Kapitel 4

(Un)passend

Sie drückte mich richtig fest zur Begrüßung und meinte: „Hey!“ Ich ließ sie völlig fassungslos in die Wohnung und betrachtete sie für einen Moment. Sie hatte sich richtig hübsch gemacht und gefiel mir unheimlich gut, auch wenn dieses Gefühl sofort wieder von meiner tiefen Trauer überlagert wurde. Sie hatte ihre Haare offenbar kürzen lassen und trug sie offen, was ihr unheimlich gutstand. Ihre Augen waren wieder so ähnlich betont, wie schon, als ich sie letztens nach Hause gebracht hatte. Ihre rosafarbenen Lippen hätten mich normalerweise sofort angezogen… Ansonsten trug sie ein Oberteil mit einem kleinen Ausschnitt, welcher eigentlich kaum etwas zeigte, aber trotz allem verführerisch wirkte. Neben einer normalen Jeans trug sie Schuhe mit recht kleinen Absätzen.

Ich stand dort weiterhin in meinem Schlafanzug, wie ich ihn schon den gesamten Tag trug. Janine schaute recht neugierig in Richtung Wohnzimmer und meinte: „Sind deine Eltern gar nicht zu Hause?“ Als sie ihren Blick zum ersten Mal richtig auf mich richtete, meinte sie: „Warum bist du noch im Schlafanzug?“ Ich konnte für einige Sekunden gar nichts sagen, sodass Janine näherkam und fast eingeschüchtert fragte: „Hey, was… ist denn los? Liegt es an mir?“ – „Nein, absolut nicht. Janine… meine Eltern…“ Sie kam noch ein Stück näher, weil sie deutlich spürte, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste. „Ich habe vorgestern meine Eltern verloren.“ Sie bekam plötzlich große Augen und war völlig entsetzt. „Du hast… was?“ Ich bekam innerhalb weniger Sekunden direkt wieder Tränen in den Augen, weil alles wieder hochkam, was ich die letzten Stunden irgendwie verdrängen konnte. „Ja, es ist… kein Scherz. Meine Eltern… sind in einen Unfall verwickelt gewesen … Jemand ist ihnen wohl hinten reingefahren…“ Sie nahm mich plötzlich ohne Vorwarnung in den Arm, auch wenn sie etwas kleiner als ich war. Sie strich mir über den Rücken, um mich zu trösten.

„Marc, es tut mir… wirklich leid… Ich… ich… hatte ja keine Ahnung.“ Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich stand dort eine Ewigkeit mit ihr. Meine Verzweiflung und meine tiefste Trauer kamen in diesen Momenten einfach herausgeschossen. Ich konnte meine Tränen nicht mehr aufhalten, obwohl ich diese Gefühle ehrlich gesagt bei Janine nicht so zeigen wollte. Da ich ihr schönes Oberteil nicht mit meinen Tränen tränken wollte, löste ich mich vorsichtig von ihr und versuchte mich für den Moment zu beruhigen, was mir nur ansatzweise gelang. Ich schaute ihr direkt in die Augen und sah in ihren Augen, wie schockiert sie war. Zugleich sah ich aber auch, wie leid ich ihr tat… Um ein Minimum an Fassung zurückzugewinnen, ging ich in die Küche und holte mir Taschentücher, während Janine sich ihre Schuhe auszog.

Als ich in der Küche meine Tränen weggewischt hatte, wollte ich wieder Richtung Flur gehen und bemerkte Janine, die am Eingang der Küche stand und mir ihre Hand vorsichtig entgegenstreckte. „Hey, komm, lass uns in dein Zimmer gehen, wenn du möchtest.“ Ich nahm ihre Hand und meinte während der wenigen Meter zu ihr: „Es tut mir leid, dass du mich jetzt hier so siehst… und dass die Wohnung nicht wirklich aufgeräumt ist. Mein Zimmer sieht auch schrecklich aus, geschweige denn von mir…“ In meinem Zimmer sagte sie zu mir: „Hey, es ist überhaupt nicht schlimm. Darum brauchst du dir doch keine Gedanken zu machen.“ – „Außerdem habe ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich unser Treffen einfach vergessen habe… Ich hätte dir Bescheid geben sollen, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin… und ich muss mir erst mal was anziehen und mich frisch machen, damit wir irgendwie rausgehen können.“ – „Hör auf, dich zu entschuldigen… Du musst dich für absolut nichts entschuldigen. Komm, wir setzen uns auf dein Bett.“ Als ich gedanklich mehr damit beschäftigt war, dass ich so ein furchtbares Gewissen hatte, zog sie mich einfach auf mein Bett, sodass ich nah bei und neben ihr saß. „Es ist wirklich alles ok.“, sagte sie und schaute mich völlig besorgt an.

Ich musterte sie für einen Moment und meinte zu ihr: „Du siehst wirklich toll aus.“ – „Danke… Du bist süß.“ Nach einigen Sekunden nahm sie mich ohne Vorwarnung erneut in den Arm und flüsterte leise: „Möchtest du überhaupt… heute mit mir Zeit verbringen oder möchtest du eher allein für dich sein? Ich würde das schon verstehen…“ – „Doch, klar möchte ich mit dir Zeit verbringen… Wir waren doch verabredet.“ – „Alles klar… Sollte dir das irgendwann zu viel sein oder du deine Ruhe haben wollen, kannst du mir das jederzeit sagen. Falls du über deine Eltern reden möchtest, höre ich dir gerne zu… so lange wie du möchtest, wenn es dir damit bessergeht.“ – „Danke… danke. Es kann bestimmt sein, dass ich über meine Eltern reden werde…“ Die Tränen kamen von allein.

Ich fragte sie: „Du möchtest doch heute bestimmt noch nach draußen, oder?“ – „Ich verbringe auch den ganzen Tag heute mit dir hier, wenn das für dich besser ist.“ – „Das möchte ich dir aber auch nicht antun, gerade, wo du dich gefreut hast, durch die Stadt zu ziehen.“ – „Das ist gerade wirklich nicht wichtig. Das könnten wir auch an einem anderen Tag machen. Ich… ich möchte nur, dass es dir etwas bessergeht. Du tust mir einfach so furchtbar leid. Was ich die ganze Zeit überlege…“ – „Ja?“ – „Wie… geht es weiter? Du kannst doch hier nicht einfach weiterleben… oder?“ – „Meine Tante Petra hat mir versprochen, dass sie mit mir zusammenleben wird. Sie hat angefangen, ein paar Sachen von sich hier reinzubringen… Ich habe das alles noch nicht verstanden. Hoffentlich können wir zumindest in dieser Wohnung bleiben.“ – „Verstehst du dich denn gut mit ihr?“ – „Ja, sie ist ähnlich wie meine Mutter… Ich bin froh, dass ich wenigstens meine Oma und sie noch habe.“ – „Und du hast Tim noch… und auch mich.“ – „Ja, genau.“ Sie lächelte vorsichtig.

