Kapitel 3

Schockstarre

Die ersten drei Wochen Sommerferien vergingen wie im Fluge, weil sie so entspannt waren. Meine Eltern hatten vor, mit mir für die letzten anderthalb Wochen an die Ostsee zu fahren, worauf ich mich unheimlich freute. Durch die Ferien konnte ich mit Tim sehr viel Zeit verbringen, weil einfach durch die Schule unsere Freundschaft etwas litt – wir hatten halt kaum Zeit für Treffen. So unternahmen wir in diesen Wochen eine ganze Menge Blödsinn und waren aufgrund der warmen Temperaturen einfach sehr viel draußen. Ohne Tim, der spätestens in diesen Ferien mein bester Freund wurde, wären meine Ferien sehr langweilig geworden. Die Kinder aus unserem Wohnhaus waren allesamt zu jung, als dass ich dort neue Kontakte hätte knüpfen können. Da ich zudem keinen sportlichen Aktivitäten nachging, entfiel damit auch eine Möglichkeit für neue Kontakte.

Auf diese Sommerferien war ich auch deswegen gespannt, weil ich schauen wollte, ob ein ernsthafterer regelmäßiger Kontakt mit Janine möglich war. Wir hatten uns vor gefühlt ewig vielen Wochen zum Vortrag getroffen und danach so viel Spaß auf dem Rummel gehabt, sodass ich eigentlich die Hoffnung hatte, dass unser Kontakt sich von allein intensivieren würde. Immerhin saßen wir nun die letzten Wochen im Unterricht zusammen und darauf würde ich im nächsten Schuljahr auch achten, da wir uns prächtig verstanden. Nichtsdestotrotz war der Kontakt in diesen ersten drei Wochen leider etwas gering, was aber daran lag, dass Janine in dieser Zeit mit ihren Eltern in die Berge fuhr. Ich beneidete sie ein wenig, aber unser Urlaub an die Ostsee stand nun auch bald bevor. Immerhin fand ich es schön, dass Janine und ich zwei Mal in diesen drei Wochen jeweils für eine halbe Stunde telefonierten, da ich sie auf ihrem Handy anrief. Praktisch war für mich die Tatsache, dass sie das gleiche Netz wie ich hatte, dadurch konnte ich sie kostenlos anrufen und mit ihr telefonieren, solange ich wollte. Diese Möglichkeit hatten meine Eltern und ich vor etwa einem Jahr eingerichtet, weil es einfach auch für sie eine praktische Variante war, mich erreichen zu können, wenn irgendwas ist – umgekehrt natürlich genauso.

Janine erzählte mir auch in einer ganzen Menge von Nachrichten, wie schön es bei ihr war und von den vielen Wanderungen, die sie machten. Meine Erzählungen waren vor allem auf die Treffen mit Tim beschränkt, was sie aber nicht störte. Neben den Telefonaten und Nachrichten, die wir austauschten, freute ich mich, als ich eine Postkarte von ihr erhielt. Sie hatte mir nichts davon gesagt, sodass die Überraschung umso größer war. Sie beschrieb mir in einigen wenigen Sätzen die Schönheit der Berge und kleinen Orte und schrieb dazu, dass sie sich darauf freuen würde, wenn sie mich wiedersehen könne. Ihr Interesse an einen regelmäßigen Kontakt war zumindest deutlich spürbar da.

