Für meine Familie und für Wolfgang, der für mich wie ein Vater sein wollte
Mit dem größtmöglichen Dank an Jasmin, die sowohl damals zwischen 2003 und 2007 wie auch in den Jahren 2022 bis 2024 das gesamte Manuskript Korrektur gelesen hat
Mit einem großen Dank an Frauke, die die erste Version dieses Manuskripts im Jahr 2007 Korrektur gelesen hat
Einleitung
Marc erzählt:
Janine hatte es einfach drauf. Sie war in unserer Klasse von Anfang an die beste. Das führte einige Male zu der lustigen Situation, dass bei einem tendenziell eher schlechten Notendurchschnitt Janine die einzige Eins oder Zwei besaß und es nur wenige gab, die überhaupt in die Nähe ihrer Note kamen. Die Häufung an sehr guten Noten fiel aber nicht nur mir auf – die gesamte Klasse bemerkte, dass Janine vielseitig talentiert war. Einige gingen im Verlauf des Schuljahres dazu über, mehr Kontakt zu Janine zu suchen, in der Hoffnung, dass ihre guten Noten auf sie abfärben würden. Da Janine aber aufgrund ihrer schüchternen Art den Kontakt nicht suchte und die Erfolge in den Noten bei den anderen erwartungsgemäß ausblieben, schlug die Stimmung irgendwann radikal um. Diejenigen, die noch einige Zeit Kontakt zu ihr suchten, redeten hinter Janines Rücken schlecht über sie. Aus einer versteckten Abneigung gegenüber Janine wurde vor allem in der zweiten Jahreshälfte der achten Klasse eine teils offene: Sobald sich die Gelegenheit für einen Witz in Richtung Janine ergab, wurde sie von einigen Klassenkameraden genutzt. Ich sah Janine in diesen Situationen an, dass sie einerseits wütend, andererseits sehr traurig war. In diesen Momenten tat sie mir besonders leid und meine Abneigung gegenüber einigen Klassenkameraden wuchs erheblich an. Dabei konnte ich nicht nachvollziehen, weshalb geschätzt die halbe Klasse solch ein Problem mit ihr hatte. In einigen wenigen kurzen Gesprächen, die ich beispielsweise manchmal vor dem Unterrichtsbeginn morgens mit ihr führte, wirkte sie für mich echt lieb und sehr vernünftig. Sie erzählte mir in diesen Momenten auch ein einziges Mal, dass das Verhalten der anderen aus der Klasse sie sehr verletzen würde. Hinzu kam, dass sich sogar einige Mädchen, mit denen sie sich prächtig verstanden hatte, von ihr abgewendet hatten, sodass Sabrina, ebenfalls eine Klassenkameradin von uns, ihre einzige wirkliche Freundin war.
In meiner Klasse verstand ich mich mit einem Mitschüler von Beginn an richtig gut: Tim. Er war nochmals einige Monate älter als ich, obwohl ich schon mit 14 einer der älteren Schüler der Klasse war. Tim hatte dunkelblonde, kurze Haare und eine unheimlich ruhige, freundliche Ausstrahlung. Ich bemerkte schnell, dass einige in der Klasse zu Tim aufschauten, was dazu führte, dass er von der Klasse schnell und mit großer Mehrheit zu einem der Klassensprecher gewählt wurde. Nach einigen Wochen spürte man, dass sich die Klasse in mehrere Cliquen zerstreut hatte. Klar, man hielt als Klassenverbund zusammen, wenn es darum ging, dass man weniger Hausaufgaben aufbekommen sollte oder falls plötzlich das Smartphone von jemandem klingelte, sodass alle ganz spontan lautere Geräusche verursachten, um den wahren Übeltäter zu verbergen. Nichtsdestotrotz gab es eine insgesamt recht große Clique, der sowohl Mädels und Jungs als auch einige teils sehr kleine Gruppen angehörten, die meist aus nicht mehr als zwei bis drei Leuten bestanden. Ich hatte das Glück, zu der großen Gruppe zu gehören, auch wenn ich kein Freund der regelmäßigen Treffen war. Ich war vor allem deshalb nicht besonders angetan, weil ich damals schon feststellen musste, dass echtes freundschaftliches Denken nur bei wenigen vorhanden war. Einige sahen das eher als Möglichkeit, gemeinsam über die Stränge zu schlagen, als sich ernsthaft zum Beispiel um das Thema Schule Gedanken zu machen. Dass ich akzeptiert wurde, obwohl ich bei den Treffen kaum mit bei war, lag vor allem an Tim, der auch zu dieser Clique gehörte.
