir wurde die ganze Geschichte immer peinlicher, sodass ich meinte: „Irgendwie kommt es bisher immer anders, als ich geplant habe.“ – „Mach dir nichts draus, es ist ja nicht schlimm, solange du deine Schule und die anderen Sachen nicht vernachlässigst.“ – „Habe ich nicht vor, keine Sorge.“ Sie grinste weiterhin breit, wodurch ich wusste, dass sie vor allem Spaß daran hatte, mich aktuell aufs Korn zu nehmen. Ich sagte: „Ich werde sie zumindest noch nach Hause bringen, damit du Bescheid weißt.“ – „Bleibt sie nicht noch zum Frühstück?“ – „Nein, leider nicht.“ – „Schade, aber gut, dann weiß ich Bescheid.“ Ich ging kurz in mein Zimmer, holte ein neues T-Shirt und Hemd und verzog mich kurz in unser Gästebad, in dem ich mich etwas frisch machte, weil ich ein wenig müffelte.
Ich wartete anschließend auf Janine, die ihre Haare nun offen und gekämmt hatte. Außerdem bemerkte ich schnell, dass sie ein völlig neues Oberteil trug! Ich schaute sie verwundert an und sie meinte: „Ist was?“ – „Wo hast du so schnell das Oberteil hergeholt?“ – „Ich hatte es in meiner Tasche, wieso?“ – „So was hast du einfach in deiner Tasche?“ Sie schmunzelte und meinte: „Ich hatte es in meiner Tasche, weil ich… Na ja, ich hatte vermutet, dass ich womöglich über Nacht bleiben würde.“ Oha, sie hatte also mehr oder weniger von vorneherein geplant, dass sie erst morgens wieder nach Hause gehen würde. „Und ich sehe, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte.“ Sie grinste, kam auf mich zu und gab mir einfach einen Kuss auf die Wange. „Willst du mich wirklich noch nach Hause bringen?“ – „Ja, klar, wenn du bereit bist.“ Sie nickte und wir gingen Richtung Flur, wo meine Mutt… Tante von der Küche aus ihr einen guten Morgen und zugleich einen schönen Tag wünschte. Janine erwiderte das freundlich und wir gingen nach draußen. Das Wetter war wieder schön und angenehm.
Auf dem Weg bis zu ihrem Zuhause redeten wir nicht besonders viel, weil uns einfach gar nicht so unbedingt danach war. Ich vermutete, dass Janine, genauso wie mir, den gestrigen Abend und die Nacht einfach durch den Kopf gingen. Passiert war gar nicht so viel, aber gedanklich schien es uns sehr zu beschäftigen. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Janine so kurz nach dem Aufstehen manchmal nicht die Gesprächigste war. Das war mir schon in der Schule oft aufgefallen, in der sie vormittags vereinzelt eher wortkarg und selten auch gereizt wirkte.
Erst auf den letzten Metern bis zu ihrem Zuhause sagte ich: „Das hat mir wirklich richtig gutgetan, dass du die ganze Zeit da warst.“ Sie bekam aufgrund meiner überraschenden Aussage plötzlich große Augen und erwiderte: „Siehst du, ich habe dir ja gesagt, dass ich für dich da bin!“ – „Danke… Danke. Danke.“ Ich wusste einfach kaum, was ich anderes sagen sollte. „Du brauchst dich nicht immer zu bedanken. Außerdem…“ Wir standen in der Nähe ihrer Haustür. „… fand ich die Übernachtung richtig cool.“ Ich nickte und sie sagte: „Das können wir gerne wiederholen. Wenn du willst.“ – „Ja, auf jeden Fall! Aber wir planen dieses Mal von Anfang an, dass wir beieinander übernachten.“ Ich zwinkerte und sie schmunzelte erneut, worauf ich sie, so fest ich konnte, umarmte, sodass sie meinte: „Hey, nicht zerdrücken… Das ist schon zu doll!“ Sie kitzelte mich kurz, um die Umarmung zu unterbrechen und wir schauten uns einige Sekunden direkt in die Augen…
„Pass auf dich auf, hörst du?“ – „Ja, ich versuche es.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte so leise, dass ich es fast nicht hören konnte: „Du warst richtig bequem…“ Ich verkniff mir die Frage, wie sie das genau meinte und sagte dieses Mal mit vollem Risiko: „Meine Schulter steht auch gerne wieder bereit, wenn du ein Kissen brauchst.“ Sie verzog eine Augenbraue nach oben, streckte mir grinsend die Zunge raus und schloss ihre Haustür auf, während sie mir ein „Ciao!“ entgegenwarf. Ich lief wieder in Richtung Bus, mit dem ich bewusst einen Umweg zu einem Supermarkt fuhr, weil Petra mich via Handy noch um einen spontanen kleinen Einkauf bat.
Unterwegs bekam ich eine Mitteilung von Janine: „Schreibst du mir, wann genau ich dich begleiten soll? Ich habe dich lieb!“ Zu Hause beantwortete ich ihre Frage und schickte ihr die Daten zu, dass die Beerdigung direkt am Tag vorm Schulbeginn stattfinden würde. Der Zeitpunkt war absolut beschissen, so direkt vor dem Schulbeginn… Ich verdrängte den Gedanken aber recht schnell wieder, weil ich von den letzten Stunden einfach total geflasht war, obwohl so gut wie nichts passiert war. Das Wissen und das Gefühl, dass Janine sich in der Nacht an mich gekuschelt hatte, löste regelrecht eine Gefühlsexplosion in mir aus, da ich so was einfach überhaupt nicht kannte. Dieses unheimlich starke positive Gefühl durchzog mich den ganzen Tag über, sodass ich richtig glücklich ins Bett ging.