Kapitel 2

Ein erstes Treffen

„Damit hast du sicherlich Recht.“, sagte ich und aß mein Essen weiter. „Außer Sabrina habe ich aber ehrlich gesagt allgemein keine echten Freunde. Wobei … na ja.“ Ich schaute sie fragend an und sie meinte: „Na ja… Tim und du … ihr seid für mich auch so was wie Freunde.“ Ich war etwas überrascht, das so von ihr zu hören. Da wir bisher nur in der Schule Kontakt hatten, hatte ich nicht erwartet, dass sie mich als Freundschaft betrachten würde. Ich entgegnete ihr: „Ich… weiß jetzt nicht, wie ich das am besten ausdrücke, aber…“ – „Ja?“ – „Das Verhältnis zu dir ist in jedem Fall schon anders, als ich es zu den meisten anderen Leuten aus der Klasse habe.“ – „Wie meinst du das genau?“ – „Ich mag dich echt gern, weil du eben auch nicht darauf abfährst, was die Cliquen bei uns machen.“ Sie wirkte glatt etwas verlegen und ich sagte: „Freunde sind für mich Menschen, mit denen ich mich gut verstehe und mit denen ich regelmäßiger was unternehmen kann.“ Sie ließ diese Aussage ein paar Sekunden sacken und meinte in sehr leiser Stimme: „Ich verstehe…“ Da ich mir vorstellen konnte, was in ihr vorging, ergänzte ich eine Frage: „Was hältst du davon, wenn wir heute noch etwas unternehmen?“ – „Wir…? Heute?“ – „Ja, na klar. Wir haben nicht mal halb fünf, da hätten wir doch heute noch genug Zeit.“ – „Also, ähm, ich weiß nicht.“ – „Hast du denn heute noch was zu erledigen?“ – „Nein, soweit nichts weiter.“ – „Hättest du denn Lust?“ – „Also, ich bin gerade ziemlich überrascht… Aber ja, klar, ich hätte Lust, noch was zu unternehmen. Was hast du dir denn vorgestellt?“ – „Wie wäre es mit dem Volksfest auf dem Festplatz?“ – „Mhm… Klar, warum nicht?“ – „Ich bin natürlich auch für andere Vorschläge offen.“ – „Nein, nein, ich denke, das passt ganz gut. Aber wundere dich nicht, die harten Sachen fahre ich nicht!“ Ich schmunzelte und sie fragte sich, warum, sodass ich einfach sagte: „Ich musste gerade lachen, weil du da genauso wie ich bist. Keine Bange, ich fahr auch einiges nicht. Ich mag aber vor allem die Atmosphäre auf den Festen.“ – „Ok, das beruhigt mich, also muss ich kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich einiges nicht mitfahren würde. Ich habe abgesehen davon auch nicht viel Geld dabei, dadurch könnte ich auch nicht so viel mitmachen.“ – „Ist doch kein Problem.“ Wir aßen in Ruhe weiter und gingen dabei nochmal ein paar wenige Details des Vortrages durch, vor allem auch hinsichtlich der Frage, wer von uns welche Vortragsteile präsentierte.

Direkt im Anschluss schrieb Janine ihrer Mutter, dass sie eher erst zum Abend zu Hause sein würde, weil sie ihr einfach Bescheid geben wollte. Sie räumte ihre Schulsachen zusammen und wir gingen in den Flur. „Ich bin mit Janine noch für ein paar Stunden draußen.“, rief ich meiner Mutter zu, die gerade in der Küche herumwuselte. „Klar, mach das!“, entgegnete sie uns und verabschiedete sich aus der Entfernung von Janine.

Als wir ein paar Minuten später bereits im Bus saßen, unterbrach ich die anhaltende Stille, die sich zwischen Janine und mir aufgebaut hatte. Ich: „Sag mal, was machst du allgemein gerne? Was hast du für Hobbys? Ich kann mir nur daran entsinnen, dass du sagtest, dass dir Tanzen unheimlich Spaß machst und du in einer Tanzschule warst.“ – „Ui, das weißt du noch? Ja, ich war für über ein Jahr regelmäßig dort, aber mittlerweile fehlt mir einfach die Zeit dazu, weil ich so viel für die Schule mache. Ich war aber auch ehrlich gesagt nicht gut genug für die Tanzschule, ich bin irgendwann einfach nicht mehr so richtig mitgekommen und das wurde mir auch zu schwer. Vor allem war ich immer zu nervös, wenn ich in einem Turnier tanzen sollte…“ – „Du hast sogar in Turnieren getanzt?“ – „Ja, ich habe es zumindest versucht. Aber ich habe einfach oft fast alles vergessen, was ich mir vorgenommen hatte… Das war mir so peinlich, dass ich irgendwann mit dem Tanzen aufgehört habe.“ – „Und wenn du auf Turniere verzichtet hättest und einfach so weitergemacht hättest?“ – „Ja, ich hatte es überlegt. Ich hatte einfach wegen der Schule so wenig Zeit dafür.“ – „Das ist schade, aber ich kann es schon verstehen.“ Janine fragte mich: „Machst du eigentlich nebenher Sport?“ – „Ich habe eine Zeit lang Badminton gespielt, aber das ist schon über zwei Jahre her. Mir macht Badminton unheimlich Spaß, aber ich hatte das Problem, dass ich irgendwann einfach nicht mehr besser geworden bin. Der Trainer war zudem auch sehr alt und hat selbst auch nicht mehr gespielt, sondern nur erklärt, wie man wann am besten schlagen und sich bewegen sollte.“ – „Badminton klingt aber auch cool, auch wenn ich glaube, dass das ganz schön anstrengend ist, oder?“ – „Es ist sicherlich genauso anstrengend wie Tanzen, nur die Bewegung geht vor allem auf den Arm und natürlich auch sehr auf die Beine.“ Wir schmunzelten.

Wir kamen auf dem Jahrmarkt an und schlenderten durch die ersten paar Gänge. Es war leider noch hell draußen – ich fand Jahrmärkte abends echt faszinierend schön -, aber trotz allem bemerkte ich, dass Janine innerhalb weniger Minuten etwas auftaute, was mein Ziel war. Die Idee mit dem Jahrmarkt und der Unternehmung mit Janine kam mir absolut spontan, weil ich Janine mochte und nach unserem Gespräch vorhin den Eindruck gewann, dass sie sich regelmäßiger mit mir treffen wollen könnte. Vor allem wollte ich aber wissen, wie sie als Mensch wirklich war. In der Schule trug sie fast durchweg ihre ernste Fassade, aber bereits in den ersten paar Minuten auf diesem Rummel bemerkte ich, dass Janine viel lockerer wurde.

