Kapitel 7

Abschied

In den nächsten Tagen holte mich regelmäßig meine Trauer ein, auch wenn ich spürte, dass es mir immerhin ein wenig besser als an den ersten Tagen nach der Schocknachricht ging. Tim, Janine und ich machten für den Mittwoch der letzten Ferienwoche aus, dass wir bei dem immer noch traumhaft schönen Wetter zusammen was unternahmen. Tim und ich hatten zunächst die Idee, ins Freibad zu gehen, Janine war aus nicht ganz klaren Gründen nicht dafür. So entschieden wir uns dazu, einfach quer durch die Stadt zu ziehen und uns treiben zu lassen.

Das Treffen ging insgesamt fast drei Stunden lang und wir hatten eine ganze Menge Spaß, weil wir wirklich viel redeten und Tim mich darin ansteckte, Janine zu ärgern und mit ihr herumalberten. Das Treffen war wieder locker und witzig, auch wenn dieses Mal die besondere Nähe zwischen Janine und mir ausblieb. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass Tim eben die ganze Zeit mit dabei war und dadurch die Romantik, die sie und ich fast jedes Mal hatten, gar nicht erst zustande kommen konnte. Dieses Mal brachte ich Janine auch nicht nach Hause, weil ich stattdessen die Chance nutzte, nach unserem Treffen noch einen kurzen Moment mit Tim reden zu können.

„Sie ist letzte Woche an dem Abend, wo ich von dir ging, bei mir über Nacht geblieben, ich konnte dir das nur die ganze Zeit nicht erzählen, weil sie die ganze Zeit ja nun in unserer Nähe war.“ – „Krass! Ist bei euch was gelaufen?“ Ich schmunzelte, weil er direkt wieder in diese Richtung dachte. „Nein, es ist nichts wirklich passiert, außer, dass sie mich die ganze Zeit getröstet hat, weil ich wieder völlig fertig war. Ich bin abends eingeschlafen, als sie mir den Kopf gekrault hat, und sie hat sich die Nacht über an mich heran gekuschelt.“ – „Oha, ihr kommt euch ja echt schnell näher. Aber ich finde, dass das ein richtig gutes Zeichen ist, auch wenn immer noch nicht klar ist, ob sie weitergehendes Interesse an dir hat.“ – „Ja, das weiß ich eben auch nicht und das verwirrt mich auch so sehr.“ – „Wie kam es dazu, dass sie an dem Abend noch zu dir gefahren ist?“ – „Ich hatte sie angeschrieben, weil es mir so richtig dreckig ging. Sie hatte immer gesagt, dass ich sie anrufen oder anschreiben soll, wenn es mir nicht gut geht. Sie hat direkt von sich aus vorgeschlagen, ob sie noch bei mir vorbeigefahren kommen soll.“ – „Ich bin überrascht, dass sie sich so viel Mühe gemacht hat, wirklich noch zu dir gefahren zu kommen.“ – „Ich habe damit auch nicht gerechnet, aber auf jeden Fall ist sie ein echt besonderer Mensch. Das war, wenn man sie nur in der Schule erlebt, so nicht zu erwarten.“ – „Definitiv nicht. Sie wird aber deine Nähe auf jeden Fall sehr, sehr genießen, wenn sie sich nachts sogar an dich heran gekuschelt hat.“ – „Wir sind morgens auf jeden Fall so wach geworden und es sah mir nicht unbedingt zufällig aus, wie sie da an mir lag. Auf jeden Fall hat sie einen unheimlich geilen Körper.“ – „Dass du so was sagst!“ Wir lachten und ich meinte: „Na ja, das trifft es bei Janine halt am besten, ich habe ein bisschen mehr von ihrer Oberweite gesehen, als sie da an mir gekuschelt lag … Das hat mich schon echt angezogen.“ Tim kam aus dem Lachen nicht mehr raus und meinte nur: „Wer weiß, vielleicht bekommst du die schneller zu sehen, als du glaubst…“

Die letzten drei Tage bis zur Beerdigung vergingen und mir ging es von Tag und zu Tag immer schlimmer. Janine rief mich am Tag vor der Beerdigung an und fragte von sich aus, ob sie nach der Beerdigung noch einige Zeit mit mir verbringen dürfe. Es war klar, warum sie fragte – vermutlich, um sicher zu gehen, dass ich mir nicht noch was antun oder ganz und gar zusammenbrechen würde. Ich stimmte ihrem Vorschlag zu und sagte ihr, dass ich es gut fände, wenn sie vielleicht noch für ein wenig Zeit mit mir draußen bleiben würde, weil ich höchstwahrscheinlich so direkt nach der Beerdigung nicht in die Familienwohnung zurückgehen könne. Sie sagte sofort zu, wofür ich ihr wirklich dankbar war.