Ich löste mich aus ihrer anhaltenden Umarmung und stand auf. Sie schaute mich fragend an und ich sagte: „Ich suche mir nur schnell ein paar Klamotten zusammen… dann können wir nach draußen gehen.“ – „Das müssen wir doch wirklich nicht. Ich bleibe gerne mit dir auch hier, wenn du dich damit besser fühlst.“ – „Nein, ich würde gerne trotzdem nach draußen.“ – „Aber bist du sicher, dass du eine Stadttour möchtest?“, fragte sie mich. „Ich würde heute… vielleicht keine Stadttour machen, wenn es für dich wirklich ok ist, aber ich wäre trotzdem gerne bei dem schönen Wetter mit dir draußen.“ – „Ok… wir machen das so!“ Ich holte aus meinen Schränken ein paar Kleidungsstücke, während Janine generell neugierig war und sich in meinem Zimmer umschaute. Es war auf jeden Fall spürbar, dass unser Verhältnis lockerer wurde, wie in diesem Fall dadurch sichtbar, dass sie Dinge in meinem Zimmer, die sie interessant fand, auch einfach in die Hand nahm, um sie sich näher anzuschauen. Sie hatte diesbezüglich auch das Vertrauen von mir. Ich war mit der Situation absolut überfordert und fragte mich kurz, was wohl Janine gerade dachte und erlebte. Glaubte sie mir das, was ich ihr soeben erzählt hatte? Wie überfordert war sie wohl?

Als ich alle meine Sachen beisammenhatte, sah ich, dass Janine fasziniert von einem kleinen Wasserspiel war, bei dem man durch Drehen des Gegenstandes eine Flüssigkeit von einer Seite auf die andere bringen konnte, indem diese recht spektakulär durch verschiedene Bahnen hin und her floss. „Diese Sachen sind mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen.“ – „Ja… du hast vermutlich nicht darauf geachtet. Die standen beim letzten Mal aber auch schon alle da.“ – „Dieses Wasserding hier sieht auf jeden Fall faszinierend aus, wenn diese Flüssigkeit da hin und her fließt.“ – „Mein Vater hat mir das mitgebracht, als er auf einer Tagung in einer anderen Stadt war und abends ein bisschen Zeit noch in der Stadt bummeln konnte. Er hatte früher wohl auch etliche solcher Spielereien. Ich weiß aber gar nicht mehr, von wo er das genau mitgebracht hatte.“ Kaum, dass ich es ausgesprochen hatte, stach es plötzlich in meinem Innern. Mein Vater war nicht mein Vater? Bis ich das in meinen Kopf hineinbekam, würde noch sehr viel Zeit vergehen, das wusste ich. Ich überlegte kurz, ob ich Janine davon erzählte, aber ich entschied mich dagegen. Dafür, dass wir eines der ersten Male überhaupt miteinander Zeit verbrachten, hatte ich Janine mit diesem ganzen Chaos schon genug zugemutet… und mir selbst auch. Ich konnte diesen Umstand auch aktuell noch nicht akzeptieren, sodass ich erst recht nicht darüber reden wollte.

Sie lächelte mich an und ich deutete ihr nur an, dass ich mich kurz ins Badezimmer verziehen würde. „Schau dir ruhig mein Zimmer an, während ich noch im Bad bin. Aber ich glaube, das sollte kein Problem sein.“ Ich zwang mich zu einem Schmunzeln, welches sie erwiderte. Sie war aber gleich wieder recht fasziniert von diesen kleinen Spielzeugen, sodass ich einfach mit meinen Sachen ins Bad ging. Ich hatte zudem mein Smartphone mitgenommen, um Petra eine Nachricht schreiben zu können, weil sie einerseits nicht davon wusste, dass ich mit Janine verabredet war und andererseits auch wissen sollte, dass ich mit Janine nach draußen gehen wollte, damit wir uns eine Lösung überlegen konnten, wie ich sie wieder in die Wohnung lassen konnte, da ich den einzigen Schlüssel besaß. Petra antwortete mir nur kurz mit einem „Alles gut, mach ruhig. Dann weiß ich Bescheid.“.

Als ich im Bad fertig war, stand ich gerade im zweiten Wohnungsflur, der die kleinen Zimmer mit dem Wohnzimmer verband und hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Dieses Mal unterband ich die hoffnungslosen Gedanken, dass meine Eltern einfach wieder nach Hause kommen würden und war aber auch verwundert, weil Petra offenbar Schlüssel besaß – und meine hatte sie definitiv nicht mitgenommen. Ich ging direkt zu ihr und fragte sie: „Hatten wir doch noch Ersatzschlüssel?“ – „Nein… Ich habe die Dinge von der Polizei abgeholt… Du verstehst schon.“ – „Ok… ja.“ Es war für einige Sekunden bedrückte Stille und mir fiel das Wichtigste ein: „Ich hoffe, das ist nicht schlimm, dass ich Besuch dahabe.“ – „Nein, absolut nicht. Du… brauchst dir keine Sorgen machen, du kannst deine Freunde immer mitbringen.“ – „Wirklich?“ – „Ja, wirklich. Das ist völlig in Ordnung und stört mich auch nicht. Wenn du hier jemanden übernachten lassen möchtest, ist das auch ok. Vielleicht solltest du einen Gast zum Anfang auch in deinem Zimmer übernachten lassen, bis wir das Chaos und alles so drum herum beseitigt haben.“ – „Ok, alles klar… Danke.“ – „Nicht dafür, Großer.“ Janine schien mitbekommen haben, dass ich mich mit Petra unterhielt und kam von sich aus ins Wohnzimmer. Die beiden stellten sich vor und ich hatte das Gefühl, dass Petra Janine ziemlich mochte – und umgekehrt.

Ich sagte, dass ich mit Janine nach draußen gehen würde. Petra verstand in meinem Blick, dass ich einfach Ablenkung brauchte und nicht zu Hause bleiben wollte. Ihr ging es vermutlich ähnlich … Aber trotz allem war klar, dass wir uns auch nur teilweise gegenseitig eine Stütze sein konnten. Ich beobachtete, dass Petra ihre neu mitgebrachten Dinge im Wohnzimmer in die Ecke stellte, sodass ich zu ihr sagte: „Wenn du möchtest, kannst du dir doch das Gästezimmer nehmen. Dann musst du deine Sachen hier nicht so offen im Wohnzimmer liegen lassen.“ – „Ist das ok für dich?“ – „Ja, na klar… Das Wohnzimmer kannst du auch genauso nutzen, sonst stehen doch deine Sachen einfach nur hier rum.“ – „Danke, Großer.“ Sie räumte ihre Sachen nach und nach weg und mir wurde klar, warum sie mich darum bat, für den Fall eines Übernachtungsgastes diesen in meinem Zimmer auch übernachten zu lassen. Vermutlich wollte sie nicht das Schlafzimmer meiner Eltern verwenden. Ich wusste abgesehen davon auch, dass ich damit nicht klargekommen wäre, wenn sie das Zimmer einfach verwendet hätte.