Wir holten uns jeweils einen Kakao und als wir um einen Stehtisch herumstanden, fragte sie mich: „Darf ich dich was fragen?“ Ich lächelte und meinte: „Du musst mich nicht jedes Mal um Erlaubnis fragen. Frage mich ruhig, was du möchtest.“ – „Stimmt, du hast Recht. Entschuldige.“ – „Und entschuldigen musst du dich für solche kleinen Dinge auch nicht.“ Ich lachte nun kurz und steckte sie damit an, sodass ich sie etwas herausfordernd anschaute und fragte: „Was wolltest du nun machen?“ – „Ich wollte dich …“ Sie unterbrach sich kichernd, weil sie bemerkte, welche Falle ich ihr stellte. Sie führte fort: „Also, mit wem aus der Klasse hast du eigentlich aktuell engen Kontakt?“ – „Vor allem mit Tim.“ – „Was ist mit den anderen?“ – „Da gibt es keine anderen. Neben Tim bist du die Einzige, mit der ich mich in den letzten Monaten öfters ausgetauscht habe.“ – „Aber ich sehe dich so oft in den Pausen mit den anderen reden?“ – „Ja, ich rede mit einigen öfters mal. Aber sie erfahren von mir wenig Privates. Das geht schon seit bestimmt einem Jahr, wenn nicht länger.“ – „Oh, das wusste ich gar nicht. Warum das?“ – „Weil ich die meisten einfach nur sehr oberflächlich finde. Und auch, weil ich es nicht in meinen Kopf hineinbekommen kann, warum die Idioten seit über zwei Jahren so mit dir umgehen.“

In diesem Moment wartete ich auf eine Frage von Janine, die sie aber nicht stellte: Warum hatte ich nichts gegen ihre Demütigungen unternommen? Diese Frage hatte ich mir selbst bereits in den letzten Monaten immer wieder gestellt und kam zu der unbefriedigenden Antwort, dass ich selbst nicht auch noch ins Kreuzfeuer der Idioten geraten wollte. Diese Haltung hatten recht viele in der Klasse und ich war mir bei einigen sicher, dass sie dieses Mobbing – letztlich war es das in meinen Augen – auch schon lange satthatten.

Janine sagte auf meine letzte Aussage nichts und ich meinte: „Entschuldige, ich wollte das Thema nicht schon wieder ansprechen.“ – „Das ist schon ok. Es tut gut, dass ich überhaupt mit jemand anderem als Sabrina, Tim oder meinen Eltern darüber reden kann.“ – „Nur zu. Du kannst dich auch gerne in der Schule bei mir auskotzen, wenn dich das alles wieder nerven sollte.“ – „Du bist lieb, danke.“ Ich nahm einen Schluck aus meinem Kakaobecher und fragte sie: „Sag mal …“ – „Mal!“ Ich schaute sie an und sie kicherte, sodass auch ich lachen musste. „Ich wusste gar nicht, dass du frech sein kannst!“ – „Tja, das war dafür, dass du mich eben geärgert hast.“ Wir grinsten und sie gab mir zu verstehen, dass ich meinen Satz fortsetzen sollte. „Wenn du so wenig Zeit zum Beispiel fürs Tanzen hast, wie viel Zeit verbringt du denn mit Lernen?“ – „Na ja, ich schaue mir abends meist den Stoff von den Stunden an, die wir am nächsten Tag haben … also all die Sachen aus den letzten Stunden.“ – „Das klingt wirklich aufwändig.“ – „Das ist es aber nicht, ich schaue meist abends eine halbe Stunde oder höchstens Stunde auf die Sachen.“ – „Wirklich nicht mehr?“ – „Nein, wirklich nicht. Für Klassenarbeiten lerne ich halt ein paar Tage vorher schon, aber ich lerne sonst nicht so viel.“ – „Dann ist es echt beeindruckend, wie du es schaffst, so gute Noten zu haben.“ – „Mich interessieren einfach so viele Dinge, so behalte ich sehr viel in Erinnerung.“ Sie hatte mittlerweile rote Wangen und registrierte, dass ich das bemerkte. „Ist… etwas?“, fragte sie mich und ich antwortete ihr: „Ich habe nur festgestellt, dass deine Wangen ein wenig rot sind, aber das wird bestimmt der warme Kakao sein.“ Ich grinste sie an, sie lächelte verlegen zurück.

Nach unseren Kakaos gingen wir weiter über den Jahrmarkt und an einer Stelle trennten wir uns kurz, da sie bei einem Stand für handgemachte Kerzen, ich bei einem Stand für Mandeln und Ähnlichem stehen blieb. Ich kaufte mir gebrannte Mandeln und, ohne es Janine zu sagen, für sie eine zweite Packung mit. Ich wusste nicht, was sie mochte, wollte mich aber auch nicht erneut in der Schlange anstellen. Ich ging wieder zu ihr und sah, dass sie mittlerweile in „sicherer“ Entfernung zu einer Bude stand, an der Dosenwerfen angeboten wurde. „Na, überlegst du, ob du das auch machst?“ – „Na ja, dafür bin ich definitiv nicht kräftig genug. Mit diesen weichen Bällen bekomme ich die zehn Dosen bestimmt nicht umgeworfen.“ – „Soll ich das für dich probieren?“ – „Nein, musst du wirklich nicht.“ – „Ich würde es aber machen!“ Ich zog meine Augenbraue nach oben und sie wiederholte: „Nein, mach es nicht. Das ist Geldverschwendung.“ – „Egal. Ich probiere es einfach, ich habe das noch nie gemacht.“ Sie schüttelte den Kopf und meinte grinsend: „Du bist echt verrückt.“ Ich drückte ihr, ohne etwas zu sagen, die beiden Mandelpackungen in die Hand und ging zum Dosenwerfen-Stand.

Der erste meiner drei Würfe gelang perfekt, von den zehn Dosen blieben drei stehen, da ich mit dem Wurf die Pyramide zum fast kompletten Zusammensturz brachte. Mit dem zweiten Wurf räumte ich glücklicherweise zwei der restlichen drei weg, und bei dem letzten Wurf ging ich sehr vorsichtig vor, um die letzte Dose auch wirklich zu treffen. Ich hatte echt einen Hauptgewinn!