In der Nacht zum Tag der Beerdigung schlief ich vielleicht drei Stunden, weil es mir so furchtbar schlecht ging. Petra sah am nächsten Morgen auch direkt, was mit mir los war, sprach mich aber nicht darauf an, weil es ihr vermutlich auch nicht so viel besser ging. Ich sagte ihr nur, dass ich bei dem Essen, welches direkt nach der Beerdigung stattfinden sollte, nicht teilnehmen würde, weil ich das einfach nicht konnte und stattdessen mit Janine und womöglich Tim danach noch zusammenbleiben wollte. Sie war einerseits verstimmt, erlaubte mir das andererseits aber, weil sie offenbar auch verstehen konnte, warum ich so handelte.

Janine und Tim, meine Oma, aber auch mein Onkel Steffen waren bereits vor dem Eingang des Friedhofs, als Petra und ich eintrafen. Ich freute mich unheimlich darüber, Steffen nach so vielen Jahren zu sehen und ich sah ihm die Freude umgekehrt auch definitiv an. Das viel Wichtigere war, dass diese Begegnung mir vorher schon unendlich viel Kraft gab, weil Steffen mit seiner verständnisvollen und lieben Art gleich sehr Trost auf einmal spendete. Janine, aber besonders auch Tim sahen erwartungsgemäß sehr geknickt aus. Tim nahm der Tod meiner Eltern auch sehr mit, weil er eben in den Jahren so viel Verbindung zu ihnen aufgebaut hatte. Janine nahm mich sehr lange in den Arm und flüsterte mir nur leise zu: „Wir schaffen das!“ Wie gerne ich ihr in diesem Moment zugestimmt hätte…

Meine Oma weinte schon die gesamte Zeit über, sodass mein Onkel Steffen und Petra sich die ganze Zeit um sie kümmerten und sie stützten, als wir in Richtung Kirche auf dem Friedhof gingen. Janine hakte sich in meinen Arm ein, um mich tatsächlich die ganze Zeit zu stützen. Tim war auch die ganze Zeit in meiner Nähe. Ich war beiden so unendlich dankbar, wie sie sich bemühten und auf mich aufpassten – auch wenn ich das nicht zeigen konnte.

Die Kirche war sehr klein und hatte nur wenige Sitzplätze, was nicht weiter schlimm war, da wir nur sehr wenige Gäste waren. Meine Mutter und… Stiefvater hatten jeweils einen besten Freund, die beide gekommen waren. Meine Oma und Onkel Steffen waren mütterlicherseits, von meinem nicht leiblichen Vater war leider keiner mehr am Leben, da er Einzelkind war und seine Eltern bereits sehr früh verstorben waren. Ansonsten war die Familie von Steffen, bestehend aus seiner Frau und seinen zwei Kindern, ebenfalls mit dabei, sowie meine Oma, Petra und letztlich Janine, Tim und ich. Ich war aber negativ erstaunt, dass vor allem mein Stiefvater so wenig Kontakte hatte. Hatte Petra wirklich jede Person kontaktiert, die in Frage kam?

Die Zeremonie bestand aus zwei Liedern, die gespielt und von mir ausgesucht worden waren. Ich wusste von beiden Liedern, dass meine Eltern sie sehr mochten, weswegen ich sie vorgeschlagen hatte. Ich war dankbar, dass Petra und meine Oma diesen Vorschlag und Wunsch von mir so umgesetzt hatten. Mir flossen durchweg die Tränen und ich machte mir nach wenigen Sekunden schon bereits nicht mehr die Mühe, sie wegzuwischen. Ich schaute irgendwann zu Janine und Tim, die direkt neben mir saßen. Tim standen die Tränen in den Augen, auch wenn er versuchte, Fassung zu bewahren, während Janine wie ich hemmungslos weinte. Dass sie so sehr weinte, machte mich im Inneren nur trauriger, weil ich so eine heftige Reaktion von ihr nicht erwartet hatte. Als sie meinen Blick sah, machte sie sich nicht mal mehr die Mühe, vorsichtig zu lächeln, sondern suchte nach einem tröstenden Blick, den ich ihr versuchte, zu geben. Sie griff vorsichtig nach meiner Hand, die ich festhielt. Wenige Sekunden später verschränkten wir unsere Finger miteinander.

Mir kamen in diesen Momenten so unendlich viele Erinnerungen hoch, die ich mit meinen Eltern verband. Die vielen lustigen und fröhlichen Momente, die Erinnerungen, in denen wir mit Tim zusammen wegfuhren… Unsere Urlaube. All das war einfach weg. Weggerissen von so einem Schwein, das in das Auto meiner Eltern gerast war.

