Eine neue Freundschaft
Am nächsten Vormittag erwachte ich völlig erschöpft, aber immerhin ausgeschlafen. Ich hatte locker über zehn Stunden geschlafen, was mein Körper definitiv brauchte. Die Erschöpfung durch die letzten Tage war gestern spürbar, aber ich hatte sie bewusst ausgeblendet, dafür holte mich die Müdigkeit abends ein.
Ich traf Petra am Küchentisch und sie fragte: „Na, hast du gut geschlafen?“ – „Ja, ich bin gar nicht wach geworden und gestern ziemlich früh eingeschlafen.“ – „Du hast den Schlaf auch definitiv gebraucht.“ – „Wie kommst du darauf?“ – „Ich hatte gestern zwischenzeitlich kurz Sorge, dass du wieder zusammenklappst.“ – „Sah ich so schlimm aus?“ – „Ja, du sahst völlig fertig aus.“ – „Das bin ich auch weiterhin noch.“ – „Marc, hör mal… Mach ganz in Ruhe. Lass dir Zeit.“ Ich nickte, weil ich auch einfach nicht wusste, was ich darauf antworten sollte.
„Schau, hier.“ Sie drückte mir einen Flyer in die Hand und meinte: „Den hat mir die Frau vom Jugendamt gegeben. Das ist ein Verein, bei dem du dich jederzeit melden kannst, wenn du willst. Die sind genau für solche Sachen da, wie… jetzt.“ – „Was bringt mir das genau?“ – „Die bieten solche Gesprächsgruppen an, dass du zum Beispiel mit anderen Jugendlichen sprechen kannst, denen es genauso geht und ging wie dir.“ – „Verstehe.“ – „Du kannst da auch Einzelgespräche führen, wenn dir das mehr hilft… Entscheide du ganz allein, ob du dahingehen möchtest. Wenn du möchtest, begleite ich dich da auch hin und nehme auch an den Sitzungen teil, falls dir das hilft.“ – „Danke… Ich schaue mir das in Ruhe und denke darüber nach.“ – „Mach das. Das klingt doch gut. Und ich habe hier noch eine Telefonnummer für dich.“ – „Von wem ist die?“ Sie schob mir eine handgeschriebene Nummer rüber. „Das ist die Nummer von einem Psychologen aus dem Krankenhaus. Er sagte mir, du kannst ihn immer anrufen, wenn es dir dreckig geht. Du erinnerst dich, das war der Arzt, den du im Krankenhaus so nett fandst.“ Sie hatte Recht, es gab einen Arzt, den ich wirklich unheimlich empathisch und einfühlsam fand. Er hatte mich besonders oft am Abend im Zimmer besucht und ich hatte dort schon das Gefühl, dass er das eigentlich wirklich gar nicht musste. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich ihn anrufen werde, ich hatte den Eindruck, dass die Gespräche mit ihm ein bisschen geholfen haben…“ – „Wenn du möchtest, kann ich mich auch nach einem Psychologen umschauen, falls du so etwas möchtest. Du könntest da auch regelmäßig über all die Sachen reden, die dir durch den Kopf gehen.“ – „Danke, das brauchst du aber, glaube ich, nicht. Ich möchte das erst mal… ein paar Tage einfach alles in den Griff bekommen. Ich habe das alles noch nicht so richtig verstanden.“ – „Das geht uns allen vermutlich auch so, Großer. Ich kann dich auf jeden Fall verstehen. Oma hat das auch noch nicht verkraftet. Wenn du mit mir reden willst, kannst du das auch jederzeit machen. Sollte ich gerade nicht da sein, rufst du mich einfach an, hörst du?“ – „Mach ich… Danke. Vor allem, dass du hier wirklich einziehst. Mir tut das einfach leid, weil sich bei dir alles dadurch so heftig verändert.“ – „Mach dir darum keinen Kopf, Großer. Ich tue das gerne und ich tue es vor allem für dich, aber auch für deine Mutter. Du bist auch schon 17, das heißt, eigentlich passt du schon selbst auf dich auf, dadurch ist das alles ja auch so viel leichter, für dich da sein zu können.“