Die Hälfte der Sommerferien war gerade in etwa rum und Janine seit drei Tagen wieder in unserer Stadt, als sie mir eine Nachricht schrieb: „Hey! Sag mal, hättest du Lust, wenn wir in den nächsten Tagen was unternehmen?“ Sie riss mich morgens damit aus dem Schlaf und ich schrieb nach einigen Minuten zurück: „Morgen … Du hast mich gerade wach gemacht. Ja, klar, lass uns was unternehmen, hast du denn eine Idee?“ – „Ich hätte Lust auf einen Spaziergang durch die Stadt, was hältst du davon? Und hast du wirklich bis eben geschlafen? Es ist elf Uhr!“ Ich lachte, als ich ihre Mitteilung las, und rief sie einfach an. Sie meldete sich bei dem zweiten Klingeln: „Hallo Marc.“ Von mir bekam sie ein total nuscheliges „Morgen.“ Im Anschluss gähnte ich, sodass sie meinte: „Du bist wirklich gerade erst aufgewacht, oder?“ – „Ja, na klar. Ich bin halt ein Langschläfer.“ – „Wann warst du denn im Bett?“ – „Ich glaube, es war etwa halb drei.“ – „So spät?“ – „Ja… wieso fragst du?“ – „Warst du denn gar nicht müde abends?“ – „Na ja, ich habe abends noch fern geschaut und der Film war so spannend… Da ist es halt so spät geworden.“ – „Sagen denn deine Eltern nichts?“ – „Nein, in den Ferien stört sie das nicht. Wenn wieder Schule ist, wollen sie das natürlich auch nicht. Aber da geh ich freiwillig meist gegen zehn ins Bett, sonst überlebe ich den nächsten Tag nicht.“ – „Na, das geht ja. Also, was hältst du von meinem Vorschlag?“ – „Klingt gut! Wann wollen wir uns treffen?“ – „Was hältst du von nächster Woche Donnerstag?“ Aktuell hatten wir Sonntag. „Klingt auch gut. 14 Uhr?“ – „Damit du ausschlafen kannst?“ – „Ja, genau.“ Ich schmunzelte, sie kicherte. Da sie offenbar unheimlich gute Laune hatte, meinte sie: „Ich komme dich auch abholen!“ – „Oh, ok. Ja, können wir so machen. Donnerstag, 14 Uhr. Dann würde ich sagen, dass wir in die Innenstadt fahren und von dort aus ja einen Spaziergang machen können, oder?“ – „Ja, prima. Ich freue mich!“ – „Ich mich auch. Bis Donnerstag!“ – „Ja, ciao!“ Ich war fasziniert von ihrer wundervoll guten Laune und freute mich wirklich darauf. Ich freute mich vor allem aus zweierlei Gründen: Erstens, weil sie, wie sie mit ihrer Postkarte schon ankündigte, von sich ausein Treffen vorgeschlagen hatte und zweitens, weil sie offenbar richtig gute Laune hatte, wahrscheinlich, weil eben Ferien waren.

Zwei Tage vergingen, wir hatten mittlerweile Dienstag, als meine Mutter morgens gegen acht leise in meinem Zimmer reinkam und mich sanft kurz weckte. Ich schaute sie müde an und sie fragte: „Wir fahren in einer Viertelstunde los, Oma vom Bahnhof abholen. Du warst nicht sicher, ob du so früh mitkommen willst… Aber ich denke, du willst noch weiterschlafen, oder?“ – „Ja… Ich war glaube ich einfach zu spät im Bett.“ Sie lächelte und meinte in ihrer typischen Art: „Ich sage dir die ganze Zeit, du sollst in deinen Ferien nicht so spät ins Bett gehen, dann kommst du morgens auch früher auf die Beine.“ Wir schmunzelten und ich sagte: „Aber ich komme heute Mittag auch zu Oma, weil ich sie ja auch wiedersehen will.“ – „Ok, alles klar. Schlaf schön weiter.“ Sie gab mir einen sanften Kurs auf die Stirn und ging aus meinem Zimmer. Wenige Momente später schlief ich auch schon wieder ein.

Gegen zehn etwa stand ich endgültig auf. Nach einem entspannten Frühstück ging ich noch kurz einkaufen, weil meine Eltern mir einen kleinen Einkaufszettel dagelassen hatten. Während meines Einkaufs klingelte plötzlich mein Smartphone und meine Oma rief mich an. Als ich heranging, fragte sie mich mit merkwürdig klingender Stimme, ob ich gerade zu Hause war. Ich sagte ihr, dass ich gerade im Supermarkt stand und in ein paar Minuten wieder zu Hause sein würde. Sie bat mich darum, dort zu warten. Als ich sie nach dem Grund für diese merkwürdigen Planungen fragte, wiederholte sie ihre Bitte nur ein zweites Mal und legte dann sehr zügig auf. Ich verstand nicht, was diese merkwürdige Aktion sollte.

Als ich wieder zu Hause war und alles verstaut hatte, machte ich mich kurz frisch und hörte, dass plötzlich die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Meine Eltern schrieben mir zwar nicht, dass sie mit meiner Oma bereits bei ihr zu Hause angekommen waren, aber da sie bereits um kurz neun am Hauptbahnhof ankommen sollte, sollten sie eigentlich bereits bei ihr sein und nicht bei uns. Oder brachten sie Oma doch als Überraschung mit zu Besuch bei uns? Aber warum hatte mich Oma angerufen und welchen Sinn ergab das, dass ich zu Hause warten sollte? Eigentlich hatte Oma uns bereits seit Jahren nicht mehr besucht, weil sie nicht mehr ganz so gut zu Fuß war. Sie erledigte zwar ihre Einkäufe trotz allem noch selbst und bemühte sich darum, regelmäßige Spaziergänge zu machen, aber meist entlasteten wir meine Oma trotzdem mit so vielen Dingen, wie es nur ging.