Ich drehte mich völlig überrascht zu Janine und sie bekam riesige Augen. Ich fragte sie: „Los, such dir was aus.“ – „Aber das ist doch dein Hauptgewinn!“ – „Den hätte ich allein aber definitiv nicht geholt, wenn du hier nicht stehengeblieben wärest. Also komm, such dir was aus!“ Sie entschied sich für einen echt gewaltig großen Teddy, der gefühlt halb so groß wie sie selbst war. Wir mussten danach herzhaft lachen, dass ich es einerseits probiert und andererseits auch noch erfolgreich geschafft hatte!

Dieser Teddy war das Beste, was uns passieren konnte, da ich ab diesem Zeitpunkt die Gelegenheit nutzte, Janine mit diesem großen Stofftier zu ärgern. Mal piesackte ich sie damit, dass ich sie mit einem Arm des Teddys vorsichtig „schlug“, in einem anderen Moment packte ich den Teddy und hing ihn einfach an ihren Rücken heran, um damit Blödsinn zu veranstalten. Ich hatte Janine in all den Jahren noch nie so herzhaft und so viel lachen sehen.

Die Zeit verrann ab dort wie im Fluge und so brachten wir noch locker anderthalb Stunden herum, bis wir definitiv genug hatten und uns auf dem Nachhauseweg machten. Janine sah durch meine Toberei mit ihr völlig zerrupft aus und ihr Zopf war völlig zerstört. Da sie sich dadurch gestört fühlte, löste sie ihren Zopf einfach gänzlich auf und ich sah ihre langen, dunkelblonden Haare. Mit langen Haaren wirkte Janine auf mich gleich noch um einiges attraktiver…

Als wir an der Bushaltestelle standen, fiel ihr plötzlich auf: „Mensch, ich habe ja noch deine Mandeln!“ Sie holte aus ihrer Tasche die Mandeln und wollte sie mir in die Hand drücken, doch ich erwiderte: „Gib mir nur eine der beiden.“ – „Mhm, warum?“ – „Eine war für dich gedacht.“ – „Oh, das ist lieb! Woher weißt du eigentlich, dass ich Mandeln mag?“ – „Ich habe es ehrlich gesagt gehofft, ich wusste es nicht. Da ich mir vorhin Mandeln kaufen wollte, dachte ich mir, du möchtest bestimmt auch etwas haben und von daher habe ich halt auch eine Packung für dich gekauft.“ – „Wie viel bekommst du denn von mir für die Mandeln?“ Ich schaute etwas erstaunt und meinte: „Nichts, ich wollte sie dir schenken.“ – „Du hast mir heute schon diesen riesigen Teddy geschenkt, das kann nicht auch noch annehmen.“ – „Doch, kannst du. Ich bekomme eine große Menge Taschengeld, eine Portion Mandeln bringt mich nicht um.“ – „Du bist echt hartnäckig…“ Ich zwinkerte sie an und sie wiederholte etwas, was sie bereits an diesem Tag schon zwei Mal gesagt hatte: „Danke, du bist echt lieb!“

Wir saßen im Bus nebeneinander und Janine musste einige Stationen vor mir aussteigen. Sie machte gerade Anstalten, mich umarmen zu wollen, da meinte ich: „Hey, wenn du magst, bringe ich dich noch nach Hause.“ – „Oh, ich weiß gar nicht…“ – „Ja?“ – „Na gut, ok, du bleibst ja hartnäckig.“ Ich grinste, zuckte mit den Schultern und stieg mit ihr aus. Der Fußweg bis zu ihrem Zuhause bestand auch nur aus etwa fünf Minuten. „Marc?“ Ich schaute im Laufen zu ihr und sie sagte: „Das… war echt toll heute. Das hat unheimlich viel Spaß gemacht.“ – „Das ist schön, ich fand es auch einfach unheimlich lustig.“ Wir schwiegen die letzten Meter bis zu ihrem Zuhause.

„So viel Verrücktes habe ich bisher mit keinem erlebt. Danke.“ Wir schauten uns in die Augen und ich sagte: „Du hast all die Sachen mitgemacht, du bist doch genauso durchgeknallt!“ Wir lachten. Direkt im Anschluss kam Janine zur Verabschiedung den letzten Schritt auf mich zu. Ihre Umarmung war wirklich herzlich, sie drückte mich wirklich fest. Während der Umarmung sagte sie sehr leise: „Wirklich danke.“ Ich entgegnete ihr: „Das können wir gerne wieder machen.“

Ich ging wieder los zur Bushaltestelle, während sie die Haustür aufschloss. Auf dem Nachhauseweg machte ich mir noch Gedanken um Janine, weil ich wirklich fasziniert darüber war, wie viel Spaß man mit ihr haben konnte. Am liebsten hätte ich mir einige aus der Klasse vorgeknöpft und richtig darüber aufgeklärt, wie Janine so war. Aber faktisch wusste ich, dass sich kaum einer ernsthaft dafür interessieren würde.

In der nächsten Woche hielten Janine und ich unseren Vortrag, der zwar deutlich länger ging, als von uns geplant war, uns aber trotzdem ein „sehr gut“ einbrachte, weil wir den gesamten Unterricht der Stunde übernahmen, sodass der Lehrer nichts machen musste. Darüber hinaus stellte ich fest, dass Janine ihre lockere Art, die sie beim Rummel hatte, auch in der Schule beibehielt – zumindest, wenn wir miteinander quatschten. Generell bemerkten einige aus der Klasse, dass ich mich neuerdings mit Janine unheimlich gut verstand. So kam es innerhalb der nächsten zwei Wochen dazu, dass einige Leute aus der Klasse noch etwas mehr als sonst den Kontakt zu mir mieden – der Clou daran war aber, dass es mich überhaupt nicht störte, weil ich eben bereits vorher schon kein Interesse an einen Kontakt hatte.