Ich fragte Janine, ob sie aufbruchsbereit sei, worauf sie aus meinem Zimmer nur ihre kleine Tasche holte und wir nach draußen gingen. Das Wetter war angenehm, nicht zu warm, sodass man sich draußen einfach nur wohl fühlen konnte. Die Sonne schien auch nicht zu stark, da es leicht bewölkt war. Ich zwang mich dazu, die gesamte Situation zu genießen, obwohl ich es eigentlich nicht konnte. Ich wollte Janine den schönen Tag nicht versauen, auch wenn ich wusste, dass ich ihr volles Verständnis hatte. Da ich erwartungsgemäß sehr viel mit mir selbst beschäftigt war, sprach ich die ersten Minuten unseres Spazierganges nur recht wenig… Immerhin legte sie aber ihre allgemeine Schüchternheit sehr zügig ab, als sie zu mir sagte: „Du hast mich doch vor einiger Zeit gefragt, was ich so für Hobbys habe. Ich habe dir deine Frage gar nicht beantwortet, weil wir so abgeschweift waren. Möchtest du das noch immer wissen?“ – „Ja, klar, natürlich.“ – „Dass ich sehr gerne tanze und im Tanzverein war, weißt du ja nun. Ich lese ansonsten sehr gerne und ich bin unheimlich gerne draußen, vor allem, wenn es schön warm ist.“ – „Hehe, ich habe dich in etwa richtig eingeschätzt.“ – „Wie meinst du das?“ – „Ich habe richtiggelegen, dass du gerne liest und ich habe auch vermutet, dass du es gerne warm magst.“ – „Wer mag es denn nicht gerne warm?“ – „Solange es nicht zu warm ist, mag ich es auch gerne. Ich gehe aber auch gerne bei Minusgraden nach draußen, gerade, wenn es geschneit hat oder so.“ – „Ach nö, noch ein bisschen Wind dazu, dann wird es noch schlimmer mit der Kälte…“ Sie spielte ein fiktives Frieren, was mich zum Schmunzeln brachte. „Was machst du denn noch gerne?“ – „Tim und ich spielen gerne zusammen am Computer. Wir haben damit definitiv schon so einige Stunden herumgebracht, aber ich gehe auch gerne nach draußen.“ – „Ist dir das nicht zu langweilig, wenn ihr da stundenlang am Spielen seid?“ – „Nein, weil es meist eher ziemlich lustig endet, wenn Tim und ich zusammenspielen. Wir reden oft nebenher aber sehr viel und spielen dadurch auch nicht die ganze Zeit. Früher habe ich das auch gerne mit ein paar der anderen Jungs aus der Klasse gemacht, aber das hat sich wohl zukünftig erledigt. Hoffentlich kommen die nicht in unsere Klasse.“ – „Tut mir leid.“ – „Muss es nicht, es ist ja ein Konflikt zwischen denen und mir. Du kannst dafür nichts.“ Wir schwiegen für einen Moment und ich ergänzte: „Es entspannt mich einfach auch unheimlich, wenn ich abends für eine Stunde ein Spiel spiele, was Spaß macht.“ – „So geht es mir, wenn ich abends lese.“ – „Wirst du dabei abends nicht müde?“ – „Doch, oft, aber das ist unheimlich praktisch, da ich einfach das Licht ausmache und mich direkt schlafen lege.“ – „Diese Idee muss ich mir merken.“ – „Wieso?“ – „Ich schlafe abends oft nicht so schnell ein. Mir gehen alle möglichen Sachen meist viel zu sehr durch den Kopf.“ – „Durchdenkst du die Sachen vom Tag oder…“ – „Meistens ja. Als der Konflikt mit den Jungs war, konnte ich an dem Abend auch lange nicht einschlafen… Darum war ich am Tag danach auch so furchtbar müde.“ Ich konnte förmlich riechen, was Janine gerade dachte, sodass ich es einfach aussprach: „Ja, die nächsten Wochen werden die Nächte sicher die absolute Hölle.“ – „Hey…“ Sie blieb stehen und umarmte mich einfach. Das Schlimme für mich war: Ich genoss diese Umarmungen, weil der Kontakt mit Janine spürbar angenehm war – gleichwohl fühlte ich mich unterirdisch furchtbar.

Sie flüsterte leise: „Versuche nicht daran zu denken.“ – „Das sagt sich so leicht!“, fuhr ich sie unbedacht an. Sie blieb aber standhaft und meinte ebenfalls sehr leise: „Ich versuche dich nur aufzumuntern und dir zu helfen…“ – „Ich weiß… Danke. Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren.“ – „Das ist völlig ok.“ Wir lösten uns und gingen in gemächlichem Tempo weiter, auch weil ihre Schuhe ein zügiges Gehen gar nicht ermöglicht hätten. „Sind dir die Schuhe auf Dauer nicht zu unbequem?“ Sie schmunzelte und meinte: „Nein, die sind wirklich bequem!“ – „Na ja, ich meine… weil du ja schon kleine Absätze hast.“ – „Selbst damit sind die angenehm, die Absätze sind ja nur ganz niedrig, denn sonst wäre das bestimmt schmerzhaft auf Dauer.“

Janine erzählt:

Als ich mit meinen Eltern im Urlaub war, fehlte mir Marc. Wir hatten trotz des Urlaubes sehr viel Kontakt, sodass ich umso mehr über ihn nachdachte. Auch während der Wanderungen mit meinen Eltern dachte ich oft über ihn nach… um festzustellen, dass Marc ein unheimliches Timing hatte, mir immer Nachrichten zu schreiben, wenn ich sowieso gerade schon an ihn dachte.

Mir ging unser erstes richtiges Treffen immer wieder durch den Kopf, wo er mit mir auf dem Jahrmarkt war. Er hatte ein großes Talent darin, mich zum Lachen zu bringen. Allein, als er völlig verrückt dieses große Stofftier beim Dosenwerfen gewann und mich die ganze Zeit mit diesem ärgerte. Ich vergaß in diesen schönen Momenten alles um mich herum, all die Sorgen: um die Schule, um die teilweise angeschlagene Gesundheit meines Vaters… Aber vor allem vertrieb er meine Langeweile, die ich sonst sehr oft hatte, weil ich so gut wie keine Freunde hatte.