Ich ging daher ins Wohnzimmer, als meine Tante Petra und meine Oma plötzlich ins Wohnzimmer kamen. Beide wirkten tieftraurig und ich verstand so gar nicht, was hier gerade passierte. Petra sagte zu mir: „Marc, setz dich mal.“ Verwirrt setzte ich mich auf die Couch und fragte: „Was ist los?“  Petra entgegnete mir darauf in einem völlig schrägen Ton: „Marc… Marc, hör mal.“ – „Was ist denn los?“ – „Marc… Deine Eltern, sie… sie sind nicht mehr am Leben. Sie wollten Oma abholen… und sie haben wegen eines Staus wohl angehalten. Irgendjemand ist ihnen von hinten reingefahren!“

Mein Leben blieb in diesem Augenblick vollständig stehen. Ich bekam rein gar nichts mehr mit. In meinem Innern verkrampfte sich alles, es ging rein gar nichts mehr. Ich brach komplett in Tränen aus… bis mein Sichtfeld sich immer mehr verkleinerte und mir schwarz vor Augen wurde.

Ich wachte im Krankenhaus wieder auf und fühlte mich körperlich völlig schwach, als war ich die letzten 24 Stunden durchgerannt. Mir war so schlecht, dass ich mich fast übergeben musste. Selbst sitzen konnte ich kaum, so schlecht ging es mir. Petra und meine Oma saßen in meinem Zimmer, das ich aktuell glücklicherweise für mich allein hatte. Ich sah beiden an, wie dreckig es ihnen ging, zumal sie sich offensichtlich massive Sorgen um mich machten. Nachdem eine Schwester und ein Arzt sich nach meinem Befinden erkundigten und ich für das Abendbrot etwas bestellen konnte, erklärte mir Petra, dass ich für wenige Stunden einfach völlig außer Gefecht war und sie daher schon so lange hier bei mir im Zimmer waren…

Petra sprach völlig offen mit mir über die Möglichkeiten, die mir jetzt blieben. Von all den Möglichkeiten fand ich die Variante, mit Petra zukünftig zusammen zu leben, am besten – allein oder in einer WG mit anderen Jugendlichen wollte ich nicht leben und bei meiner Oma konnte ich eher nicht bleiben, weil es ihr gesundheitlich eben nicht mehr so gut ging und ich einfach wusste, dass ich ihr nicht in dem Maße helfen konnte, wie sie das vermutlich brauchte, ohne meine schulischen Leistungen beispielsweise zu gefährden. Oma sagte in dem gesamten Gespräch nichts, was mich irgendwie wunderte, es sah so aus, als würde sie noch etwas Weiteres bedrücken. Kaum, dass Petra fertig war, erzählte meine Oma etwas, was mir endgültig den Boden unter den Füßen wegzog.

„Es gibt da theoretisch noch eine weitere Möglichkeit, die wir bisher nicht genannt haben.“ – „Äh… welche soll es denn noch geben? Ich werde bestimmt nicht zu Onkel Steffen ziehen, ich will hier nicht weg!“ – „Nein, das würde gar nicht in Frage kommen. Marc, es wird dringend Zeit, dass du etwas erfährst, was wir alle bisher vor dir verborgen gehalten haben.“ Ich schaute völlig irritiert nacheinander die beiden an. Petra übernahm plötzlich das Gespräch: „Deine Eltern waren nicht ganz ehrlich zu dir, denn…“ – „Nun sag schon!“, sprudelte es plötzlich aus mir heraus, weil ich irgendetwas Ungutes erwartete. Ich erwartete ein schmutziges Familiengeheimnis zum Beispiel, welches so heftig war, dass sie jetzt erst in dieser furchtbaren Situation mit der Sprache rausrücken wollten. „Dein Vater war nicht dein leiblicher Vater. Matthias war nur dein Stiefvater.“ Ich entgegnete entsetzt darauf: „Er war… was?“ Meine Oma sagte: „Deine Mutter und Matthias wollten es dir mit 18 sagen… Wir wollten das nicht länger geheim halten, weil du die Wahrheit verdient hast. Es bleibt uns jetzt auch keine andere Wahl mehr, du musstest es jetzt erfahren.“ Matthias war nicht… mein Vater? Was zur Hölle?

