Ein anderes Leben
Am nächsten Morgen wachte ich durch meinen Wecker auf und fühlte mich wie ausgekotzt. Das lag zum einen daran, dass ich trotz mehr Schlaf als sonst definitiv noch nicht genug Schlaf hatte, weil die Nacht zuvor so kurz war. Der andere Grund war der, dass ich nicht mehr gewohnt war, gegen halb sieben aufzustehen, weil ich in den letzten sechs Wochen meist viel später auf den Beinen war.
Mein Ablauf war morgens direkt anders als sonst: Da Petra im Schichtdienst arbeitete und wie an diesem Tag morgens schon lange auf Arbeit war, ließ sie mir ein wenig Geld auf dem Flurschrank liegen, damit ich mir vom Bäcker was zu essen hätte holen können. Ich hingegen nahm mir – und das war neu – einfach wenige Minuten mehr Zeit und machte mir morgens selbst mein Essen. Ich war auch früher schon bereit gewesen, das selbst zu machen, aber da meine Mutter morgens immer als Erstes auf den Beinen war, war sie so lieb und machte das Frühstück für meinen Vater und mich gleich mit.
Nach einer Dusche war ich auch direkt auf dem Weg zur Schule, wo ich direkt auf Janine und Tim traf, die gespannt darauf warteten, dass die neuen Klassenlisten ausgehängt werden. Als ich mit Janine kurzzeitig allein war, weil Tim mit anderen Schülern aus dem Jahrgang sprach, meinte sie zu mir: „Wie hast du geschlafen? Du siehst unheimlich müde aus.“ – „Das bin ich auch. Ich habe immerhin durchgeschlafen.“ – „Wie viel hast du denn geschlafen?“ – „Es waren knapp zehn Stunden.“ – „Heftig… Warum bist du dann müde?“ – „Weil ich die Nacht davor vielleicht nur drei Stunden Schlaf hatte.“ – „Oh weh. Geh doch heute einfach früher schlafen, damit du genug ausgeruht bist.“ – „Das werde ich auch machen, ja.“ Nach einigen Sekunden fragte sie mich: „Wie… geht es dir?“ Ich schaute ihr direkt in die Augen und sagte einige Momente nichts. Gereizt wegen der anstrengenden letzten 36 Stunden, wollte ich das aber nicht an ihr auslassen und mäßigte meinen Ton: „Auf jeden Fall nicht gut, so viel weiß ich. Der Zeitpunkt für die Beerdigung hätte auch nicht beschissener sein können.“ – „Damit hast du schon Recht, ja… Halt die Ohren steif.“ Ehe ich noch weiter hätte grummeln können, umarmte sie mich plötzlich sehr lang, worauf ich auch einging. Kaum, dass wir uns lösten, sahen wir einen Lehrer, der die Klassenlisten ans Veröffentlichungsbrett hing. Was war ich froh, als ich einerseits sah, dass ich wirklich mit Janine und Tim in einer Klasse gelandet war und andererseits, dass die meisten Vollidioten in andere Klassen verteilt worden waren! Ich freute mich unheimlich, sodass Janine, Tim und ich zum neuen Klassenraum gingen, wo wir welche der Ersten waren und uns direkt ordentliche Plätze sichern könnten.
Der Schulalltag tat mir erstaunlicherweise gut, weil dieser mich von meiner Trauer ablenkte. Klar, ich musste mir genug Zeit für die Trauer nehmen, aber gleichwohl spürte ich, dass es mir guttat, wenn ich von meinem Kummer abgelenkt wurde, indem ich einem festen Rhythmus nachging. Der erste Schultag war, obwohl er bis fast halb drei ging, unspektakulär, da die meisten Lehrer sich in der ersten Stunde selbst vorstellten und das Gleiche von uns erwarteten, wodurch fast kein echter Unterricht stattfand. Mein Eindruck von den mir bisher unbekannten Klassenkameraden war durchweg positiv. Mit ein paar wenigen verstand ich mich auf Anhieb sehr gut und diesen Eindruck hatte Janine auch. Vor allem freute ich mich für sie mit, dass Sabrina auch wieder mit in unserer Klasse war, sodass Janine ihre engste Freundin auch von Beginn an in ihrer Nähe hatte.