Seitdem ich ab der achten Klasse immer besser in den Fächern wurde und in einigen Fächern sogar die Beste war, mochten mich schlagartig einige Leute wesentlich mehr. Es freute mich, weil ich damit hoffte, mehr Freundschaften zu finden. Letztlich wurde ich aber bitter enttäuscht. Ich war zu zwei Geburtstagsfeiern von Mädels aus meiner Klasse eingeladen worden, bei denen ich nur das fünfte Rad am Wagen war. Die meisten mieden mich ein bisschen. Ich hatte den Eindruck, als würden mich manche einfach nur durchweg hinters Licht führen wollen. Daher zog ich mich von vielen Leuten zurück, auch wenn ich ihnen nie sagte, warum. Zumindest fingen sie nach einiger Zeit einfach an, hinterm Rücken über mich zu lästern. Die Kommentare taten weh, weil sie alle einfach gar nicht stimmten: Ich würde ständig mit verschiedenen Jungs schlafen, einen Dreier sollte ich auch schon gehabt haben und ganz nebenbei würde ich bei allen Lehrern so sehr schleimen, dass ich vor allem dadurch solch gute Noten bekommen würde. Ich tat das Einzige, was ich konnte: Ich zog mich nur noch mehr zurück.

Erst durch Tim, unserem Klassensprecher, konnte ich mich zumindest wieder ein wenig öffnen, weil er eine wirklich ehrliche Seele war. Er wollte niemandem etwas Böses und verbrachte spontan sogar ein wenig Zeit mit mir, als ich ihn außerhalb der Schule beim Bummeln gehen traf. Ich war allein unterwegs, da Sabrina, meine einzige Freundin, keine Zeit hatte. Tim war unheimlich nett, aber mir war klar, dass ein Kontakt zu ihm nicht so einfach sein würde, weil er in der Klasse unheimlich gut integriert war und ich davon ausging, dass er eine Vielzahl an Freunden hatte.

Durch Tim kam ich auch mit Marc mehr in Kontakt, bei dem ich lange Zeit nicht wusste, was ich von ihm halten sollte. Ich hatte immer den Eindruck, dass er sehr tief in den Cliquen unserer Klasse drinhängen würde, weil ihn so viele mochten. Ich wusste auch von einigen Mädels, dass sie ihn wohl sexy fanden. Marc war ohne Frage attraktiv… gerade, wenn er öfters mal so durch den Wind wirkte, fand ich ihn süß. Marc war geschätzt nur ein paar Zentimeter größer als ich und als Mann damit gar nicht besonders groß. Er hatte kurze, dunkelblonde und oftmals auch strubbelige Haare. Manchmal wirkte seine Haarfarbe, als würde sie ins braun übergehen, aber das waren immer nur für kurze Augenblicke. Seine strubbeligen Haare passten immer besonders gut zu ihm, wenn er mal wieder etwas verpeilt hatte und zusätzlich verschmitzt dreinblickte. Er war schlank und generell sehr sportlich, als würde er regelmäßig noch außerhalb der Schule zum Sport gehen. Besonders muskulös war er allerdings eigentlich nicht. Sein Kleidungsstil war nicht besonders, was daran lag, dass er vieles einfach kombinierte, wie er mal selbst erzählte. Aber seine Kleidung passte meist recht vernünftig zusammen.

Er wirkte manchmal ein wenig überheblich, aber immer, wenn er es sich erlauben konnte. Sein Umgang mit den Leuten war manchmal recht grantig, aber sie nahmen es ihm nie übel, weil er das meist in etwas Ironie verpackte. Zu mir war er im Vergleich immer freundlich und meist ziemlich lieb. Auch im Umgang mit den Lehrern oder anderen Leuten war er immer respektvoll und freundlich.

Besonders überrascht war ich von ihm, als er mich einige Wochen nach unserem Jahrmarkts-Treffen vor den Jungs so sehr in Schutz nahm. Ich bekam durch Zufall auf dem Schulhof mit, wie sie ein hitziges Gespräch hatten und konnte lauschen… Die fiesen Kommentare in meine Richtung taten mir richtig weh und Marc brachte das richtig in Rage. Ich hatte ihn bisher noch nie so wütend gesehen. Er war so wütend, dass er unseren Mitschüler dazu brachte, nach ihm zu schlagen! Ich war völlig schockiert und erleichtert, als Tim plötzlich nach einigen Sekunden dazwischen ging. Marc lief danach an mir vorbei, sodass ich ihm hinterherging und einfach schauen wollte, ob mit ihm alles in Ordnung war. Er war dort auch mir gegenüber kurz grantig und entschuldigte sich aber auch gleich wieder dafür. Aber hey, ich machte mir Sorgen, dass er womöglich verletzt wurde! Glücklicherweise wurde er aber wirklich nicht getroffen, sodass mich mein Eindruck auf dem Schulhof doch nicht täuschte.

Da Marc mich so sehr in Schutz nahm, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte ihn später, ob wir zukünftig nicht nebeneinandersitzen wollten, da er neben sich noch einen Platz frei hatte. Er sah überrumpelt aus, stimmte aber trotzdem zu, was mich wirklich freute. In den ersten Tagen versuchten mir einige aus der Klasse meinen Kontakt mit Marc kaputt zu machen, indem sie Gerüchte streuten und mir Sachen erzählten, die nicht stimmten. Eines traf mich aber doch, als sie sagten, dass Marc auch schlecht über mich denken würde. Ich traute mich nicht, ihn darauf anzusprechen, weil ich es nicht glauben konnte. Marc bemerkte meine nervösen Gedanken in den Tagen nach diesem Gesprächsthema und sprach mich von sich aus darauf an, als er mich mal nach Hause brachte. Wir schafften dieses Gerücht glücklicherweise sehr schnell aus der Welt. Ich glaubte ihm, dass er das wirklich nicht von mir dachte.

Die letzten Tage in der Schule waren mit Marc fast so locker wie der Besuch beim Jahrmarkt. Auf die Sommerferien freute ich mich ganz besonders, weil ich sie mehr mit ihm verbringen und ihn endlich so richtig kennenlernen wollte. Marc spiegelte mir, dass er sich genauso wie ich darauf freute. Welches Interesse Marc nun an mir hatte, wusste ich nicht. Ich hoffte wirklich, dass er nicht so versaut wie viele andere Jungs war und gleich nur an Sex dachte, wie es ziemlich sicher bei einigen aus unserer Klasse und den Nebenklassen war. Denn gänzlich als richtigen Freund ausschließen wollte ich ihn ehrlich gesagt nicht. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass er an einer Beziehung mit mir interessiert war, zumal ich nicht wusste, ob er nicht sogar schon eine Freundin hatte. Er hatte sich bisher nie in die Karten schauen lassen.

Da mit dem Beginn der elften Klasse die Klassen neu durchgemischt werden sollten, mussten wir uns entscheiden, mit wem wir am liebsten zusammen in einer Klasse bleiben wollten. Man konnte solch einen Zettel nur als Gruppe abgeben und ich hatte es hinbekommen, dass Marc, Tim und ich einen Zettel gemeinsam abgaben. Aber ich hatte auch Hoffnung, dass ich durch den Neuanfang vielleicht ein paar neue Kontakte finden würde. Unabhängig davon würde es angenehm werden, da Marc, Tim und ich wieder zusammen in einer Klasse landen und Marc und ich dieses Mal sicher von Beginn an zusammensitzen würden.