Ich ließ mich nach hinten fallen und schloss kurz meine Augen, weil ich mir verinnerlichte, was sie mir dort gerade erzählten… Derjenige, von dem ich mein ganzes Leben lang bisher als meinen Vater ausging, war das gar nicht? Sie hatten mir all die vielen Jahre etwas vorgelogen? Beide machten bei der ganzen Lügerei auch noch mit? Sie schwiegen sehr lange, was mir in diesem Moment sehr recht war, da ich diese Information einfach eine ganze Weile sacken lassen konnte. Plötzlich brach es aus mir heraus: „Warum hat mir all die Jahre kein Schwein was davon gesagt?“ Eigentlich wollte ich mich gar nicht vulgär ausdrücken, aber es rutschte mir einfach so raus, da ich aufgebracht war. Beide waren von meiner Wortwahl nicht geschockt, sondern machten eher den Eindruck, dass sie sich schuldig fühlten, auch wenn ich den beiden weniger den Vorwurf machte als meinen Eltern… oder zumindest den Eltern, von denen ich bisher glaubte, dass sie es waren.

„Habt ihr noch etwas, was ihr mir erzählen wollt, wenn wir schon dabei sind? Wurde mir noch irgendetwas verschwiegen?“ Ich war vor allem wütend und wusste, dass ich darüber ein paar Stunden würde nachdenken müssen. Meine Oma meinte: „Marc, deine Eltern haben sich einfach nicht getraut, dir das zu erzählen und jetzt nach den ganzen Sachen müssen wir mit dir drüber reden.“ – „Danke… Danke, dass ihr es mir überhaupt gesagt habt.“ Ich beruhigte mich ein wenig und fragte: „Was hat das alles jetzt zu bedeuten?“ Oma sagte: „Deine Mutter hatte das alleinige Sorgerecht für dich, dein leiblicher Vater hat keinerlei Rechte. Aber er wurde jetzt sicher auch schon informiert, dass deine Mutter…“ Mir liefen die Tränen hinunter, auch wenn ich nichts sagen konnte. Petra ergänzte: „Er könnte theoretisch auch den Vormund für dich übernehmen, bis du 18 bist. Spätestens mit 18 hätte auch ich keine Vormundschaft mehr für dich, weil du dann als erwachsen giltst. Ich weiß es nicht, aber es wäre auch denkbar, dass du bei ihm leben könntest.“ – „Aber ich kenne ihn doch gar nicht! Was weiß ich, was er für ein Mensch ist! Ich möchte mit dir zusammenleben, auf jeden Fall.“ Petra lächelte mich an, was mir großen Trost spendete. Ich war froh, dass es sie gab und dass sie in diesem Moment neben meiner Oma für mich da war. Mit Petra hatte ich besonders in den letzten Jahren sehr viel und sehr regelmäßigen Kontakt, was auch dazu führte, dass ich immer wieder mal bei ihr über Nacht blieb und einfach generell einige Aktivitäten mit ihr zusammenmachte. Sie war für mich bereits in den letzten Jahren ein wichtiger Teil meiner Familie geworden. Meine Oma liebte ich genauso, aber mehr Verbindung hatte ich zu Petra. „Deine Mutter hat vor über zehn Jahren Dokumente aufsetzen lassen, falls dieser Tag heute jemals eintreten sollte. Sie hat darin bestimmt, dass ich nach Möglichkeit dich großziehen soll. Du bist in meinen Augen schon erwachsen, aber ich meine natürlich, bis du 18 bist… Du verstehst schon.“ – „Oha, aber warum… hat sie meinen… Vater nicht gewählt?“ – „Er war früher ein ziemlicher Draufgänger, hat einigen Mist gebaut und war damals einfach für so etwas wie Familie nicht zu haben.“ – „Wann haben die beiden sich getrennt?“ – „Du warst gerade mal ein Jahr alt. Er war einfach zu jung, um wirklich Familie gründen zu können. Das alles hat er kaum ernst genommen und die beiden haben sich so oft gestritten, bis sie sich getrennt haben.“ – „Das klingt gar nicht gut.“ – „Ich habe aber auch schon seit einigen Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Deine Mutter, soweit ich weiß, aber auch nicht. Wir wissen also nicht, wie er heutzutage ist. Aber es könnte womöglich sein, dass du entweder auf ihn triffst oder zumindest ein paar Informationen erhältst, falls du wirklich mal Kontakt haben wollen würdest.“ – „Ich muss über das alles erst mal nachdenken… Das ist einfach alles zu viel. Aber ich bin mir absolut sicher, dass ich mit dir zusammenleben will. Auf keinen Fall mit ihm. Ich kenne ihn nicht.“ – „Dann solltest du das nachher oder morgen dem Jugendamt mitteilen – oder wer auch immer da kommt. Es haben schon Leute nach dir gefragt. Du wirst natürlich befragt, was du möchtest, auch wenn du das final nicht selbst entscheiden darfst.“ – „Ich darf das nicht entscheiden?!“ – „Mach dir keinen Kopf, das Gericht hört bestimmt darauf, was du möchtest. Aber das muss alles seinen offiziellen Weg gehen…“ Ich schüttelte nur den Kopf und wusste nicht mehr, wo mir derselbige stand.