Außerhalb der Schule war mein Leben reichlich unspektakulär. Ich hatte keine Geschwister und lebte mit meinen Eltern, die schon seit vielen Jahren verheiratet waren, zusammen. Außerdem besuchte ich meine Oma und meine Tante regelmäßig, da beide auch in unserer Stadt lebten. Ich wusste zumindest noch von einem weiteren Onkel und seiner Familie, der allerdings einige hundert Kilometer weit entfernt lebte, mit dem aber meine Mutter regelmäßig Kontakt hatte. Ich hatte ihn das letzte Mal gesehen, als ich etwa sechs Jahre alt war. Aus diesem Grund waren meine Erinnerungen an ihn sehr, sehr vage, auch wenn wir ab und zu am Telefon miteinander sprachen. Ich hatte zu allen aus meiner Familie einen guten Draht, auch wenn meine Eltern für mich definitiv am wichtigsten waren. Ich liebte beide sehr, gerade, weil sie nur selten streng waren und oftmals eher nachgaben. Streit gab es bei uns nie, die beiden hatten höchstens mal einzelne Meinungsverschiedenheiten, bei denen es auch mal etwas lauter als sonst sein konnte. Beide betonten mir gegenüber aber immer wieder, dass ich mir keine Sorgen machen musste, weil ihre Meinungsverschiedenheiten normal waren und sie sich aber trotz dieser Unterschiede liebten.
Mein achtes Schuljahr verging reichlich schnell und ich war froh, dass ich meine sehr guten Noten beibehalten konnte. Das war auch nicht unbedingt selbstverständlich, da der Schwierigkeitsgrad deutlich angezogen wurde und man damit zum ersten Mal eine deutliche Trennung zwischen guten und weniger guten Schülern feststellen konnte.
Tim war, was Janine betraf, absolut meiner Meinung. Die beiden verstanden sich gut und Tim erzählte mir von einer kurzen Begegnung, die er eher zufällig mit Janine hatte. Als er beim Bummeln in einem Einkaufszentrum war, hatte Janine wohl zur selben Zeit die gleiche Idee und sie liefen sich dabei über den Weg. Aus einem kurzen Plausch heraus entschlossen sich beide dazu, sich noch in eine Eisdiele zu setzen und dort noch eine Weile weiter zu plaudern. Einzelne aus der Klasse wussten nicht so richtig, wie sie mit Janine und der Situation umgehen sollten. Ich wusste zwar, dass sie Janine nicht besonders mochten, aber es war ihnen anzusehen, dass sie mit dem Verhalten der Klasse als Gesamtes in Hinblick auf Janine nicht einverstanden waren und dass sie das zu hart fanden, wie Janine – in meinen Augen – teilweise gemobbt wurde.
Das neunte Schuljahr machte dort weiter, wo das achte endete. Janine war weiterhin das Ziel von üblen Witzen, auch wenn die Intensität langsam etwas nachließ. Dafür war aber zu spüren, dass Janine nunmehr von einigen regelrecht gemieden und ignoriert wurde. Janines Reaktion auf all diese Umstände war zugleich herausragend: Sie zeigte weiterhin beste Leistungen und ließ sich davon nicht beirren! Meine Leistungen waren im Vergleich zum letzten Jahr stabil geblieben, es gab Luft nach oben, aber trotz allem zählte ich mit zu den besten aus der Klasse… und das, obwohl ich im Vergleich zu Janine noch ein ganzes Stück schlechter war.
Mein Verhältnis zu Janine wurde in diesem neunten Schuljahr noch ein Stück besser. Wir plauderten regelmäßiger in Pausen, da sie seit diesem Jahr während der meisten Stunden in meiner direkten Nähe saß. Die meisten Gespräche bezogen sich zwar größtenteils auf die Schule und auf den Unterricht, aber manchmal auch darüber, wie unsere Wochenenden so waren oder was wir in den Ferien unternommen hatten. In der zehnten Klasse behielten wir diesen deutlich näheren Kontakt bei und ich bekam den Eindruck, dass sich unsere Themen mittlerweile etwas öfters im privaten Bereich ansiedelten, auch wenn die Tiefe der Themen trotz allem meist sehr oberflächlich blieb.