Meine Eltern fuhren zu Beginn der Ferien mit mir in die Berge, was ich unheimlich schön fand. Vor allem hatten wir fast drei ganze Wochen Urlaub, sodass wir sehr entspannt verschiedene Orte erkunden konnten und viel Zeit mit Spaziergängen verbrachten. Wir hatten diesen langen Urlaub vor allem deshalb gebucht, weil es meinem Vater leider nicht so gut ging. Er war gerade mal Ende 40 und hatte vor kurzem eine schwere Krebs-Erkrankung durchgestanden, die seine allgemeine Fitness, aber vor allem seine Lunge angriff. Dieser Urlaub sollte ihm helfen, und ich hatte den Eindruck, dass die knapp drei Wochen das tatsächlich taten. Er wirkte wesentlich ausgeruhter und entspannter, was mich im Innern unheimlich freute und auch beruhigte. Mama taten diese Wochen auch richtig gut, weil ich seit langer Zeit wieder in ihrem Gesicht ablesen konnte, dass sie glücklich war. Die monatelange Krankheit von Papa hatte schwer an ihr genagt.

Während dieser wunderschönen Urlaubswochen konnte ich dafür aber leider nicht so sehr viel Kontakt mit Marc haben, auch wenn wir uns via Smartphone trotzdem große Mühe gaben. Er rief mich sogar zwei Mal an, jeweils recht lang, sodass ich schon Sorge hatte, dass es zu teuer für ihn werden könnte, was er aber damit abtat, dass ihm diese Gespräche wohl nichts kosten würden. Die Gespräche waren richtig locker und er brachte mich regelmäßig zum Schmunzeln, worin er definitiv wieder ein Talent besaß. Er erzählte mir, dass er sich sehr oft mit Tim traf, weil die beiden während der Schulzeit kaum Zeit gefunden hatten. Zumindest erwähnte er nichts von einem Mädchen oder möglichen Freundin, was meinen Eindruck bestätigte, dass er nicht vergeben war.

Ich ließ wenige Tage vergehen, nachdem wir aus dem Urlaub zurückkamen, und schrieb Marc, ob er Zeit und Lust auf eine Verabredung haben würde. Er rief mich einfach an und sagte mir, dass ich ihn wohl eben erst geweckt haben würde – um elf! Ich fand das erstaunlich, gerade, weil ich selbst auch in den Ferien gegen acht oder neun aufstand… Durch den Rhythmus in der Schule konnte ich an Wochenenden oder freien Tagen nicht so richtig lange ausschlafen, auch, wenn ich es wollte. Nur wenn ich richtig fertig vom Vortag war, konnte ich auch mal bis elf oder zwölf schlafen. Wir verabredeten uns für den kommenden Donnerstag und ich war schon die Tage bis dahin richtig aufgeregt. Ich war sogar so aufgeregt und nervös, dass Mama es bemerkte. Sie wusste natürlich, dass ich nach dem Vortrag mit ihm noch Zeit verbracht hatte und auch, dass wir nun zusammensaßen, aber von dem regen Kontakt im Urlaub bekam sie nichts mit und das hielt ich auch geheim. Aber das Gespräch mit ihr beruhigte mich etwas, weil sie mir sagte, dass ich einfach ganz entspannt sein sollte, schließlich war es ein ganz normales Treffen.

Ich überlegte am Donnerstagvormittag ewig lang, was ich anziehen konnte, um einerseits nicht zu sehr bei der Hitze draußen zu schwitzen, was aber auch andererseits nicht zu offen war… auch wenn ich mich ausnahmsweise etwas offener in Marcs Gegenwart zeigen wollte. Wegen meiner Überlegungen und der Zeit, die ich zum Schminken brauchte, war ich fast zu spät von zu Hause aus losgekommen. Ich hatte gerade noch so den Bus bekommen.

Marc ließ mich in die Wohnung und ich spürte direkt, dass etwas nicht stimmte. Er umarmte mich nicht richtig und sah völlig geschockt aus, zumal er in Schlafkleidung dastand. Als er mir erzählte, dass er zwei Tage zuvor seine Eltern verloren hatte, konnte ich das zunächst überhaupt nicht fassen. Das war so unglaublich… Als er aber innerhalb weniger Sekunden plötzlich anfing, zu weinen, wusste ich, dass es wirklich passiert war. Ich war völlig überfordert und nahm ihn instinktiv einfach in den Arm… Er war völlig fertig und ich wusste überhaupt nicht, was ich nun am besten machen sollte. Er tat mir so fürchterlich leid und ich konnte es einfach nicht fassen. Seine Eltern, die so nett zu mir waren, waren… nicht mehr am Leben?

Ich tröstete Marc in seinem Zimmer, wo ich nur konnte, während er an unserem eigentlichen Plan, nach draußen zu gehen, festhalten wollte. Sein Wunsch nach ein bisschen Normalität war erstaunlich und ich war mir nicht sicher, ob es wirklich das Richtige für ihn war… Aber ich stimmte seinem Wunsch einfach zu, er wusste hoffentlich selbst am besten, was das Richtige für ihn war. Kurz, bevor wir nach draußen gingen, lernte ich seine Tante Petra kennen, die ebenfalls wie seine Eltern richtig nett war. Laut Marc würde er nun mit ihr in der Familienwohnung leben wollen. Ich stellte mir das absolut grausam vor, wenn ich Mama und Papa plötzlich nicht mehr hätte. Ich konnte es nicht nachfühlen und ich wollte es ehrlich gesagt auch nicht.

Als wir draußen waren, versuchte ich ihn abzulenken, indem wir nach Möglichkeit über normale Themen sprachen. So erzählte ich ihm von meinen Hobbys und erfuhr, dass er wie die meisten Jungs gerne am PC spielen würde. Aber er mochte es offenbar genauso gerne, nach draußen zu gehen. Wirklich spannend waren seine Hobbys zugegeben nicht, auch wenn ich es cool fand, dass er Billard sehr mochte. Meine Hobbys waren sicherlich auch nicht besonders spannend. Unabhängig davon konnte man trotzdem Spaß mit ihm haben, wie ich ja am Jahrmarkt sah. Ausgehen konnte man mit ihm offenbar auf jeden Fall gut.