Ein weiterer Arzt kam und untersuchte mich erneut kurz, während Petra und Oma kurz nach draußen gingen. Direkt im Anschluss kam mich wie befürchtet ein Mitarbeiter des Jugendamts direkt besuchen, den ich als absolut unsensibel empfand. Ich war phasenweise so wütend in dem Gespräch mit dem Mitarbeiter, dass ich ihn am liebsten angesprungen wäre, unabhängig davon, dass meine Beine aus Pudding waren, weil es mir so dreckig ging und ich unbedingt was essen musste, um wieder zu Kräften zu kommen. In meinem Leben hatte ich selten einen unfreundlicheren Menschen als diesen Typen erlebt.

Petra und meine Oma kam im Anschluss wieder ins Zimmer, die Zweitgenannte verabschiedete sich aber nach Hause, weil sie körperlich auch schon sehr erschöpft war. Mir taten sich Fragen auf, die mir Petra direkt beantworten musste. Ich war zwar körperlich völlig am Ende, aber mein Kopf ratterte nun so richtig. Dass Petra meine Tante und meine Oma wirklich meine Oma war, konnte ich schlussfolgern, weil beide mütterlicherseits waren. Bisher ging ich davon aus, dass ich väterlicherseits keine weiteren Verwandten besaß, aber das konnte sich nun schlagartig ändern. „Wäre es für dich… wirklich ok, wenn wir zusammenwohnen?“, fragte ich Petra behutsam. Sie lächelte mich an und meinte: „Ja… Na klar. Wir schaffen das schon.“ Sie wischte sich für einen Moment weitere Tränen weg und fragte mich: „Marc, es gibt noch etwas, was wir entscheiden müssen. Es geht um eure bisherige Wohnung. Möchtest du, dass ich bei euch einfach einziehe?“ Obwohl faktisch nur noch ich allein die Wohnung besaß, sprach Petra weiterhin von Mehrzahl, als wären meine Eltern noch da. „Würdest… du das machen? Kannst du das denn einfach so?“ – „Ich verdiene genug, das könnte ich schon bezahlen… Meine alte Wohnung muss ich halt auflösen, beide Wohnungen zusammen würden nicht gehen… und ich muss schauen, was ich mit meinen gesamten Sachen mache. Du… musst dich nur daran gewöhnen, dass ich teilweise nachts nicht da bin, weil ich im Schichtdienst arbeite und vormittags vermutlich öfters schlafe.“ – „Das wird schon gehen… Ist das denn für dich wirklich ok?“ – „Ja, natürlich… Ich hoffe, dass das mit dem Vermieter eurer Wohnung so einfach geht, ich hoffe einfach mal, dass wir das so ändern können, dass ich eure Wohnung miete… Aber das bekommen wir sicher alles hin.“ Nach einigen stillen Sekunden fragte sie mich: „Gib mir kurz zwei Minuten, ja?“ Sie verließ kurz den Raum und ich hörte nur sehr leise, wie sie offenbar mit jemandem telefonierte und dabei sehr weinte.

Ich bekam die Inhalte leider nicht mit, aber irgendwie interessierten sie mich auch nicht sonderlich. Meine Gedanken drehten sich um meine Eltern… Sie waren nicht mehr da. Ich… ich konnte nie wieder mit ihnen reden. Sie waren einfach weg. Totgefahren von irgendeinem Arschloch. Ich… konnte es nicht fassen, ich bekam es nicht in meinen Kopf hinein. Heute Morgen weckte mich meine Mutter noch mal… Hätte… ich es doch nur irgendwie verhindern können! Warum … warum sie? Warum hätte es nicht jemand anders treffen können?Wäre ich doch nur mit aufgestanden und sie hätten wegen mir später losfahren müssen! Man, verdammt!