Unser Unterricht veränderte sich zudem schlagartig – wir hatten bereits in der neunten Klasse vollkommen neue Lehrer bekommen. Diese legten viel mehr Wert auf selbstständiges Arbeiten in bunt zusammengewürfelten Gruppen. Für mich stellte dies kein Problem dar, weil ich von den meisten Leuten aus der Klasse weiterhin geschätzt wurde. Für Janine hingegen war das mehr eine Art Spießrutenlauf, weil sie oftmals das Pech hatte, mit Pausenclowns zusammen gelost zu werden, die an alles andere als Lernen Interesse hatten.
Das erste Mal, dass ich mit Janine in einer Gruppe landete, war erst sehr spät im zweiten Halbjahr der zehnten Klasse. Witzigerweise hatten wir bei größeren Vorträgen nie das Glück, zusammengelost zu werden! Mein 17. Geburtstag Anfang Mai war bereits vorbei, wir hatten nur noch etwa acht Wochen Schule. Der Zeitpunkt war allerdings optimal, da es sich bei dieser Gruppenarbeit um einen Vortrag handelte, der zu zweit gehalten werden sollte und auf den wir uns als Hausaufgabe vorbereiten konnten. Janine wirkte genauso wie ich überrascht, als wir feststellten, dass wir die Gruppe bildeten, aber ich hatte den Eindruck, dass sie erleichtert war… vermutlich, weil sie dieses Mal nicht mit einem Trottel aus der Klasse zusammenarbeiten musste.
Nachdem die eigentliche Stunde vorüber war, fragte mich Janine: „Wie wollen wir das am besten machen?“ Da ich in diesem Moment noch durch Abschreiben von der Tafel abgelenkt war, schaute ich erst nach einigen Sekunden zu ihr auf und fragte: „Was meinst du?“ – „Na ja, wie wollen wir das mit dem Vortrag machen? Soll ich mich zu Hause hinsetzen und dir den fertigen Vortrag schicken, dass du drüber schauen und dich vorbereiten kannst?“ Ich schaute sie verwundert an und fragte: „Wer sagt, dass du den Vortrag allein machen sollst?“ – „Na ja, darauf lief es mit fast jedem, mit dem ich zusammenarbeiten sollte, hinaus.“ In diesem Moment fühlte ich mich hinsichtlich meiner negativen Gedanken über einige aus der Klasse mehr als bestätigt und erwiderte erstaunt: „Also ich wäre dafür, dass wir uns am nächsten Wochenende einfach treffen und ganz in Ruhe das Thema durcharbeiten. Hast du denn kommendes Wochenende Zeit?“ Sie wirkte völlig perplex und meinte stockend: „Ja, klar, natürlich habe ich Zeit!“ Ich sah von einem Moment auf den anderen Freudestrahlen in ihrem Gesicht und sie lächelte mich an. Ich hatte sie in den ganzen fast vier Jahren Schulzeit noch nie so strahlend lächeln sehen – ich war positiv überrascht.
„Prima. Was hältst du von Samstag um 13 Uhr? Wo wollen wir uns treffen?“ – „Samstag, 13 Uhr, klingt gut. Und was den Ort betrifft… Ich weiß nicht, wollen wir in irgendeiner Bibliothek oder so sagen?“ Ich war erstaunt, dass sie an solch einen neutralen Ort dachte, weil ich es eigentlich gewohnt war, meine gesamten Gruppenarbeiten bei jemandem zu Hause zu machen. Ich entgegnete ihr: „Was hältst du davon, wenn du einfach am Samstag zu mir nach Hause kommst? Ich habe einen großen Tisch, an dem wir ganz gut arbeiten könnten und ein PC zum Recherchieren ist auch direkt in unserer Nähe.“ Sie wirkte erneut sehr überrascht, dass ich diese Möglichkeit mit meinem Zuhause überhaupt in Betracht gezogen hatte. „Oh, ja, das klingt gut, das machen wir so!“ Um das Ganze zu besiegeln, tauschten wir noch unsere Handy- und Festnetznummern aus, damit wir notfalls nochmal telefonieren konnten, sofern sich etwas an Samstag verändern sollte. Tim, der wie in diesem Fall meistens neben mir saß, meinte zu mir, als Janine kurz den Raum verließ: „Ich kann dir sagen, dass man mit Janine echt gut zusammenarbeiten kann, auch wenn man sie manchmal ein wenig bremsen muss.“ Er schmunzelte dabei und ich fragte ihn: „Wie meinst du das?“ – „Sie ist hin und wieder ein wenig zu sehr in den Aufgaben vertieft und will manchmal deutlich mehr machen, als wir vermutlich müssten. Aber ich fand das nicht schlimm. Sie war immer unheimlich nett, soweit ich bisher mit ihr zu tun hatte.“ – „Ok, ich lasse mich überraschen, wie das wird. Aber ich glaube, sie war ziemlich überrascht, dass ich ihr vorschlug, dass wir den Vortrag natürlich gemeinsam erarbeiten.“ – „Hehe, das war bei mir vor einigen Wochen auch. Sie muss echt ziemlich viele negative Erfahrungen gemacht haben, dass sie von vorneherein davon ausgeht, dass sie die Aufgaben machen muss.“ – „Das denke ich auch.“ Die anderthalb Tage bis zum Wochenende vergingen auch sehr schnell und Janine und ich stellten am Freitag fest, dass wir gar nicht so weit voneinander entfernt wohnten, da sie nur wenige Stationen mit dem Bus fahren musste. Es kamen noch fünf Minuten Fußweg von der Bushaltestelle dazu, aber trotz allem war der Weg für sie kurz.