Marc führte mich durch „seine“ Gegend, da ich diese bisher nicht kannte und er zeigte mir einige Wege, die von den Straßen in der Umgebung wegführten und direkt mitten in der Natur endeten. Bemerkenswert waren diese Stellen auch deswegen, weil es meist mucksmäuschenstill wurde. Ich stellte zumindest fest, dass Marc offenbar die Natur liebte. Auf jeden Fall genoss er ruhige Momente und Orte, was ich allgemein auch so sehr mochte. Obwohl er von seinen Gefühlen so heftig belastet war, waren diese sehr ruhigen Momente ziemlich romantisch. Ich zeigte ihm dies nicht und versuchte mir nichts anmerken zu lassen, aber diese kurzen Phasen brachten mich richtig durcheinander, obwohl er nicht mal mit mir flirtete.

In unserem langen Spaziergang machten wir nach einiger Zeit einen Halt bei einem kleinen Supermarkt, wo wir uns mit Getränken und Eis eindeckten. Marc bezahlte meine Sachen schon wieder mit, obwohl er das nicht sollte. Er war ohne Frage sehr großzügig, was ich wirklich schätzte. Ich nahm mir spätestens beim nächsten Mal vor, auch etwas von ihm zu bezahlen, weil ich mich nicht ständig einladen lassen wollte.

Marc erzählt:

Da Janine neugierig war und meine Wohngegend noch nicht kannte, zeigte ich ihr all die kleinen versteckten Orte, die ich im Laufe der Jahre entdeckt hatte. Vor allem hatte es mir dabei ein kleiner Park angetan, in dem man die absolute Stille genießen konnte, obwohl gar nicht weit entfernt Autos umherfuhren. Ich sah in Janines Gesicht etwas Fasziniertes, als ich ihr den Park zeigte – es gefiel ihr, was mich freute. Vor allem erregte mich Janine in diesen wenigen Momenten mit ihrem Aussehen und ihrem freundlichen, anziehenden Blick so dermaßen stark, dass ich mich zurückhalten musste, ihre Nähe nicht zu sehr zu genießen.

Einige Minuten nach dieser Szene, als ich mit ihr auf dem Weg zu einer Stelle war, die mir aufgrund gemeinsamer Erlebnisse mit meinen Eltern sehr viel bedeutete, fragte sie mich etwas Interessantes: „Du hast mir ja erzählt, dass du dich so viel mit Tim getroffen hast. Hast du denn sonst außerhalb der Schule keine Freunde?“ – „Nein. Da geht es mir so wie dir vermutlich.“ – „Na ja, ich hatte es wahrscheinlich noch nicht erzählt, aber ich habe durch meinen alten Tanzverein zumindest noch zwei Freundinnen, mit denen ich mich gut verstehe und die ich ab und zu sehe.“ Nein, das hatte sie tatsächlich noch nicht erzählt. „Du hast sogar mehr Freundschaften als ich, siehst du.“ Ich grinste und sie meinte: „Na ja, ich sehe die beiden aber leider sehr selten.“ – „Wieso versuchst du nicht, mehr Kontakt aufzubauen?“ – „Das müsste ich eigentlich wirklich wieder machen, sie haben mich ja einige Male gefragt, aber ich hatte teilweise abgesagt…“ – „Es wird Zeit, wieder zuzusagen.“ Wir schmunzelten leicht und sie fragte: „Was sagt eigentlich deine Freundin dazu, dass du nur Tim als Freund hast?“ Mir blieb plötzlich die Spucke weg und ich war von ihrer direkten Frage richtig erstaunt. Ich fand es bemerkenswert, dass sie glaubte, dass ich vergeben sei – ich hatte bisher, wie gesagt, keine Freundin. Ich ging eigentlich davon aus, dass Janine das schon mitbekommen hatte, aber offenbar war das nicht der Fall. „Die sagt nichts dazu, weil ich keine Freundin habe.“ – „Oh, das wusste ich gar nicht.“ – „Ich dachte eigentlich, das hättest du mitbekommen, als mich letztens aus der Klasse jemand danach fragte.“ Janine wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, sodass ich sie einfach direkt fragte: „Du hast auch keinen Freund, oder?“ Sie schaute mir während des Gehens direkt in die Augen und meinte: „Nein, ich bin auch nicht vergeben.“ Wir liefen einige Sekunden lang still nebenher, bis wir auf einmal ziemlich lachen mussten, ohne, dass wir aufklärten, warum. Vermutlich dachten wir in etwa dasselbe: Wir hatten jetzt zumindest eine der wirklich interessantenInformationen des Gegenübers.

„Welchen Ort zeigst du mir jetzt?“ – „Wir gehen jetzt zu einem kleinen Teich, an dem ich mit meinen Eltern… oft war.“ – „Bist du sicher, dass du dort hinmöchtest?“ Ich dachte einige Sekunden über die Frage nach und meinte zu ihr: „Ja, doch, schon. Ich möchte dir all die schönen Orte hier in der Umgebung zeigen.“ – „Du bist süß. Warum ist dieser Ort besonders?“ – „Das wirst du gleich sehen.“, entgegnete ich ihr mit einem Grinsen. Nach wenigen Minuten erreichten wir den angesprochenen Teich. Er war deshalb sehr schön, weil die Bäume, die außen herum wuchsen, eine Art Farbenspiel auf das Wasser projizierten – die Sonne kam nicht vollständig auf die Seeoberfläche, sondern wurde in vielen Streifen geschnitten, die verschiedene Muster auf dem See ergaben. Es sah einfach spektakulär aus und war nur im Sommer richtig gut zu beobachten. „Das ist ein wirklich schöner Ort.“, kam von Janine. „Das finde ich auch.“ Wir schauten uns kurz an, sie lächelte und schlug vor: „Was hältst du davon, wenn wir uns auf die Bank dort setzen?“ – „Klar, können wir machen.“

Auf der Bank war ich sehr lang völlig still, weil ich einerseits die Atmosphäre genoss und andererseits meine Erinnerungen mit meinen Eltern hochkamen. Ich hatte bereits Tränen in den Augen, als Janine plötzlich leise meinte: „Hey, du bist ja auf einmal so still…“ – „Tut mir leid… Mir kamen die ganzen Erinnerungen hoch, wie ich hier mit meinen Eltern oft saß, auch schon, als ich ganz klein war.“ Sie legte ihren Arm um mich und tätschelte mich an den Schultern und am Rücken. Ich verkniff mir die Tränen immerhin, damit sie nicht weiter flossen, und Janine meinte: „Lass uns weitergehen, wenn du möchtest. Ich gebe dir Recht, das ist ein richtig toller Ort hier.“ – „Danke… Ja, lass uns weitergehen.“ Sie stellte sich vor mich, zog mich nach oben und steckte mich mit ihrer guten Laune regelrecht an, obwohl ich mich eigentlich innerlich dagegen sträubte.

So liefen wir ab diesem Zeitpunkt querfeldein, wo es uns gerade hin verschlug und wir redeten vor allem über verschiedene Dinge aus der Schule, die wir so mitbekamen. Glücklicherweise ließen wir aber gekonnt all die Themen aus, die vor allem sie in den letzten Jahren so sehr belastet haben mussten. Schließlich hatten wir große Hoffnung, dass sich die ständigen Angriffe auf Janine ein Ende hatten, weil die große Clique vermutlich nicht mehr zusammen in einer Klasse landete und selbst wenn, hieß es nicht, dass wir ebenfalls in der gleichen Klasse waren.