„Was ich dich fragen wollte: Kann ich dir helfen, wenn du deine Sachen hierherbringst?“ – „Das ist lieb, Großer, aber lass mich das ruhig erledigen. Ich habe eine Umzugsfirma beauftragt, die sich um vieles kümmern wird.“ – „Ok. Was passiert mit den Sachen, die wir schon hier haben?“ – „Wenn es ok für dich ist, lassen wir die Wohnungseinrichtung hier weitestgehend so. Da meine Wohnungsmöbel noch teilweise fast neu sind, werde ich meine Sachen für dich aufbewahren, bis du alt genug zum Ausziehen bist.“ Ich bekam große Augen und schaute sie verdutzt an. „… Für mich?“ – „Ja, na klar. Wenn du irgendwann allein wohnen wirst, kannst du meine ganze Wohnung definitiv gebrauchen.“ Mir blieb völlig die Sprache weg, was Petra, die sonst immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, sichtlich amüsierte. Ich hatte soweit einfach gar nicht gedacht, weil… allein wohnen halt für mich noch lange nicht in Frage kam. Sie meinte: „Na, was ist denn nun los? Kriegst du kein Wort mehr raus?“ – „Ich … Danke!“ – „Nicht dafür, Großer.“ Ich drückte sie einfach. Sie meinte: „Das wäre doch auch viel zu schade um all meine neuen Möbel und da ich sie halt definitiv nicht brauche, macht es doch auch nur Sinn, dass du sie bekommst und mitnimmst, wenn du alt genug bist. Das hat auch den Vorteil, dass ich sie jetzt nicht Hals über Kopf verkaufen muss.“ Ich war wirklich perplex, als sie noch ergänzte: „Es gäbe tatsächlich aber eine Sache, bei der du mir helfen könntest: Wir müssen in euren Keller schauen und all die Sachen rauswerfen, die man vielleicht wirklich nicht mehr gebrauchen kann. Wir brauchen Platz für die Möbel, damit wir sie einlagern können. Je früher, desto besser.“ Dass ich ihr dabei half, war jetzt erst recht selbstverständlich.
Gesagt, getan. Wir widmeten uns den ganzen Nachmittag über dem Keller. Wir hatten gar nicht so viele Sachen drin, mein Fahrrad blieb dort natürlich, aber sonst warfen wir vieles weg. Bei manchen Sachen musste ich auch etwas schlucken, weil natürlich Erinnerungen dranhingen, aber ich riss mich auch wegen Petra zusammen und löste mich von vielen Sachen, damit wir wirklich genug Platz hatten.
Sie schlug für den Abend als Belohnung vor, dass wir uns doch einen angenehmen Filmabend mit Popcorn, Pizza und Ähnlichem machen könnten. Ich war ziemlich überrascht und stimmte zu, weil ich die Ablenkung definitiv gebrauchen konnte. Gleichzeitig lernte ich einige neue Seiten kennen, wie zum Beispiel diese besonders lockere Art von Petra. Ich spürte auch, dass sie das nicht machte, weil sie „cool“ rüberkommen wollte, sondern, weil sie wirklich im Innern lockerer war, als man vielleicht auf dem ersten Blick erahnen konnte. Das gesamte restliche Wochenende verbrachte ich größtenteils zu Hause und ging nur am Sonntag ein wenig nach draußen. Aber wegen eines herannahenden Gewitters führte mich mein Weg nach weniger als einer Stunde doch wieder sehr zügig nach Hause, weil das Unwetter ziemlich heftig ausfiel.