Petra kam wieder in mein Zimmer. „Hör mal… Du musst heute hier noch über Nacht bleiben, mindestens bis morgen, der Arzt möchte dich noch ein wenig untersuchen. Ist das ok für dich?“ – „… Ja, es wird schon gehen. Ich habe gerade keine Kraft, ich kann nicht richtig sitzen.“ Ich sah die Sorge in ihren Augen und sie meinte: „Morgen darfst du aber wieder raus, wenn es dir soweit wieder vernünftig körperlich geht. Ich würde dich morgen Vormittag abholen und nach Hause bringen… Ok?“ – „Ja, in Ordnung.“ – „Und wenn du mir deinen Schlüssel leihst, könnte ich jetzt einige Dinge für dich aus der Wohnung holen, dass du zumindest was anderes zum Anziehen hast.“ Ich musste einige Sekunden darüber nachdenken, ob ich den Schlüssel aus der Hand gab. Irgendwie hatte ich in diesem Moment Angst, dass ich auch die Wohnung verlieren könnte… die letzten wirklichen Erinnerungen an meine Eltern. Letztlich gab ich Petra aber den Schlüssel, weil ich wusste, dass sie völlig auf meiner Seite stand und sie genauso litt wie ich.

Etwa zwei Stunden später kam sie wieder mit Kleidung für die Nacht und für den nächsten Tag. Zusätzlich hatte sie alles Mögliche an Süßkram gekauft, um mich wahrscheinlich ein wenig abzulenken, aber auch, um meinen Körper vielleicht ein wenig auf Trab zu bringen. In den zwei Stunden hatte ich neben weiteren kleineren Untersuchungen von verschiedenen Ärzten auch ein Abendessen bekommen, sodass es mir körperlich zumindest schon wieder etwas besserging. Ich bemerkte, dass langsam meine Kräfte zurückkamen. „Wenn etwas ist, wenn du dich unwohl fühlst oder so, kannst du mich jederzeit auf dem Handy erreichen, ok? Ich komme auch in der Nacht hergefahren, wenn du Gesellschaft brauchst. Das ist völlig ok. Es ist mir auch scheißegal, ob die hier einen Aufstand machen… glaub mir, die werden mich zu dir lassen, wenn ich das will.“ Ich konnte mir ein vorsichtiges Grinsen nicht verkneifen, so überspitzt, wie sie das absichtlich in diesem Moment formulierte. Diesen Humor mochte ich sehr an ihr. „Danke.“ Bis in den späten Abend hinein kamen im regelmäßigen Rhythmus die Pflegerinnen und Pfleger, um nach mir zu schauen und mich abzulenken. Auch ein Arzt schaute weit häufiger vorbei, als er es vermutlich musste. Einige setzten sich zu mir und erzählten viel aus ihrem eigenen Leben. Sie hörten mir lange zu und einer spielte mit mir sogar absichtlich alberne kleine Kartenspiele, sodass ich trotz meiner tiefen Traurigkeit und Erschöpfung auf andere Gedanken kam. Ich war allen im Krankenhaus so sehr dankbar und wusste, dass ich das niemals vergessen würde.

In der darauffolgenden Nacht schlief ich insgesamt gesehen vielleicht drei oder vier Stunden. Ich wachte ständig auf, weil ich im Traum das miterlebte, was meine Eltern vermutlich erlebt hatten. In dieser Nacht und in meinen Träumen wünschte ich mir, einfach mit im Wagen gesessen zu haben, damit ich ein Leben ohne sie nicht führen musste. Mein Leben war innerhalb von wenigen Stunden zerstört.

Am nächsten Vormittag untersuchten mich die Ärzte ausgiebig und entließen mich tatsächlich offiziell. Ich wusste nicht, ob ich wirklich entlassen werden wollte, weil ich Angst vor dem hatte, was mich „draußen“ erwartete. Hier im Krankenhaus fühlte ich mich auch durch die Pflegekräfte noch leicht behütet, aber ich hatte die Befürchtung, dass ich trotz Petra nun vollständig auf eigenen Beinen stehen musste. Immerhin ging es mir körperlich wieder so vernünftig, dass ich allen Dingen wie bisher nachgehen konnte. Ich war zumindest wieder zu Kräften gekommen. Petra holte mich wie verabredet ab und ihre Nacht war vermutlich wie meine – nicht wirklich vorhanden. Sie fuhr mit mir in einem Taxi nach Hause, weil sie offenbar wirklich fast nicht geschlafen hatte und daher sogar die öffentlichen Verkehrsmittel nicht nutzen wollte.