Janine meinte zu mir: „Ich habe eine kleine Überraschung für dich.“ – „… Für mich?“ – „Ja, schau hier.“ Sie kramte in ihrer kleinen Tasche herum, in die eigentlich nichts reinpassen konnte, und holte ein kleines eingepacktes Geschenk heraus. Ich schaute erstaunt und sie meinte: „Hier, für dich… Pack es aber ganz vorsichtig aus.“ – „Danke!“ Das Geschenk war für die kleine Größe schon recht schwer und ich fragte mich, was es wohl sein könnte, als ich es letztlich in der Hand hielt: Es war eine kleine Schneekugel, als Motiv waren die Berge zu sehen. Ich fand die Idee niedlich und meinte erfreut: „Danke!“ Ich umarmte sie darauf einfach kräftig, worauf sie nicht vorbereitet war, sodass ich sie fast umwarf. Aber wir mussten deswegen eigentlich mehr schmunzeln als alles andere. Als wir weitergingen und ich mir vorsichtig die Schneekugel weiter anschaute, fragte ich sie: „Hast du die aus dem Urlaub mitgebracht?“ – „Ja, genau. Da du mir so viel geschrieben hast und so, dachte ich mir, ich bringe dir was mit. Ich weiß nicht, was du so genau magst, da fand ich die Idee ganz toll.“ – „Ich find die Idee super, damit habe ich gar nicht gerechnet… Danke, das ist echt lieb!“ Sie freute sich, weil ich mich freute. Ich bat sie aber doch noch um etwas: „Kannst du die Kugel vielleicht bis nachher einstecken, bis ich nach Hause gehe?“ – „Ja, klar, gib sie mir einfach.“

Nach einem Zwischenstopp bei einem kleinen Supermarkt in direkter Nähe, in dem ich Janine ein Eis und ein Getränk ausgab, zeigte ich ihr noch zwei weitere Orte, die zu Fuß etwas weiter entfernt waren, sodass wir mit dem Bus etwas abkürzten. Auch diese beiden Orte verband ich mit meinen Eltern, auch wenn ich dieses Mal mir so wenig wie möglich davon anmerken ließ. Die Stimmung zwischen Janine und mir war einfach so gut, dass ich sie mit dem schon völlig furchtbaren Thema nicht schon wieder kaputt machen wollte. Wir redeten über Gott und die Welt und es tat einfach gut, weil sie mich nach einiger Zeit komplett von meinen Eltern abgelenkt hatte. Unsere Themen drehten sich vor allem um die Zeit, wo wir noch sehr klein waren und über all die Dinge, die wir als kleine Kinder anstellten, worüber wir zwischenzeitlich viel lachen mussten.

Gegen 18.30 Uhr waren wir ziemlich geschafft und ich war erstaunt, wie lang wir letztlich draußen waren. Janine hatte es in jedem Fall geschafft, mich sehr viel vom Thema Eltern fernzuhalten, indem sie mich mit immer anderen Dingen und Gedanken ablenkte. Ich war ihr für diesen Tag unendlich dankbar. Wir saßen im Bus, mit dem wir einige Minuten fahren mussten, und sie ließ, während sie neben mir saß, einfach ihren Kopf auf meine Schulter fallen und sagte: „Jetzt bin ich wirklich fertig. Wir sind echt viel gelaufen!“ Ich schmunzelte und meinte darauf: „Na ja, mit deinen Schuhen…“ – „Sag nichts gegen meine Schuhe!“ Sie schmunzelte, pikste mir in die Seite und meinte: „Die Schuhe sind bequem.“ – „Kann ich mir nicht vorstellen.“ – „Doch, du kannst sie ja anziehen!“ – „Nein, lass mal lieber.“ Wir lachten darauf nur noch mehr und ich meinte: „Ich stelle mir das gerade vor, wie ich mit deinen Absätzen durch die Gegend laufe…“ – „Oh Gott, die Vorstellung!“ Wir unterhielten in jedem Fall wieder einen Teil des Busses.

Wenige Stationen, bevor ich aussteigen musste, holte Janine wieder die Schneekugel aus ihrer Tasche und gab sie mir. Ich meinte direkt, bevor ich ausstieg: „Das müssen wir echt wiederholen. Wenn du magst, kann ich ja nächstes Mal zu dir kommen.“ Ich grinste, sie lächelte. „Ja, das hat richtig Spaß gemacht. Finde ich gut, wenn du nächstes Mal zu mir kommst.“ – „Was hältst du von Samstag oder Sonntag?“ – „Ich würde Montag vorschlagen, wenn es für dich ok ist.“ – „Ja, klar. Machst du denn die nächsten Tage so viel?“ Ich sah sofort, dass ihr irgendetwas sofort unangenehm war und sie meinte: „Ach, na ja, ich muss mein Zimmer gründlich aufräumen und so…“ Ich schmunzelte und sie meinte: „Alles klar, Montag ist doch gut. Wieder so um 14 Uhr?“ – „Für mich wäre das ok, aber bist du sicher, dass du schon wach bist?“ Sie kicherte und ich fing ohne Vorwarnung an, sie sehr kurz, aber heftig zu kitzeln, wodurch sie sich kaum wehren konnte. „14 Uhr bin ich bestimmt schon wach.“ Ich streckte ihr die Zunge heraus und sie amüsierte sich nur noch mehr. Ich deutete eine Umarmung an, weil der Bus schon fast an der Haltestelle hielt, und sie meinte: „Aber ohne Kitzeln!“ Ich nickte grinsend und wir umarmten uns sehr lange, während sie leise flüsterte: „Komm gut nach Hause. Pass auf dich auf.“ – „Du auch!“

Ich stieg aus dem Bus aus und blieb noch ein paar Sekunden stehen, in denen mich Janine durch das Fenster anschaute und lächelte. Sie fuhr mit dem Bus davon und ich lief bewusst einen größeren Umweg bis nach Hause. Ich ließ dabei die letzten Stunden Revue passieren und konnte meine Gefühlslage einfach nicht sortieren. Das Treffen mit Janine war sehr angenehm und ich fühlte mich spürbar wohl in ihrer Nähe. Sie war einfach für mich da und tröstete mich … obwohl es für sie sicherlich schwierig gewesen sein musste, mich so zu sehen.