Ich ging am Sonntag extra recht früh schlafen, damit ich am Montag auch wirklich ausgeruht war. Janine schrieb mir gegen elf Uhr: „Na, Schlafmütze?“ Ich antwortete: „Ich bin schon seit fast zwei Stunden wach, ätsch!“ – „Wirklich? Bist du aus dem Bett gefallen?“ – „Nein, aber ich war rechtzeitig im Bett, damit ich nicht erst um 16 Uhr bei dir ankomme.“ Ich setzte dazu einen zwinkernden Smiley und sie antwortete: „Das hätte ich selbst dir nicht zugetraut! Meine Eltern sind nachher nicht da, aber es kann sein, dass sie später vielleicht noch irgendwann kommen.“ – „Alles klar. Bis nachher!“ – „Ich freu mich!“
Durch meine Vorfreude auf das Treffen mit Janine hatte ich das vergangene Wochenende tatsächlich sehr wenig an meine Eltern gedacht. Sobald ein Gedanke auch nur ansatzweise in die Richtung ging, zerbrach meine innere Stabilität sofort in tausende Einzelteile, aber mir wurde nach diesen wenigen Tagen bewusst, dass ich irgendwie damit klar kommen musste… Diese Wunde würde für immer regelmäßig aufreißen.
Ich suchte mir extra ordentliche Kleidung in Form eines schicken, aber locker sitzenden Hemdes heraus, auch für den Fall, dass ich zum ersten Mal auf Janines Eltern treffen sollte. Ich parfümierte mich sogar etwas ein, was ich sonst eigentlich nie tat. Meine kurzen Haare zu verwuscheln war nie ein Problem. Bevor ich losging, wünschte mir Petra noch viel Spaß und sagte nur noch: „Denk daran, mir ist es egal, wann du wieder zu Hause bist. Es wäre zumindest schön, wenn du mir sagen würdest, wann du ungefähr hier bist, wenn es bis tief in die Nacht geht.“ – „Bis tief in die Nacht?“ – „Na ja, du bist 17. Du willst gar nicht wissen, was ich mit 17 schon so alles gemacht habe…“ Sie lachte und steckte mich damit an, darauf meinte ich: „Ich denke, ich bin abends vielleicht gegen 20 oder 21 Uhr wieder hier.“ – „Wie gesagt, mach ruhig, auch, wenn es spät wird. Wenn du mir zumindest zwischendurch Bescheid gibst, sollte es eher Richtung Nacht werden, wäre das toll, so brauche ich mir zumindest keine Sorgen zu machen.“ – „Du bist echt viel lockerer als Mama und Papa, die waren da noch recht streng.“ Bumms, ich hatte doch wieder an sie gedacht.
Auch Petra war kurze Momente lang still, sie entgegnete im Anschluss: „Ich war schon immer lockerer als deine Mutter, aber da du schon 17 bist, finde ich das überhaupt nicht schlimm. Ich war damals regelmäßig schon auf Partys oder in Diskotheken, weil Oma mit uns auch nicht streng war. Deine Mutter war halt nur nicht so jemand, der wirklich weggegangen ist.“ – „Das wusste ich alles gar nicht.“ – „Deine Mutter war halt ein sehr ruhiger Mensch. Sie war immer für alle da und allein deshalb war sie uns allen auch so wichtig.“ Ich hatte den Eindruck, als würde sie eine Träne im Auge haben, aber ich konnte es aus ein paar Metern Entfernung nicht ganz sehen. „Deine Mutter war auch immer die Vernünftigste und hatte immer eine gute Idee, wie man Probleme am besten lösen konnte.“ Ich war neugierig, auch wenn mir das Thema natürlich wieder an die Nieren ging. Ich wollte gerade noch eine Frage stellen, aber ich wurde unterbrochen: „Komm, husch mit dir, zieh dich an, sonst kommst du noch zu spät zu deinem Date.“ Sie lachte wieder und steckte mich damit an. Ich sparte mir einfach meinen Kommentar, dass das Treffen kein Date war.