Meine Eltern hatten nie Probleme damit, wenn ich Freunde oder Klassenkameraden mit nach Hause brachte. In den meisten Fällen war so was spontan auch kein Problem, solange ich zumindest ein paar Minuten vorher per Handy vorwarnte. Das Einzige, was sie im Gegenzug für diese Offenheit von mir erwarteten, war, dass mein Zimmer möglichst durchweg aufgeräumt sein sollte – oder eher gesagt nicht zu unaufgeräumt… Aber auch das stellte für mich kein Problem dar. Am Samstagvormittag nahm ich mir bewusst zwei Stunden Zeit und räumte mein Zimmer gründlich auf. Ich hatte vor allem das Problem, dass ich einfach zu viele Dinge besaß, auch wenn das meiste in meinem Zimmer gut verstaut werden konnte. Von daher verbrachte ich beim Aufräumen meist die Zeit damit, all die Dinge wieder zurück in die Schränke und Schubladen zu räumen, wo sie hingehörten.
Wenige Minuten vor 13 Uhr klingelte Janine bei uns. Meine Mutter öffnete ihr, während ich die letzten Sachen zügig wegpackte. Ich hatte mich ein wenig in der Zeit verschätzt. Auf jeden Fall bekam ich am Rande mit, dass sich Janine mit meinen Eltern ein paar wenige Minuten unterhielt, weil die drei sich ganz gut verstanden und meine Eltern mal wieder zu neugierig waren, wen ich da zu Besuch hatte… Ich platzte einfach in die Gruppe dazwischen, begrüßte Janine mit einem einfachen „Hey du“ und bekam wieder ein breites Lächeln von Janine, welches ich so bisher von ihr eigentlich nicht kannte. Ohne viel zu sagen, folgte Janine mir einfach in mein Zimmer.
Ich fragte sie: „War unsere Wohnung schwer zu finden?“ – „Nein, absolut nicht, der Fußweg von der Bushaltestelle ist echt kurz. Deine Eltern sind echt mega nett, weißt du das?“ – „Sind sie das?“ Ich schmunzelte. Sie schaute mich fragend an und ich ergänzte: „Du hast schon Recht, sie sind nie streng oder so was. Wir haben dadurch eigentlich seit Jahren keine Streitigkeiten mehr.“ – „Das klingt toll.“ Janine schaute sich in meinem doch recht großem Zimmer um und meinte: „Du hast ein echt großes Zimmer!“ – „Findest du?“ – „Ja, wirklich, meines ist viel kleiner!“ Wir grinsten und ich meinte: „Na ja, es ist auf jeden Fall echt angenehm, wenn Freunde zu Besuch sind, dass man immer noch genug Platz hat.“ – „Das glaube ich gerne.“
Wir setzten uns an meinen Schreibtisch, an dem man zu zweit immer noch recht vernünftig sitzen konnte. Obwohl ich schon mit einigen aus der Klasse zusammengearbeitet hatte und ich sehr locker mit jemandem ins Gespräch kommen konnte, stellte ich immer wieder fest, dass ich doch deutlich nervöser war, wenn ich mit jemand vom weiblichen Geschlecht Kontakt hatte. Bei Janine war dies definitiv auch der Fall – ich hatte, während wir wirklich konzentriert an dem Vortrag arbeiteten, hin und wieder leichte Konzentrationsprobleme, weil ich im Innern doch recht nervös war… völlig ohne Grund eigentlich, weil Janine wirklich erstaunlich locker war. Zusätzlich war sie hochkonzentriert und übernahm zwischenzeitlich das Vorantreiben unseres Vortrages. Wir brauchten für das Heraussuchen des Inhaltes und dem Entscheiden, wie wir die Inhalte präsentieren wollten, weniger als drei Stunden. Ich stellte fest: „Ich hätte nicht gedacht, dass wir echt so schnell fertig sind.