An einem Abend eines Wochenendes, als ich mich mit Tim zum Billard spielen traf, erzählte ich ihm von dem Treffen mit Janine nach der Fertigstellung unseres Vortrages. Er war sichtlich erstaunt und fragte mich: „Wie interessant findest du sie wirklich?“ – „Was meinst du?“ – „Na komm, du weißt genau, was ich meine. Wenn du mir sagst, du findest sie hübsch…“ – „Das meinst du! Also ehrlich gesagt, so richtig ernsthaft habe ich darüber nicht nachgedacht. Wir haben uns nur das eine Mal getroffen und da ist sie gegen Ende aufgetaut. Aber wenn sie regelmäßig solche Stimmungsschwankungen hat, macht das einen regelmäßigen Kontakt zu ihr nicht einfach.“ – „Hat sie dich denn in den letzten Wochen nochmal irgendwann so angefahren?“ – „Nein, hat sie nicht.“ – „Na siehst du, immerhin. Ich kann dir nur sagen, dass ich mehrfach beobachtet habe, wie sie diese miese Stimmung an manchen der Jungs aus der Klasse rausgelassen hat.“ – „Was?“ – „Hast du das nicht mitbekommen?“ – „Nein, ich muss aber auch sagen, dass ich mit den Jungs in den letzten Wochen nur wenig gesprochen habe.“ – „Vielleicht, weil du die ganze Zeit mit Janine Kontakt hattest?“ – „Nein, nicht so viel. Janine und ich haben vielleicht etwas mehr als bisher in den Pausen Zeit verbracht, aber irgendwie hat sich der Kontakt zwischen den Jungs und mir schon viel früher zerlaufen.“ – „Das ist doch schade, weil ihr euch doch auch mal besser verstanden habt.“ – „Ja, das ärgert mich schon etwas. Aber ich kann auch nicht abstreiten, dass ich schon im letzten Jahr bemerkt habe, dass ich mit einigen immer mehr aneinandergerate, weil sie ja nicht nur zu Janine so doof sind.“ – „Du musst das aber akzeptieren, dir bleibt ja auch nichts anderes übrig.“ – „Na ja, ich akzeptiere es aber nicht. Tolerieren tue ich es aber auch nicht, wenn sie zum Beispiel mit Janine scheiße umgehen, weil ich das einfach nicht nett finde – völlig egal, bei wem sie das machen.“ – „Damit hast du aber auch Recht. Ist halt schwierig geworden mit den Jungs.“ – „Aber hast du nicht auch noch engen Kontakt zu der Clique?“ – „Na ja, es ist auch weniger geworden, aber ich zähle irgendwie noch mit dazu. Vielleicht, weil sie denken, es wäre klug, wenn sie sich mit dem Klassensprecher gut stellen.“

Wir lachten. Wahrscheinlich war das sogar der Hauptgrund, denn Tim war bereits seit der siebten Klasse unangefochtener Klassensprecher und wurde vor allem deshalb immer wieder gewählt, weil er ein gutes Händchen dafür hatte, Konflikte zu schlichten. Er mischte sich in alles ein, wenn es sein musste und war auch im Umgang mit den Lehrern besonders geschickt, sodass er sogar schon einige Male sehr kritische und harte Worte in Richtung der Lehrer wählen konnte, ohne Ärger zu bekommen. „Das wird es bestimmt sein.“, entgegnete ich Tim. „Na ja, schau zumindest, dass dein Kontakt mit den Jungs nicht noch vollständig zusammenbricht.“ – „Ja, ich versuche es, aber einfach wird das bestimmt nicht.“

In der nächsten Woche fragte mich einer der Jungs aus der großen Clique: „Seit wann hast du eigentlich so viel Kontakt zu Janine?“ – „Wieso fragst du?“ – „Ich frage, weil doch so unheimlich viele Gerüchte über sie rum erzählt werden, dass sie ein ganz schönes Biest sein soll.“ – „Aha, wer sagt das?“ – „Keine Ahnung, wer das zuerst gesagt hat, aber offenbar scheint es zu stimmen, dass du mit Janine mehr Kontakt hast?“ – „Falls du dich daran erinnern kannst, ich hatte vor ein paar Wochen den Vortrag mit ihr zusammengehalten. Da haben wir uns an einem Wochenende getroffen und das zusammen ausgearbeitet. Natürlich haben wir dort auch deutlich mehr Zeit miteinander verbracht als die paar Worte, die man sonst in der Schule spricht. Und?“ – „Ich finde es krass, wie du mit ihr so viel Zeit verbringen konntest.“ – „Warum stört dich das?“ – „Mich stört das deswegen, weil ich glaube, dass du dich verändert hast, seitdem du mit ihr rumhängst und dass sie da einen großen Einfluss auf dich hat.“ – „Wer hat davon gesprochen, dass ich mit ihr rumhänge? Ich habe einen Samstag mit ihr verbracht. Wo ist das Problem?“ – „Wie ich schon sagte, du hast dich irgendwie verändert.“ – „Das musst du dir einbilden. Wie soll ich mich deiner Meinung nach verändert haben?“ – „Du bist bei den Jungs so richtig kräftig angeeckt. Bei einigen hast du richtig verschissen.“ Ich lachte, worauf er mich regelrecht verdutzt anschaute. „Haben die Hohlköpfe noch immer nicht gemerkt, dass sie mir am Hintern vorbei gehen?“ – „Spare dir deine Beleidigungen.“ – „Dabei war ich fast noch zu nett.“ – „Komm, setz dich wieder zu Tim im Unterricht, mit dir kann man ja gar nicht mehr entspannt Zeit verbringen.“ – „Weißt du, eigentlich wollte ich mit euch mal wieder eine Runde bowlen oder so gehen, aber ganz ehrlich, darauf habe ich jetzt definitiv keinen Bock mehr.“ – „Haha, nein, das lassen wir glaube lieber. Verbringe besser deine Zeit mit Janine oder Tim.“ – „Lass Janine aus dem Spiel. Sie hat damit nichts zu tun, du Idiot!“ – „Wie du sie verteidigst! Köstlich.“ Er wollte sich gerade umdrehen und mich stehen lassen, da griff ich ihn kräftig an der Schulter und hielt ihn so fest, dass er sich wieder zu mir drehen sollte. Er zischelte: „Lass… mich… sofort los.“ – „Ich sage es dir nur einmal: Lass sie aus dem Spiel. Mir geht es unheimlich gegen den Strich, wie ihr mit Janine und mit einigen anderen umgeht, von daher sage ich es nur noch ein einziges Mal: Lasst sie in Ruhe. Ich finde es einfach ekelhaft, wie ihr mit Leuten umgeht, die nicht nach eurer Pfeife tanzen. Ich finde einige von euch einfach… widerlich.“ Er riss sich los und erwiderte nur noch: „Fass mich lieber nicht noch ein einziges Mal an, sonst vergesse ich mich.“ – „Haha, willst du mir eine reinhauen? Damit du direkt von der Schule fliegst, wenn es nicht bald durch deine Noten passiert?“ Ich hatte seinen wunden Punkt gefunden und von einer Sekunde auf die andere holte er mit der Faust aus!