Janine und Tim mussten mich regelrecht dazu zwingen, aufzustehen, als meine Eltern in einem langen Spaziergang bis zum Grab getragen wurden. Ich hatte so wacklige Beine, dass Janine und Tim mich stützten. Den Weg, den wir gingen, prägte ich mir bis ins kleinste Detail ein, obwohl ich alles nur in Trance mitbekam. Als meine Eltern in das Grab gehoben wurden, ließ ich allen anderen den Vortritt, eine Rose und etwas Sand in das Doppelgrab zu werfen. Zum Abschluss schlich ich, an beiden Armen von Janine und Tim gestützt, vor das Grab, wo ich mich von beiden löste und mit wackligen Beinen zwei Rosen und etwas Sand in das Grab warf. Dass mich mit ziemlicher Sicherheit sehr viele gerade anschauten, war mir egal. Ich sagte leise zu meinen Eltern: „Ich habe euch lieb… Ich werde euch niemals vergessen… Ich verspreche euch, dass ich versuche, das Beste aus zu mir zu machen, so wie ihr es immer wolltet…“ Ich knickte zusammen und fiel auf die Knie. „Ich habe euch lieb.“ Ich verharrte wenige Sekunden so, bis Janine und Tim mir aufhalfen und wir geschlossen vom Grab weggingen. Mein Onkel Steffen kam direkt als Erstes zu mir, umarmte mich, was mir wieder sehr viel Trost spendete, und sagte leise: „Du warst immer ihr Großer. Sie waren immer unheimlich stolz auf dich, das darfst du nie vergessen.“ Ich weinte dadurch nur noch stärker, sodass die Umarmung von uns sehr, sehr lange ging. Janine und Tim zogen sich in diesen Momenten etwas von der Gruppe zurück und gaben sich gegenseitig etwas Halt. Ich stand mit meiner Familie und den Freunden meiner Eltern noch für wenige Minuten am Grab, bis wir geschlossen das Grab und den Friedhof verließen. Janine und Tim suchten sofort wieder meine Nähe.

Am Friedhofsausgang verabschiedete ich mich von allen, wobei ich mit Steffen ausmachte, dass wir uns in der folgenden Woche noch mindestens ein Mal sehen würden, da er für die ganze nachfolgende Woche in unserer Stadt sein würde. Ich sagte ihm unter vier Augen, dass ich einfach nicht bei dem Essen mit dabei sein könnte, weil ich das einfach nicht aushalten würde. Er hatte dafür volles Verständnis. Wir hielten zum Abschluss noch fest, dass wir uns am Mittwoch sehen würden, weil wir uns eben viele Jahre nicht gesehen hatten und diese fehlende gemeinsame Zeit einfach ein wenig aufholen wollten.

Janine, Tim und ich liefen vom Friedhof aus völlig wahllos durch die Gegend, quer durch kleine Straßen und durch Ecken, in denen es still war. Ich weinte die ganze Zeit und lief mit gesenktem Kopf, während Janine sich wieder in meinem Arm eingehakt hatte. Wir drei schwiegen alle sehr lange, bis Janine die Stille durchbrach: „Marc?“ Ich schaute ausnahmsweise auf und sie direkt an, während sie sagte: „Deine Eltern haben sich sicher darüber gefreut, was du ihnen vorhin gesagt hast.“ Sie lächelte zaghaft und ich nickte ihr zu, da ich nicht mal mehr ein paar einfache Worte herausbekam. Dieser Spaziergang ging weit über eine Stunde und wir redeten dabei sehr wenig. Erst zum Ende hin zwang ich mich auch dazu, nicht mehr zu weinen. Als wir uns verabschiedeten, war ich den beiden so sehr dankbar, dass ich es nicht ordentlich in Worte ausdrücken konnte. Ich sagte letztlich nur: „Danke, dass ihr mich die ganze Zeit gestützt habt.“ Tim entgegnete darauf: „Dafür sind wir da.“ Janine stimmte ihm zu und ich sagte etwas, was ich sonst nie sagte: „Ich habe euch lieb.“ Ich drückte beide zur Verabschiedung und Janine flüsterte mir ganz leise ins Ohr: „Wir dich auch.“

Auch wenn ich mich von den beiden verabschiedete, fuhr ich nicht direkt nach Hause, da ich das auch weiterhin einfach nicht konnte. Ich lief weiter ziellos durch die Gegend und kam nach zwei weiteren Stunden nach Hause. Petra war bisher noch nicht da. An diesem Tag redete ich bis auf wenige Sätze fast nichts mehr – die wenigen Gesprächsfetzen mit Petra bestanden daraus, dass ich sie daran erinnerte, dass meine Schule morgen wieder losgehen würde und ich daher einige Sachen vorbereiten würde.

Kurz, bevor ich am Abend schlafen ging, schrieb mir Janine noch plötzlich eine Nachricht: „Marc, deine Eltern sind sicher stolz auf dich, dass du dich nicht hängen lässt und weiter so tapfer bist. Rufe mich jederzeit an, wenn es dir in der Nacht nicht gut gehen sollte oder wenn du nicht schlafen kannst. Ich habe dich lieb, schlaf schön!“ Diese Nachricht zog meine Stimmung wesentlich nach oben, auch wenn ich trotz allem völlig fertig war. Ich schrieb ihr zurück: „Du bist süß, danke… Danke, dass du vorhin mit dabei warst. Ich hätte das glaube ohne Tim und dich nicht aushalten können. Schlaf du auch schön.“ – „Wir sind für dich da. Halt durch, hörst du?“ – „Ich versuche es…“

Ich schlief in dieser Nacht vor Erschöpfung endlich mal wieder durch.