Als wir in „meiner“ Wohnung ankamen, ging ich, ohne auf Petra zu achten, durch die Wohnung und… saugte alles genau in mich auf. Jedes Dokument, jedes liebevolle Objekt meiner Eltern, jedes Bild… alles. Petra ließ mich glücklicherweise einfach machen und als ich nach knapp zwei Stunden damit fertig war, fragte sie mich: „Marc, hör mal… Wenn du möchtest, dass ich hier mit einziehe, kommen von mir viele Sachen mit dazu. Ich räume vieles von mir in den Keller oder werfe es weg, aber manche Sachen… werden hier auch ihren Platz finden müssen. Ist das wirklich ok für dich?“ Auch darüber dachte ich lange nach und nickte vorsichtig den Kopf. „Wenn du nicht möchtest, dass ich etwas Bestimmtes verändere, sagst du mir das bitte immer sofort, ja? Du brauchst keine Sorge zu haben, ich werde natürlich keines der Bilder oder so entfernen… Das bleibt alles, wo es ist, ganz, wie du möchtest.“ – „Danke.“ – „Wenn du möchtest, können wir das so machen, dass du mir vorher einfach schon sagst, was alles so bleiben soll. Nenne mir einfach alles oder schreib einfach alles auf. Ich verändere daran gar nichts.“ Ich nickte ein zweites Mal und ging in mein Zimmer. Dort hielt ich es aber nur wenige Minuten lang aus, sodass ich Petra Bescheid gab, dass ich nach draußen gehen würde. Sie machte sich sichtbar direkt wieder Sorgen, sodass ich zu ihr sagte: „Ich bin in zwei oder drei Stunden wieder da… Ich… muss einfach nur raus, ich kann hier gerade nicht bleiben. Sorry.“ – „Ist schon in Ordnung, geh ruhig. Soll ich mitkommen?“ – „Nein, musst du nicht. Ich brauche gerade einfach ein bisschen Zeit für mich. Mein Smartphone habe ich dabei. Keine Sorge, ich bin erreichbar, wenn was ist.“ Sie nickte. Ich verließ die Wohnung und lief draußen einfach ziellos umher. Ich spürte gar nicht, dass ich etliche Kilometer einfach nur durch die Gegend lief, ohne etwas zu trinken oder zu essen. Erst nach über zwei Stunden bemerkte ich ein ähnliches Gefühl wie am gestrigen Tag, als meine Beine langsam anfingen, regelrecht weich zu werden… Ich suchte mir den nächsten Supermarkt und kaufte mir etwas zu essen und trinken, auch wenn ich mich zwingen musste, es wirklich zu verzehren. Hunger hatte ich keinen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich etwas zu mir nehmen musste. Ich hatte bereits das Frühstück morgens kaum angerührt, weil ich nichts herunterbekam.

Da ich nicht wusste, was ich nach dem Essen machen wollte, ging ich wieder nach Hause. Petra hatte zumindest ein paar Sachen von sich hingebracht. Im Flur, der bei der Wohnungstür war, stand eine große Reisetasche von ihr. Ich betrachtete diese Tasche lange und mir wurde bewusst, dass sich zwangsläufig in der Wohnung so manches ändern würde. Ich stand dort eine ganze Weile und starrte im Gedanken versunken auf die Tasche… Ich würde damit leben müssen, dass sich die Dinge verändern. Es ging nicht anders. Immerhin blieb mir noch der Trost, dass ich weiterhin in der Wohnung von meinen Eltern und mir würde leben können. Allein dieser Gedanke machte die Geschehnisse zumindest minimal erträglicher.

Um das Zusammenleben mit Petra machte ich mir keine Sorgen. Sie war die Schwester meiner Mutter und genauso liebevoll wie sie. Es würde sicherlich komisch werden, aber ich hatte dem Vorschlag, mit ihr zusammen zu leben, auch deswegen so schnell zugestimmt, weil mein Gefühl mir sagte, dass es funktionieren würde. Die Zeit, die ich in den letzten Jahren mit ihr verbracht hatten, machte meine Entscheidung um ein Vielfaches leichter.