Da ich damit rechnete, sprang ich einen kleinen Schritt nach hinten, sodass sein Schlag verfehlte. Er holte glatt ein zweites Mal aus, aber auch das scheiterte. „Geht es dir noch gut?!“, brüllte ich ihn an. Aber ehe er sich etwas Neues überlegen konnte, griff Tim ein, ohne dass ich damit rechnete und geschweige denn bemerkt hatte, dass er in meiner Umgebung stand. Er richtete an unseren Klassenkameraden: „Gewalt ist also deine Lösung, ja?“ Er stellte sich demonstrativ zwischen uns Streithähne und hatte aber auch einen deutlichen Kommentar für mich bereit: „Hör auf, ihn noch extra zu provozieren!“ Unser Klassenkamerad hatte sich in den wenigen Sekunden bereits verzogen, sodass Tim zu mir meinte: „Musstest du das so eskalieren lassen?“ – „Tut mir leid, aber das hat mich so unheimlich wütend gemacht, was er rausgehauen hat.“ – „Lass ihn einfach in Ruhe. Aber du kannst dir jetzt sicher sein, dass dich die halbe Klasse auf dem Kieker haben wird.“ – „Da stehe ich drüber, sollen sie mal versuchen. Danke, dass du dazwischen gegangen bist.“ – „Dafür bin ich ja da, kein Problem. Rechne damit, dass du nachher mit irgendeinem Lehrer noch über diese Geschichte sprechen musst, ich werde diesen Vorfall natürlich melden. Ich kann es nicht einfach durchgehen lassen, dass er dich gerade zwei Mal definitiv schlagen wollte. Jetzt beruhige dich wieder.“ – „Ist in Ordnung, ich weiß Bescheid.“

Ich drehte mich um und bemerkte, dass vier Leute aus der Klasse wenige Meter hinter mir standen und diese Szenerie mitbekommen haben. Eine davon war Janine, deren Blick ich nicht einordnen konnte. Ich lief an den vieren vorbei und wollte, um herunterzukommen, in Richtung Toilette, als Janine mich plötzlich einholte und meinte: „Hey, warte kurz.“ Ich blieb stehen und schaute sie fragend an. Sie sagte ziemlich aufgebracht und etwas aggressiv: „Bist du irre, dass du ihn einfach so provozierst?“ – „Möchtest du mich jetzt auch noch verärgern? Der kurze Streit hat mir jetzt schon mehr als genug gereicht.“ Wir schauten uns einige Momente direkt in die Augen und sie warf mir entgegen: „Ich habe mir vielleicht große Sorgen um dich gemacht?!“ Damit überraschte sie mich und ich schluckte meinen Ärger etwas runter, weil ich ihr offenbar Unrecht tat. „Entschuldige. Jetzt habe ich dich angefahren, obwohl du es überhaupt nicht verdient hast.“ – „Das ist mir egal. Ich wollte dir außerdem sagen, dass ich mich schon selbst verteidigen kann.“ Ich sagte darauf nichts weiter, Unrecht hatte sie ja nicht. Mir war es etwas unangenehm, dass sie das so direkt mitbekommen hatte.

„Und danke.“ – „Wofür?“ – „Dafür, dass du mich überhaupt verteidigt hast und ihm gesagt hast, dass sie mich in Ruhe lassen sollen. Außer Tim und Sabrina hat das sonst keiner gemacht. Auch wenn du definitiv derjenige bist, der es am deutlichsten ausgedrückt hat.“ Ich war tatsächlich etwas perplex und sagte darauf nichts weiter. „Ich empfand es einfach richtig, das klarzustellen, weil unter den Jungs wohl einige Gerüchte umhergehen. Mich macht das einfach wütend, wenn ich sehe, wie sie mit dir umgehen.“ – „Das weiß ich doch mit den Gerüchten, ich habe es doch oft genug mitbekommen, was sie über mich erzählen. Aber ganz ehrlich, ich blende das einfach aus.“ – „Das ist auch gut so. Sei mir nicht böse, aber ich möchte gerne kurz irgendwohin gehen, wo ich die Wut im Bauch wieder loswerden kann.“ – „Das ist schon ok. Denk dran, die Pause ist nicht mehr lang.“ – „Ich weiß. Bis gleich.“

Ich ging tatsächlich kurz in Richtung Toilette und trat dabei die nur angelehnte Tür recht kräftig auf, weil mich das ignorante und aggressive Verhalten einerseits wütend machte, andererseits ich mich ärgerte, weil ich so einen Konflikt mit einem der Jungs aus der Clique gerade eigentlich nicht wollte. Nach einigen Minuten, die ich auf der Toilette verbrachte, kam ich gerade noch rechtzeitig wieder zurück in die Nähe des Klassenraums, wo ich sah, dass Tim und unser Klassenkamerad mit unserem Klassenlehrer sprachen. Unser „Freund“ war jetzt erst recht wütend, musste sich aber zurücknehmen, damit er nicht noch mehr Ärger bekam. Ich nahm auch direkt an dem Gespräch teil und bestätigte die Geschichte, die Tim erzählt hatte. Mein Klassenlehrer mahnte mich aber auch deutlich: „Dein Kommentar war aber definitiv der Auslöser, das sollte dir bewusst sein. Also unterlasse solche Aussagen einfach, das war ohne Frage beleidigend. Aber dennoch hat man nicht so darauf zu reagieren, wie es jetzt passiert ist.“ Grundsätzlich hatte er Recht. Der Klassenkamerad gab die Geschichte immerhin auch ehrlich zu. Mein Klassenlehrer nahm den Übeltäter direkt mit, vermutlich direkt zur Schulleitung, weil er das selbst nicht entscheiden wollte oder konnte, was nun passierte.

Tim und ich betraten wieder den Klassenraum und ich bemerkte Janines Blick, die mich deutlich musterte. Wir setzten uns auf unsere Plätze und ich sah, wie sie auf ihrem Handy etwas tippte. Sie traute sich offenbar nicht, das, was sie beschäftigte, quer über den Tisch mitzuteilen, weil sonst zu viele davon Wind bekommen hätten. Ich bemerkte, dass nach einigen Sekunden mein Handy in der Hosentasche vibrierte und es war tatsächlich eine Frage von Janine: „Wo ist er hin? Hast du Ärger bekommen?“ – „Er wurde hoch zur Schulleitung gebracht und darf sich da vermutlich rechtfertigen. Ich habe nicht wirklich Ärger bekommen, nichts Schlimmes. Erkläre ich dir nachher.“ Als sie noch die Antwort fix las, schenkte sie mir ein vorsichtiges Lächeln, welches ich erwiderte.