Als ich zu Hause wieder ankam, war Petra weiter damit beschäftigt, ein paar Dinge in unsere Wohnung zu bringen. Sie wirkte aber erstaunlich gut drauf und sah mir offenbar auch meine gute Laune an, worauf sie meinte: „Na, wie war es gewesen?“ – „Mit Janine, meinst du?“ – „Ja, na klar.“ – „Na ja, wir sind sehr viel draußen gewesen und wir haben ziemlich viel gelacht.“ – „Das ist doch schön.“ Es traten ein paar peinliche Sekunden Stille ein und sie meinte: „Du hast ja eine ziemlich hübsche Freundin, was?“ Ich wusste darauf erst recht nicht mehr, was ich sagen sollte, und sie fügte hinzu: „Großer, ich will dich doch nur ärgern. Das ist doch super, wenn ihr euch gut versteht. Trefft ihr euch denn wieder?“ – „Wir haben uns für Montag verabredet.“ – „Na dann. Kommt sie wieder her?“ – „Nein, ich gehe dieses Mal zu ihr. Ich weiß zwar, wo sie wohnt, aber direkt bei ihr war ich noch nicht.“ – „Ok, viel Spaß. Sei nett zu ihren Eltern.“ Wir schmunzelten. „Ist sie eigentlich aus deiner Klasse?“ – „Ja, genau. In der elften Klasse sind wir wahrscheinlich auch wieder zusammen in der gleichen Klasse.“ Sie nickte und meinte: „Das ist sicherlich von Vorteil.“ Ich fragte sehr auf den Punkt gebracht: „Wer sagt eigentlich, dass ich an Janine Interesse habe?“ – „Niemand. Aber ich kann eins und eins zusammenzählen.“ – „Ähm…“ – „Erwischt!“ Sie wuschelte mir durch meine Haare und beschäftigte sich wieder mit ihren Kisten, auch wenn wir darüber noch einige Momente lang lachen mussten.

„Es gibt noch etwas Wichtiges…“, deutete ich an. „Was ist los?“ – „Mama und Papa hatten eine Reise gebucht in anderthalb Wochen etwa.“ – „Mach dir darum keine Sorgen, Oma hatte mich schon daran erinnert und ich habe das schon geregelt.“ – „Hast du die Reise abgesagt?“ – „Ja, mir blieb nichts anderes übrig… Tut mir leid, Großer. Aber wir werden zukünftig auch bestimmt wegfahren. Das Geld, was wir immerhin noch zurückbekommen, gebe ich dir, damit du es auf dein Konto als Rücklage packen kannst, wenn du später zum Beispiel studieren solltest.“ – „Danke. Und die Absage ist nicht so schlimm. Ich wollte vor allem, dass wir da nicht noch Ärger bekommen.“ – „Das ist lieb, dass du nachgefragt hast und mich erinnern wolltest.“

Ich ging in mein Zimmer und stellte die Schneekugel von Janine auf meinen Schreibtisch. Normalerweise kamen solche Sachen in meine Regale, aber bei der Kugel machte ich eine Ausnahme. Wahrscheinlich deswegen, weil ich von Janine mit so etwas nicht gerechnet hatte und diese Kugel irgendwie besonders fand.

Mein Interesse für Janine war definitiv da, ohne Frage. Allein heute hatte es sich deutlich verstärkt. Zumindest wurde mir bewusst, dass ich Janine nun definitiv als Freundschaft ansah. Bisher war ich mir mit dieser Einschätzung nicht endgültig sicher, weil wir uns so wenig während der Schulzeit sahen, aber durch den Kontakt in den letzten Wochen und das Treffen heute war sie mir so wichtig geworden, dass ich sie mindestens als normale Freundin betrachtete.

Kaum, dass ich für wenige Minuten in meinem Zimmer war, brach die Welt wieder über mich herein: Meine Eltern. Ich war erschrocken darüber, wie leicht ich mich von meiner Trauer ablenken ließ… Dafür brach sie jetzt umso härter über mich herein und ich war für über eine Stunde zu rein gar nichts mehr im Stande. Ich saß nur noch regungslos auf meinem Stuhl, weinte aber nicht. Eine Nachricht riss mich aus meiner Schockstarre und sie stammte, wie konnte es anders sein, von Janine: „Na, was machst du gerade? Bist du auch so kaputt und müde wie ich?“ Ich schmunzelte, während mir Tränen an meiner Wange herunterliefen, weil ich mir das irgendwie bildlich vorstellen konnte und schrieb zurück: „Nein, ich bin eigentlich noch topfit. Ich könnte glatt die gleiche Tour erneut mit dir machen.“ – „Haha, das glaub ich dir nicht!“ – „Dann wirst du dich wohl anziehen und herkommen müssen, um dich zu vergewissern.“ – „Ich muss ja somit wieder laufen. Ach, du bist doof!“ Sie fügte noch einen Smiley hinzu, der mir die Zunge herausstreckte, worauf ich antwortete: „Ehrlich gesagt bin ich auch recht müde. Ich werde wahrscheinlich gleich noch ein wenig fernsehen und hoffen, dass ich nachher einschlafen kann.“ – „Viel mehr mache ich heute bestimmt auch nicht mehr. Schreibe mir ruhig, falls du nicht einschlafen kannst.“ – „Dann mache ich dich ja bestimmt wieder wach, das will ich ja auch nicht.“ – „Das wäre aber nicht schlimm, wirklich nicht. Ich lasse mein Handy einfach auf meinem Nachttisch liegen, damit ich es mitbekomme.“ – „Du bist lieb. Danke. Schlaf gut nachher!“ – „Du auch!“

Janine hatte ein gutes Timing, da sie mich völlig aus meiner Trauer herausgerissen hatte. Es tat mir definitiv wieder gut, weil ich damit nicht zu tief versinken konnte. Ich machte mich bettfertig und bemerkte, dass Petra sich offenbar schon schlafen gelegt hatte. Wir hatten es gerade kurz nach 20 Uhr, aber sie war offenbar auch völlig fertig, was mich nicht wunderte. Ich nahm mir vor, ihr mehr in den nächsten Tagen mit ihren Sachen zu helfen. Vielleicht lenkte mich das damit genug von der Trauer ab, vor allem in all den Momenten, in denen ich nicht mit Janine oder Tim zusammen Zeit verbrachte.

Ich nahm mir Abendbrot mit ins Zimmer und schaute entspannt auf meinem Bett fern. Währenddessen schrieb ich Tim noch eine Nachricht, weil ich mich mit ihm in den nächsten Tagen treffen wollte. Wir legten uns auf den Mittwoch der nächsten Woche fest, was ich gut fand. Wir hatten uns jetzt ein paar Tage mehr nicht gesehen, nachdem wir die letzten Wochen fast jeden zweiten Tag was zusammen unternahmen. Er wusste von den grausamen Geschehnissen noch nichts und ich wollte ihm dies nicht in einer Nachricht mitteilen… Mir ging es gerade schon dreckig genug. Irgendwann, während ich fern schaute, schlief ich auch einfach ein, was zumindest kein Problem war, weil sich der Fernseher automatisch abschaltete.