Als Janine und ich nach Schulschluss draußen standen und ich sie eigentlich verabschieden wollte, weil sie von der Schule aus mit dem Bus direkt nach Hause fahren konnte, meinte sie: „Ich fahre heute mit dir mit.“ – „Ui, wie kommt das?“ – „Ich habe halt überlegt, dass ich jetzt regelmäßiger deinen Weg mitfahre, weil das meist sogar schneller ist, obwohl ich einmal umsteigen muss. Wäre das denn ok für dich, wenn wir nach Schulschluss zusammenfahren?“ – „Na klar!“ Ich freute mich ziemlich, weil das bedeutete, dass wir nach der Schule immerhin bis zu einer halben Stunde täglich gemeinsam hatten, je nachdem, wie schnell wir halt von der Schule bis zur U-Bahnstation in der Nähe meines Zuhauses waren. Als fairen Gegenzug, weil Janine vor allem wegen mir diesen Weg fuhr, versprach ich ihr, mit ihr regelmäßig zumindest noch auf einen Bus zu warten, mit dem sie nach Hause fahren konnte – was nochmals für einige Minuten mehr mit ihr sorgen würde.
An diesem Tag wartete ich also mit Janine noch auf ihren Bus. Janine war ziemlich fasziniert von der neuen Klasse und diese begeisterte Seite kannte ich bisher wenig von ihr, weil sie in der Schule so viele negative Erfahrungen bisher sammeln musste. Sie freute sich auf jeden Fall darauf, die vielen neuen Gesichter schnell kennen zu lernen, während ich das weitaus entspannter sah, weil ich mir sicher war, dass man auf Partys oder ähnlichen Veranstaltungen schnell dazu kommen würde.
Als ich abends beim Fernsehen mit meinen Gedanken abdriftete und wieder bei Janine landete, fiel mir auf, dass ihr 17. Geburtstag in etwas mehr als einer Woche bevorstand. Sie hatte am 15. September Geburtstag. Ich griff mein Handy und schrieb Janine: „Hey du, willst du eigentlich deinen Geburtstag nächste Woche feiern? Wenn ja, wann und wo?“ – „Ja, feiern will ich schon. Ich hätte total Lust darauf, an dem Wochenende danach tanzen zu gehen, auch wenn ich ja noch nicht so lang bleiben kann, weil ich ja noch keine 18 bin…“ Ein trauriger Smiley verstärkte ihre Aussage, über die ich eigentlich nur schmunzeln musste. „Immerhin besser ein bisschen als gar nicht tanzen gehen zu können. Willst du nur mit Sabrina, Tim und mir tanzen gehen?“ – „Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass ich einige aus der Klasse einfach frage, ob sie nicht mitkommen wollen. In großer Runde macht das bestimmt noch wesentlich mehr Spaß.“ Ihr machte das sicherlich Spaß, ich für meinen Teil konnte mir viele bessere Dinge als Tanzen vorstellen… Ich war zugegeben noch nie in einer Diskothek oder einem Club, aber nach den Erfahrungen, die ich von anderen Klassenkameraden früher so mitbekommen hatte, gab es echt wesentlich spannendere Unternehmungen.
Ich spürte außerdem etwas anderes, was mich beschäftigte. Mein Gefühl sagte mir, dass ich in irgendeiner Form Janines Geburtstag sehr gerne allein mit ihr verbringen wollte. Warum genau, konnte ich mir nicht erklären, aber mein Empfinden war zumindest eindeutig. Ich schob diesen Gedanken zur Seite, weil es nun Janines Geburtstag war und Janine dementsprechend ihre Spielregeln festlegte.
„Nanu, du schreibst ja gar nichts mehr?“ Ich war so in negative Gedanken übers Tanzen versunken, dass ich ein paar Minuten nichts mehr geantwortet hatte. Als Antwort bekam Janine: „Du kannst natürlich manche aus der Klasse fragen, du wirst ja sehen, wer noch so alles mitkommt. Wünschst du dir irgendwas Bestimmtes zum Geburtstag?“ – „Du musst mir nichts schenken, wenn wir wirklich in eine Diskothek gehen sollten. Dafür bezahlt jeder seinen Eintritt selbst und die Getränke.“ – „Was Kleines würde ich dir aber trotzdem schenken wollen… Also, hast du einen Wunsch?“ – „Musst du aber wirklich nicht machen. Falls du mir wirklich was schenken willst, lasse ich mich gerne überraschen.“ Na super – nicht nur, dass ich höchstwahrscheinlich zum Tanzen würde mitgehen müssen, sondern auch noch, dass ich keine Ahnung hatte, was ich ihr schenken konnte…
„Na gut, wir machen das so! Ich lege mich gleich schlafen, ich bin ziemlich müde. Schlaf schön!“ Sie wünschte mir auch eine gute Nacht und ich machte mich bettfertig, weil ich todmüde war – obwohl es erst 21 Uhr war.