“ In einem unerwartet kühlen und scharfzüngigen Tonfall erwiderte sie: „Wie meinst du das?“ – „Das war gar nicht böse gemeint, ich habe uns gerade loben wollen, weil wir echt schnell vorangekommen sind.“ – „Ach so, ok. Ja, du hast Recht, das hat echt gut funktioniert.“ Als Janine auf die Uhr schaute, meinte sie: „Hui, drei Stunden sind ja schon fast herum, ich habe die Zeit gar nicht mehr mitbekommen.“ Ich ließ ihre Aussage einfach für einen Moment so stehen und versank in meine Gedanken, als Janine plötzlich zu mir meinte: „Darf ich dich was fragen?“ – „Klar, nur zu.“ – „Findest du eigentlich auch, dass ich eine Streberin bin?“ Sie stellte die Frage mit voller Ernsthaftigkeit und ich war erschrocken, dass sie sich um solche Dinge offenbar einen Kopf machte… Aber gut, bei dem Verhalten einiger Klassenkameraden war diese Frage auch wiederum nicht völlig überraschend.
Ich schaute ihr direkt in die Augen und meinte: „Wie kommst du darauf? Ja, du bist die Beste aus der Klasse, aber das stört mich absolut nicht und hat mich bisher auch nie gestört, warum sollte es? Also, was willst du mich eigentlich wirklich fragen?“ Mit dieser deutlichen und direkten Antwort von mir hatte nun sie wohl nicht gerechnet, sodass sie plötzlich völlig still war und einige Sekunden offenbar diese Antwort sacken ließ, als es plötzlich an meiner Tür klopfte und meine Mutter kurz reinschaute. Sie brachte Janine und mir Mittagessen, worüber ich völlig erstaunt war, weil sie das höchstens mal für Tim machte, den sie auch sehr mochte und schätzte. Janine war die Überraschung im Gesicht anzusehen und meinte zu meiner Mutter: „Vielen Dank, das ist wirklich lieb von Ihnen!“ Meine Mutter schmunzelte und meinte nur: „Du darfst mich ruhig duzen.“ Sie reichte uns die Teller und verzog sich wieder aus meinem Zimmer.
Jetzt wusste Janine erst recht nicht mehr, was sie sagen sollte, und war einige Sekunden komplett sprachlos. In diesen Sekunden nahm ich sie zum ersten Mal wahr – nicht als Klassenkameradin, sondern als attraktive junge Frau. Janine war etwa 1,65 m groß und damit kleiner als ich. Sie hatte dunkelblonde Haare, die ihr fast bis zur Mitte ihres Rückens reichten, die sie aber aufgrund der Länge meist in einem komplizierten Zopf trug. Ihre recht kleinen, blauen Augen hatte sie, wie ich an diesem Tag feststellte, etwas mehr mit Wimperntusche betont. Ihre Lippen waren ebenfalls wie ihre Augen recht schmal und mit leicht rosafarbenen Lipgloss versehen. Janine hatte ein gutes Händchen für Kleidung und lief im Gegensatz zu vielen anderen jungen Frauen aus unserer wie auch den Nebenklassen fast nie freizügig herum. Während man bei einigen schon sehr deutlich die Oberweite zu Gesicht bekam – ob man wollte oder nicht -, sah man bei Janine selten etwas mehr Haut. Hin und wieder lief sie in der Schule bauchfrei herum, und das, musste ich mir eingestehen, stand ihr definitiv, da Janine schlank war. Sie war allerdings auch nicht zu schlank. Ich fand Frauen und Mädchen, die eine normale Figur hatten, weitaus attraktiver als welche, bei denen man teilweise schon die Knochen sehen konnte, weil sie zu dünn waren.