Unser Klassenlehrer kam erst nach einer knappen Viertelstunde wieder und griff sich zielsicher die Tasche und die ausliegenden Unterlagen des Übeltäters, ohne etwas zu sagen. Er brachte sie nach draußen und kam nach einer Minute wieder. Er sagte zu unserer Gruppe: „Da es ja einige mitbekommen haben, was passiert ist, sage ich nur so viel: Gewalt ist in jedem Fall keine Lösung, völlig egal, ob man provoziert wurde oder nicht. Für heute wurde er nach Hause geschickt. Ob noch weitere Strafen folgen, wird eine Klassenkonferenz vermutlich entscheiden. Also wundert euch nicht, wenn er womöglich noch ein paar Tage plötzlich fehlen sollte.“

Nach der Unterrichtsstunde fragte mich Janine draußen, was denn noch passiert sei. Ich erzählte ihr kurz vom Gespräch und sie meinte: „Ich finde schon, dass er bestraft werden musste, aber irgendwie tut er mir auch leid, dass er das jetzt stellvertretend für die gesamten Idioten so abbekommen hat.“ – „Ja, so fühle ich mich auch… aber eigentlich fühle ich mich mittlerweile richtig mies, weil ich ihn so richtig provoziert habe.“ – „Er wollte dich schlagen!“ – „Ja, du hast schon Recht. Das war zumindest sicher das Ende jeglicher Verbindung zu der Gruppe.“ – „Tut mir leid… Ich wollte nicht, dass du wegen mir solchen Ärger mit ihm oder mit allen hast.“ – „Hey, du kannst dafür doch nichts. Wenn er nicht damit klarkommt, dass ich meine Zeit damit verbringe, wonach mir die Lust steht, kann ich auch nichts dafür.“ – „Aber trotzdem, tut mir leid.“ – „Schon ok, mach dir darum keinen Kopf.“ – „Ich… möchte dich gerne noch etwas anderes fragen.“ – „Na klar, nur zu. Und außerdem sollst du-“ – „Ich weiß, ich weiß.“ Wir schmunzelten etwas und sie sagte: „Hättest du was dagegen, wenn ich mich im Unterricht neben dich setze?“ Ich war überrascht und hatte damit gar nicht gerechnet. Sie schob plötzlich ein, als sie meinen überraschten Blick sah: „Wenn nicht, ist das auch ok.“ Ich dachte zwei Sekunden darüber nach und meinte: „Ich habe nichts dagegen, das ist völlig ok. Wir sollten uns aber vielleicht ganz anders hinsetzen… Es wäre nicht so gut, wenn du oder ich direkt neben unserem Schlägerfreund sitzen. Er wird auf uns sicherlich nicht gut zu sprechen sein.“ – „Das habe ich auch schon überlegt… Ich habe deswegen vor ein paar Stunden schon Tim gefragt, ob er sich auch mit umsetzen würde, sodass wir Tim als Puffer zwischen uns und ihm haben.“ – „Du hast Tim gefragt, obwohl du nicht wusstest, ob ich damit einverstanden bin?“ Ich verzog meine Augenbraue und sie meinte verlegen: „Na ja, vorhin war einfach eine gute Gelegenheit, mit Tim schon darüber zu reden. Er hatte damit auch kein Problem.“ – „Das klingt doch gut. Dann scheint es dir aber sehr wichtig zu sein, wenn du Tim extra schon vorher fragst, was?“ Mit diesen direkten Aussagen hatte Janine definitiv ein Problem – sie war leicht verlegen zu machen, auch wenn mich das mehr amüsierte und erstaunte, als dass es mich störte. „Na ja, weißt du, ich fühle mich auf meinem aktuellen Platz einfach nicht wohl, Sabrina sitzt ja auch nicht in meiner Nähe oder so und da der Platz neben dir noch frei ist…“ Ich schmunzelte, weil sie immer verlegener wurde und meinte: „Aber wie ich schon sagte: Wir können uns ruhig umsetzen, ich finde das gut. So musst du mir auch keine Nachricht schreiben, wenn du mich etwas fragen willst, was dich unheimlich interessiert.“ Jetzt lachten wir und gingen wieder in den Klassenraum, da die kleine Pause bereits wieder vorüber war.

Am nächsten Tag setzten wir unseren Plan in die Tat um: Für mich änderte sich eigentlich kaum etwas, ich blieb dort sitzen wie bisher. Tim saß nun rechts von mir statt links und Janine übernahm den ehemaligen Platz von Tim. In einer der großen Pausen an diesem Tag war ich mit Tim allein und er fragte mich: „Du kommst ja immer besser mit Janine klar, was? So, wie du sie gestern verteidigt hast.“ Er schmunzelte und steckte mich damit an, anschließend meinte ich: „Sie scheint mich offenbar mehr zu mögen, als ich die gesamte Zeit geglaubt habe. Wenn sie schon von sich aus vorschlägt, dass sie sich neben mich setzen könnte… Ich muss zugeben, von selbst hätte ich das gar nicht vorgeschlagen.“ – „Also hast du zugestimmt, obwohl du nicht wolltest?“ – „Nein, nein, so ist das nun auch nicht. Ich selbst wäre nur nicht auf die Idee gekommen, weil ja schon noch eine Distanz zwischen ihr und mir vorhanden ist und einfach, weil ich es gewohnt war, dass sie halt etwas abseits von uns saß.“ – „Habt ihr euch noch mal getroffen seit dem Vortrag?“ – „Nein, das meinte ich eben genau mit Distanz. Sie hatte seitdem nicht weiter gefragt, ich aber auch nicht, weil ich mich entweder mit dir verabredet hatte oder ich einfach ein bisschen entspannter gemacht habe, wenn wir weniger Aufgaben aufbekommen haben.“- „Mhm, komisch irgendwie. Na ja, du wirst ja sehen, wie sich das weiterentwickelt.“ – „Ja, mal schauen. Meinst du, sie hat womöglich mehr Interesse an mir?“ – „Schwierig zu sagen. Glaub ich nicht unbedingt, auch wenn es schon auffällig ist, dass sie sich freiwillig neben dich setzen wollte. Zumindest mag sie dich sehr, davon kannst du ausgehen.“ – „Obwohl ich nicht viel gemacht habe.“ – „Du hast von uns allen bisher vermutlich am Meisten gemacht, einfach, indem du mit ihr freiwillig noch zum Rummel gegangen bist und sie jetzt eben zum Beispiel auch verteidigt hast…“ – „Ja, stimmt auch wieder.“