Ich verhielt mich leise, da sie im Wohnzimmer auf der Couch tief und fest schlief. Damit sie sich zumindest keine Sorgen machte, sobald sie wieder aufwachte, schrieb ich ihr einen Zettel: „Ich bin wieder zu Hause und bin in meinem Zimmer. Ich wollte dich nicht wecken.“ Ich legte ihr leise und vorsichtig diesen Zettel auf den Wohnzimmertisch und schlich mich in mein Zimmer. Mir wurde klar, dass ich mich irgendwie ablenken musste, sodass ich meinen PC einschaltete und sinnlos ein Spiel anmachte. Ich konzentrierte mich nicht aufs Spiel, weil ich es vor Müdigkeit gar nicht konnte, aber ich bekam immerhin ein wenig Zerstreuung. Petra schlief, nachdem ich wieder zu Hause war, noch etwas mehr als drei Stunden bis zum Abend und sie klopfte an meiner Tür, bevor sie hinein kam… wie meine Eltern.

Ich schaute sie an und sie fragte mich: „Seit wann bist du denn wieder da? Ich hatte das gar nicht mitbekommen.“ – „Ich bin schon seit drei Stunden wieder zu Hause.“ – „Entschuldige, du hättest mich ruhig wecken können.“ – „Ist schon in Ordnung, ich wollte dich bewusst nicht wecken.“ – „Hast du denn Hunger oder so was? Ich würde uns irgendwas Warmes machen … oder bestellen, wie du magst.“ – „Ich habe eigentlich keinen Hunger, aber ich glaube, ich sollte trotzdem was essen. Wenn du magst, kann ich dir auch in der Küche helfen, dann müssen wir zumindest nicht bestellen.“ – „Das klingt doch gut. Wir können auch noch zum Supermarkt, wenn du was Bestimmtes möchtest.“ – „Ich glaube, wir haben eigentlich sehr viel gerade hier, das wird bestimmt schon reichen.“ Sie lächelte sanft – ich auch. Ich war dankbar für die Harmonie, die wir in diesem Moment einfach hatten.

In der Küche machten wir zusammen ein warmes Essen, was mir unheimlich guttat. Nach dem Essen wünschte ich Petra eine gute Nacht und sie machte es sich im Wohnzimmer gemütlich, während ich wieder in mein Zimmer ging. Ich legte mich einfach schlafen und ließ den Fernseher nebenherlaufen, was ich sonst eigentlich nie tat. Immerhin gelang es mir, auch aufgrund meiner totalen Erschöpfung, recht schnell einzuschlafen.

Am nächsten Vormittag erwachte ich gegen elf Uhr – und das Geschehene war direkt wieder präsent. Petra hatte mir eine Nachricht geschrieben, dass sie noch ein bisschen Kleidung aus ihrer Wohnung holen würde und offenbar ein paar organisatorische Dinge erledigen wollte. Sie ließ außerdem Geld auf dem Flurschrank liegen, falls ich mir spontan etwas zu essen oder zu trinken kaufen wollen würde. Außerdem fügte sie hinzu, dass ich sie jederzeit anrufen könne, falls irgendetwas sei.

Ich machte mir Frühstück und überlegte, wie ich diesen Tag herumbekommen könnte. Auf Rausgehen hatte ich eigentlich schon recht große Lust, gerade, weil das Wetter optimal war: Die Sonne schien und es war richtig warm, ohne zu warm zu sein. Mein Frühstück ging sehr lange und ich spürte immerhin, dass ich zumindest wieder ein Hungergefühl haben konnte… immerhin. So etwas wie Appetit verspürte ich auch weiterhin nicht, aber ich erahnte, dass ich dieses Gefühl auch längerfristig wohl nicht mehr besitzen würde.

Ich verbrachte einige Zeit vor meinem neuen PC, den ich erst zum Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Überall hingen Gedanken an sie, es war furchtbar. Als ich beim sinnlosen Zeitvertreib mit einem Spiel war, klingelte es plötzlich an der Haustür. Ich war völlig erschrocken und dachte instinktiv für wenige Sekunden, dass meine Eltern plötzlich unten stehen würden und einfach keinen Schlüssel dabei hatten … Aber nein, es würde nie wieder passieren. Als es ein zweites Mal klingelte, ging ich trotz allem zügig zur Haustür, weil es Petra war, sie hatte ja keinen Schlüssel und war daher auf mich angewiesen.

Ich öffnete direkt per Schalter die Hauseingangstür. Als der Aufzug in der dritten Etage ankam, bemerkte ich das Geräusch von Schuhen mit Absätzen. Petra lief eigentlich nicht mit solchen Schuhen, soweit ich wusste, sodass ich erschrocken feststellte, wen ich vergessen hatte, als sie vor mir stand: Janine!