In den darauffolgenden Tagen dieser Woche bemerkte ich, wie Janine einige Mädels und Jungs aus unserer Klasse fragte, ob sie in eine Diskothek mitkommen würden, falls Janine dort ihren Geburtstag feiern sollte. Am Freitag redete Janine mit mir über dieses Thema, als ich nach Schulschluss wieder mit ihr auf ihren Bus wartete. „Da total viele zugesagt haben, würde ich nächsten Freitag abends tanzen gehen. Kommst du auch mit?“ Ich dachte ernsthaft einige Momente über diese Frage nach, weil ich keine Lösung für das Problem, tanzen zu müssen, fand. Janine sah meine Gedanken und ich sagte: „Klar komme ich mit!“ Ich versuchte, über meine Gedanken hinweg zu täuschen, dafür war Janine aber zu scharfsinnig: „… und warum hast du so lange überlegt?“ – „Na ja, ehrlich gesagt habe ich mit Tanzen so überhaupt nichts am Hut.“ – „Oh, das wusste ich gar nicht?“ – „Ich habe es einfach auch überhaupt bisher nicht erzählt.“ – „Kommst du aber trotzdem?“ – „Ja, na klar. Hey, es ist dein Geburtstag, natürlich komme ich mit!“ – „Ok, super. Schau, wenn du nicht tanzen willst, musst du das doch auch nicht.“ – „Du wärest wirklich nicht böse?“ – „Also, ich bin zwar überrascht, dass dir das wohl keinen Spaß macht, aber nein, ich bin nicht böse. So, wie ich nicht unbedingt am PC sitzen könnte, um mit anderen was zu spielen, magst du halt tanzen nicht unbedingt. Finde ich nicht schlimm. Ich finde es vor allem toll, dass du trotzdem mitkommst.“ Sie gab mir zur Verabschiedung wieder einen Kuss auf die Wange und winkte mir zu, als der Bus mit ihr los- und an mir vorbeifuhr.
Da in dieser ersten Woche bereits kräftig mit Hausaufgaben um sich geworfen wurde, hatte ich an diesem Wochenende echt einiges zu tun, auch weil das Niveau plötzlich wieder ein deutliches Stück höher war. Das war auch der Grund, warum Janine meine theoretische Frage nach einem Treffen ablehnte – sie spürte diese Veränderung auch.
Nach dieser ersten Woche stellte ich fest, dass ich in den letzten Tagen sehr wenig, teilweise gar nicht an meine Eltern gedacht hatte. Ich hatte gleich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich von meinem Alltag so ablenken ließ. Tim machte mir mein schlechtes Gewissen direkt wieder zunichte, als er am Telefon bei einem kurzen Gespräch zu mir sagte, dass es normal sein würde, wenn die Trauer irgendwann in den Hintergrund rücken würde. Petra, mit der ich am Sonntag auch kurz über dieses Thema redete, sagte mir, dass es ihr in etwa ähnlich gehen würde.
Darüber hinaus machten wir aus, dass sie mir fortan jede Woche einen kleinen Plan in der Küche hinhängte, wann sie an den jeweils kommenden Tagen arbeiten sein würde, da ich überhaupt keinen Überblick darüber hatte und das einfach im Allgemeinen wissen wollte. Das Zusammenleben mit Petra verlief nach den ersten wenigen Wochen weit problemloser, als ich es erwartet hatte. Es machte mir Mut, dass ich die schwere Zeit dadurch irgendwie würde überstehen können. Bisher konnte ich mich zumindest nicht dazu durchringen, bei dem Verein vom Flyer anzurufen und ich hoffte irgendwie, dass ich das auch nicht brauchen würde… Aber so ganz sicher war ich mir da definitiv noch lange nicht.
Die nächste Woche brach an und der Unterricht blieb anspruchsvoll, aber machte mir auch eine Menge Spaß. Ab dieser Woche gab es von Seiten des Unterrichtes eine Neuheit, da sich jeder von uns bereits am Ende der zehnten Klasse für zwei Fachrichtungen entscheiden musste, die er oder sie ab der elften Klasse verstärkt belegen wollte. Das sollte ab der zwölften Klasse zu der Situation führen, dass die beiden gewählten Fächer diejenigen sein würden, in denen man die meisten Stunden und Arbeit verbrachte. So kam es eben dazu, dass ich bereits jetzt mit Janine und Tim eben nicht mehr alle Stunden gemeinsam hatte, was ich schon schade fand. Mir wurde aber bewusst, dass das in der nächsten Klassenstufe noch schlimmer kommen konnte, da Janine als Prioritätsfächer Latein und Englisch wählte. Immerhin hatte ich Mathematik und das neu wählbare Fach Informatik gewählt, sodass ich Informatik mit Tim zusammen haben konnte. Meine Wahl mit Informatik war einfach eine erste Idee, da ich im Umgang mit PCs vertraut war und mich interessierte, was dort unterrichtet wurde. Notfalls war es auch noch möglich, das Fach zur zwölften Klasse zu wechseln, wenn man damit so rein gar nicht klarkommen sollte. Tim wählte neben Informatik noch Physik als Zweitfach, womit er einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hatte.