Nachdem ich meinen kurz anhaltenden Blick von Janines optischer Erscheinung beendete und ihr wieder direkt in die Augen schaute, meinte sie regelrecht eingeschüchtert zu mir: „Tut mir leid, dass ich dich das gerade gefragt habe. Ich habe das nicht böse gemeint.“ – „Ist schon vergessen. Aber die Frage, wie du darauf kommst, ist trotz allem ernst gemeint.“ – „Ich … Die meisten aus der Klasse können mich nicht leiden und ich vermute, es liegt damit zusammen, dass ich so gute Noten habe.“ – „… und weil du ihnen nicht hilfst, ebenfalls gute Noten zu haben, zumindest denken das vermutlich viele.“ – „Ja, das ist es definitiv auch. Ich verstehe nicht, warum wir echt so viele Idioten in unserer Klasse haben. Ich habe dir die Frage eben gestellt, weil ich den Eindruck habe, dass du das nicht über mich denken würdest und ich einfach sichergehen wollte, ob das auch wirklich so ist.“ – „Ich kann dich beruhigen: Ich denke das nicht über dich. Ich habe das bisher auch nicht ein einziges Mal über dich gedacht.“ Nach einigen Sekunden fügte ich hinzu: „Wenn ich dich nicht mögen würde oder mit dir nicht gut klarkommen würde, hätte ich mich auch nicht gefreut, dass wir diesen Vortrag zusammenhalten dürfen oder dich einfach zu mir eingeladen.“ Peinlich berührt meinte sie: „Ja, du hast Recht… Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe.“ – „Wie gesagt, schon vergessen, war ja nicht weiter schlimm. Meine Mutter mag dich definitiv auch.“ Ich schmunzelte und deutete in Richtung des Tellers, der vor ihr stand, während sie meinte: „Damit habe ich auch definitiv nicht gerechnet. Das hätte sie doch nicht machen müssen.“ – „Das macht sie aber gerne. Ich kann dir sagen, du bist neben Tim bisher die Einzige, bei der sie das gemacht hat.“ – „Wirklich?“ – „Ja, wirklich. Es waren schon einige aus unserer Klasse hier, aber du bist erst die zweite Person, bei der sie das überhaupt gemacht hat.“ – „Jetzt fühle ich mich erst recht schlecht, dass ich dich so angefahren habe.“ Ich hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, als hatte sie eine ganz kleine Träne im Auge, aber, da sie sich in Richtung ihres Tellers drehte, sodass ich ihr Gesicht für einige Sekunden nicht mehr richtig sah, war ich mir doch nicht mehr so richtig sicher.
Ich meinte zu ihr: „Hey, schau mich mal an.“ Sie schaute hoch – die Träne konnte ich tatsächlich nicht entdecken – und ich sagte: „Ich mag dich so, wie du bist. Tim zum Beispiel auch. Also alles ok?“ Ihr harter, verletzter Blick, den sie oftmals in der Schule hatte und den ich auch zwischenzeitlich sah, während wir den Vortrag erarbeiteten, war in diesem Moment komplett entschwunden. „Ja, es ist alles ok. Danke. Du bist lieb!“ Sie lächelte mich an, ich lächelte zurück und meinte: „So, jetzt sollten wir anfangen, zu essen, sonst wird es noch kalt.“
Wir begannen mit dem Essen und nach einigen Momenten, in denen wir still waren, fragte ich sie: „Hast du denn überhaupt Freunde in der Klasse finden können?“ Da war er wieder, dieser traurig verletzte Blick. „Ja, ich verstehe mich wenigstens mit Sabrina unheimlich gut. Die anderen wollten wegen der großen Clique mit mir auch nichts mehr zu tun haben.“ – „Haben sie dir jemals gesagt, warum?“ – „Nein, aber ehrlich gesagt ist es mir auch mittlerweile wirklich egal geworden… Diese Schlampen können mir ruhig gestohlen bleiben.“ Ich verzog aufgrund ihrer überraschenden Wortwahl meine Augenbraue und sie fügte hinzu: „Wenn ich mir anschaue, wie billig manche von denen herumlaufen, bin ich froh, dass ich mit denen keinen engeren Kontakt mehr habe.“ Unrecht hatte sie nicht, einige Mädels aus der Klasse definierten sich mehr über ihre Absatzhöhe und ihre Wimpernlänge als über charakterliche Werte.