Die ersten Tage, in denen Janine neben mir saß, waren nicht anders als sonst. Janine hatte allerdings seitdem eine spürbare Nervosität, die ich vor allem immer bemerkte, wenn wir miteinander quatschten, zum Beispiel in den kleinen Pausen. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Vor allem konnte ich mir nicht erklären, dass wir, wo wir nun zusammensaßen, deutlich weniger miteinander redeten als vorher. Ich schaute mir das Ganze etwa anderthalb Wochen an, dann schlug ich ihr am Ende eines Schultages vor: „Hey, was hältst du davon, wenn ich heute deinen Weg mitfahre und dich nach Hause bringe?“ – „Oh, ähm, ja, klar, das machen wir.“ Ich achtete darauf, dass wir wirklich unter vier Augen waren, als wir uns auf dem Nachhauseweg machten und meinte zu ihr: „Fühlst du dich wohler, wo du jetzt direkt neben mir und damit auch Tim sitzt?“ – „Ja, es ist wirklich viel besser. Ich… bin dadurch viel entspannter, weil ich weiß, dass ihr mich so akzeptiert, wie ich bin.“ – „Bist du denn wirklich entspannter?“ – „Ja, klar. Wie meinst du das?“ – „Ich habe den Eindruck, dass…“ Ein Klassenkamerad lief in diesem Moment an uns vorbei. „… Na ja, ich habe das Gefühl, dass du plötzlich nervös bist, wenn wir quatschen oder so.“ Sie schwieg. Schweigen stellte doch meist eine praktische Zustimmung dar. Ich ließ das wenige Sekunden so sacken und fragte sie: „Komm, mal ehrlich, warum bist du so nervös? Es ist doch nichts anders als sonst.“ – „Ich … Na ja, weißt du, ich kenne das einfach nicht.“ – „Was kennst du nicht?“ – „Ich kenne das einfach nicht, dass ich einfach akzeptiert werde. Dass jemand aus der Schule einfach dauerhaft lieb und verständnisvoll mit mir umgeht. Ich habe immer Sorge, dass sich das plötzlich ändert… Das macht mich so nervös.“ Ich blieb mit ihr auf dem Weg stehen und schaute sie an. Als sie immer noch ein bisschen wegschaute, hielt ich sie einfach an ihren Schultern fest und drehte sie ein wenig, bis sie mich anschaute. „Was wird das?“, fragte sie wieder nervös. „Ich will, dass du mich ganz entspannt einfach anschaust.“ Als sie das tat und sich bemühte, meinte ich: „Habe ich dir bisher auch nur irgendein Anzeichen gegeben dafür, dass ich unehrlich wäre?“ – „Nein.“ – „Oder irgendein Zeichen, dass ich Schlechtes über dich denken würde?“ – „Nein… Aber.“ – „Aber?“ – „Ich… ich habe Dinge gehört, dass du schlecht über mich denken würdest.“ – „Von wem?“ – „Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, weil ich es auch einfach nicht glauben konnte…“ – „Wer hat das erzählt?“ – „Ich erzähle es dir nur, wenn du nicht völlig ausflippst. Ich will nicht, dass du noch mehr Ärger bekommst. Das musst du mir versprechen!“ – „… Okay, na gut. Ich werde mir den- oder diejenigen nicht vorknöpfen. Versprochen.“ – „Na gut… Ich habe es von einigen Jungs aus der Clique gehört, auch wenn ich das, wie gesagt, nicht glauben wollte.“ – „Arg!“ Ich hielt mich Janine zuliebe auch zurück, auch deswegen, weil der Bus kam, in dem wir einstiegen. Wir setzten uns in der oberen Etage sehr weit nach hinten und ich meinte: „Ich habe es befürchtet.“ Sie schaute mich etwas fragend an und ich meinte: „Ich habe befürchtet, dass die Penner irgendwelche Gerüchte verbreiten würden.“ – „Aber an diesem Gerücht stimmt doch wirklich nichts, oder?“ – „Nein, wie ich schon mehrfach sagte. Ich mag dich gerne, du brauchst kein Stück nervös zu sein. Ich würde niemals so über dich herziehen, wie die Penner das seit Jahren machen.“ – „Ich… Ich glaube dir. Tut mir leid, ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken. Mich hat das einfach die ganzen Tage beschäftigt, aber ich habe mich nicht getraut, zu fragen.“ – „Siehst du – ich habe gespürt, dass dich irgendwas mitnimmt. Der Blick auf deine Finger verriet mir manchmal auch Bände.“ Sie schaute verdutzt auf ihre Hände und ich meinte: „Ich habe gesehen, dass du in den letzten Tagen öfters an deinen Fingern herumgespielt hast.“ – „Oha… Ich bin überrascht, was du alles bemerkst.“ – „Mir wäre das vermutlich so schnell gar nicht aufgefallen, aber da du das jeden Tag gemacht hast und auch noch neben mir sitzt, habe ich es zwangsläufig irgendwann gesehen.“ Sie schwieg, weil es ihr offenbar peinlich war. Ich fragte sie: „Wann hast du das von den anderen gehört?“ – „Das ist schon etwas über eine Woche her.“ – „Okay.“

Wir schwiegen mehrere Minuten, was wirklich unangenehm war, bis ich sie wieder direkt anschaute und meinte: „Alles okay?“ – „Ja, es ist alles in Ordnung. Und du flippst bitte wirklich nicht aus?“ – „Nein, keine Sorge. Ich schlucke das einfach runter… auch wenn ich fürchterlich wütend darüber werden könnte.“ – „Das kann ich gut verstehen. Mich macht das auch wütend.“ Es vergingen erneut zwei Minuten mit einer unerträglichen Stille, bis ich meinte: „Lass uns all diese doofen Themen vergessen, sie sind es nicht wert. Deal?“ – „Du hast Recht… Deal!“

„Wie geht es eigentlich dem Teddy?“ – „Teddy?“ – „Mal ein Themenwechsel, entschuldige für den Gedankensprung. Du weißt schon, dem Teddy, der Spaß daran hatte, dich zu ärgern?“ Sie lächelte breit und meinte: „Das warst doch du und nicht der Teddy! Der arme Bär kann dafür nichts!“ – „Ich weiß auch nicht, der Teddy war echt aggressiv und hatte offenbar totalen Spaß dabei, dich zu ärgern… Er hat bestimmt-“ Sie griff mir plötzlich ohne Vorwarnung in die Seite und fand damit leider direkt heraus, dass ich dort besonders kitzelig war. Generell war ich sehr kitzelig und das nutzte sie schamlos aus. Ich geriet in solch eine Lachattacke, die Janine immer weiter im wahrsten Sinne des Wortes herauskitzelte, bis ich es schaffte, ihre Hände mit meinen festzuhalten, kurz durchzuatmen und ihr direkt in die Augen zu schauen. „Also ich schiebe dem Teddy nicht die Schuld zu, ich gebe offen zu, dass ich dich gerade erfolgreich durchgekitzelt habe.“ Direkt im Anschluss war ich einfach mutig und fand auch bei ihr sehr schnell heraus, dass sie an den Seiten kitzelig war. Das endete sehr schnell in einer über zehnminütigen Schlacht, in der wir wahrscheinlich aufgrund unserer Lautstärke den ganzen Bus unterhalten hatten… Aber da wir den Bus verließen, weil wir bereits fast bei ihrem Zuhause waren, war mir das ziemlich egal und Janine offenbar auch.

Wir liefen sehr nah nebeneinander nach Hause, auch, weil wir lauerten, ob einer erneut mit dem Kitzeln anfangen würde. Dadurch, dass ich sie die ganze Zeit über anschaute, bemerkte ich zum insgesamt zweiten Mal, dass ich sie wirklich attraktiv fand. Ihre Haare waren durch die Toberei wieder etwas verwuschelt. Ihr Gesicht zog mich aus irgendwelchen Gründen unheimlich an, sie war für ihre Verhältnisse recht stark geschminkt: Ihr Lidstrich war wesentlich markanter, ihre Wimpern wirkten deutlich länger und leicht grünen Lidschatten hatte sie ebenfalls drauf.

Kurz, bevor wir bei ihr ankamen, fragte ich sie: „Gehst du heute eigentlich noch weg oder so?“ – „Nein, wieso fragst du?“ – „Na ja, weil du halt mehr geschminkt bist als sonst…“ Sie schaute mich fragend an. Ich schob fix nach: „… und ich finde, dass du damit gut aussiehst.“ Ihr skeptischer Blick wich einem freundlichen und sie meinte herzlich: „Danke! Mir… war heute einfach danach, mich mehr zu schminken.“

Wir schauten uns noch wenige Sekunden an und ich umarmte sie zur Verabschiedung, worauf sie mir ins Ohr flüsterte: „Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast… und danke… so allgemein.“ Wir ließen uns los und ich fragte sie: „Allgemein?“ Sie war aber schon schnell beim Aufschließen und meinte: „Na ja, so allgemein halt danke.“ – „Wie meinst du das genau?“ – „Ciao, Marc. Bis morgen.“ Sie verschwand hinter ihrer Haustür und ließ mich mit meiner Frage stehen… warum auch immer.

Ich lief zurück zum Bus und bekam plötzlich eine Nachricht von Janine: „Danke, weil du halt für mich da bist und so. Und weil du nicht so wie die meisten bist.“ – „Du brauchst dich nicht jedes Mal bedanken. Ich bin für dich da, weil du mir wichtig bist.“ – „Genau deshalb sage ich so oft danke. Komm gut nach Hause.“ Ich schrieb darauf nichts weiter und dachte auf der gesamten Rückfahrt noch über Janine nach. Das war das erste Mal, dass ich mich wirklich fragte, welches Interesse Janine an mir hatte. Es sprach eigentlich sehr viel dafür, dass sie mich einfach wirklich freundschaftlich mochte, aber hundertprozentig sicher war ich mir nicht. Ich wollte sie darauf aber auch nicht ansprechen, weil ich befürchtete, womöglich so manches kaputt zu machen.

Ich machte mir aber auch zum ersten Mal so richtig Gedanken darüber, was ich von Janine hielt. Dabei kam ich zumindest schnell zu dem Schluss, dass sie mir mittlerweile ziemlich wichtig war, obwohl wir außerhalb der Schule trotzdem fast nichts miteinander unternahmen. Wie wichtig sie mir genau war, konnte ich aber ehrlich nicht sagen. Freundschaftlich war unser Verhältnis mittlerweile schon, definitiv. Darüber hinaus… Na ja, ich fand sie ohne Frage sehr attraktiv, gerade, wenn sie sich wie heute etwas mehr schminkte oder etwas mehr betonte Kleidung trug. Ob ich mir so etwas wie eine Beziehung mit ihr vorstellen konnte, darüber war ich mir nicht sicher. Aber wie auch immer, sie hatte keine echten Anzeichen gegeben, als dass sie womöglich an mehr interessiert sei. Immerhin war ich mir sehr sicher, dass sie nicht vergeben war, auch wenn sie das bisher nie zum Thema gemacht hatte.

Ich hatte bisher keine Beziehung, was vermutlich vor allem daran lag, dass ich die meisten jungen Frauen aus unserer Klasse oder aus den Nebenklassen einfach nur scheiße fand. Und die wenigen Frauen, die ich wirklich interessant fand, weil sie nicht so kindisch wirkten und noch dazu richtig hübsch waren, waren eigentlich unerreichbar, weil sie von Jungs schon umschwärmt und teilweise bereits vergeben waren… was sie eigentlich fast noch attraktiver machte. Auch manche Mädels aus den Klassenstufen über uns waren nicht schlecht, aber da fehlte mir einfach die Verbindung zu den Leuten und vor allem zu den Jahrgängen insgesamt.

Die letzten Schultage der zehnten Klasse vergingen und Janine hatte ihre Nervosität tatsächlich nach und nach abgelegt. Dadurch waren die letzten Tage lustig und entspannt, weil kaum ein Lehrer mehr ernsthaften Unterricht machte und es daher in der Klasse drunter und drüber ging. Dass die Clique in den letzten paar Tagen versuchte, Janine und mich noch mehr zu ärgern, indem sie weiter Gerüchte in die Welt setzten, störte mich deshalb auch nicht weiter.