Ich stand pünktlich vor Janines Haustür und sie ließ mich wenige Sekunden nach meinem Klingeln hinein. Die zwei Etagen nach oben lief ich einfach und ich sah, wie sie oben einen Schritt aus der Wohnungstür gekommen war und mich bereits breit anlächelte. Wir drückten uns, als ich endlich vor ihr stand, und die Umarmung ging erstaunlich viele Sekunden, bis ich sie danach für einen Moment genau anschaute. Sie war wieder echt attraktiv und hatte neben schwarzer Wimperntusche auch einen leichten Blaustich aufgetragen, der ihre strahlend blauen Augen nur noch mehr verstärkte. Um den Fokus völlig auf die Farbe Blau zu legen, trug sie ein dunkelblaues, recht kurzes Oberteil, bei dem man – typisch Janine – von ihrer Oberweite nur sehr wenig sehen konnte. Allerdings fiel mir bei diesem Oberteil zumindest zum ersten Mal auf, dass ihre Oberweite gar nicht so klein war – sie war wahrscheinlich völlig normal im Durchschnitt. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Zusätzlich trug sie einen grau-schwarzen, recht kurzen Rock, sodass man ihre Beine sah. Alles in allem zog sie mich von Beginn an gleich enorm an.
„Schickes Hemd“, sagte sie, was mich irgendwie überraschte. Meine Kleidung war halt schlicht und normal, zumindest empfand ich sie so. „Danke. Ich finde, dein Outfit steht dir echt gut.“ – „Danke… Du bist süß! Komm, wir gehen rein, drinnen ist es immer noch richtig schön kühl.“ Ich folgte ihr und stellte genau das auch fest. Draußen war es brutal warm, während ihre Familie es geschafft hatte, in der Wohnung die Temperatur um einiges kühler zu halten. Janine führte mich recht fix durch die Wohnung und ich fand sie echt schön – sowohl Janine, aber auch die Wohnung… Neben einem riesigen Wohnzimmer und einer halboffenen Küche sah ich ein recht großes Schlafzimmer nur kurz aus der Entfernung, während Janines Zimmer auch ziemlich groß war. Ihr Zimmer war vermutlich sogar größer als meines, auch wenn sie bei meinem so überrascht gewesen war. Der prägende Unterschied war aber vermutlich, dass sie all die Schränke mit Kleidungsstücken und dergleichen im Zimmer hatte, während ich das große Glück hatte, Kleidung wie Hemden oder T-Shirts in Schränken auf dem Flur auslagern zu können. Wir hatten an den Seiten im Flur im Innern der Wohnung Schränke mit Schiebetüren, sodass man platzsparend eine ideale Möglichkeit hatte, Dinge zu verstauen.
Mir gefiel der Stil ihres Zimmers, gerade, weil er das passende Gegenstück zu meinem Zimmer war. Bei ihr dominierte die Farbe Rot, in seinem sehr dunklen Ton, sodass es schon in Richtung weinrot ging. Mein Zimmer hatte einen Schwerpunkt auf die Farbe Blau und war etwas heller, aber es war schön zu sehen, dass sowohl ihr als auch mein Zimmer besonders auf die jeweilige Farbe ausgerichtet wurde. Sie hatte ein großes Bett, welches definitiv Platz für zwei Personen hatte. Neben einigen Schränken, die vor allem am Rand auf einer Seite des Zimmers standen, hatte sie auch einen bequemen Sessel, in dem man eigentlich nicht mehr aufstehen wollte, sobald man drin saß – was ich auch feststellen musste. Was mir auch auffiel, war ihr enormer Hang zur Sauberkeit, ich entdeckte nirgends Staub oder Anzeichen davon. Sie war in jedem Fall gründlicher als ich, auch wenn ich mir bei Besuch schon wirklich Mühe gab.
„Ich mag den Stil deines Zimmers total.“, sagte ich ihr, als sie freudig entgegnete: „Danke schön… Ich habe mir die Farbe und viele Sachen wirklich selbst ausgesucht.“ – „Ja, ich mag diese weinrote Farbe total.“ – „Ein Junge, der die Farbe Rot mag?“ – „Ja, auch so was soll es geben.“ Ich streckte ihr die Zunge raus und sagte: „Ich mag generell rot und blau als Farben.“ – „Ich mag auch rosa als Farbe, aber so etwas will ich nicht als Farbe in meinem Zimmer haben.“ Wir schmunzelten und Janine fragte mich: „Hast du eigentlich überlegt, was wir heute machen könnten?“ – „Nein, nicht so richtig. Wenn es nicht so warm wäre, würde ich sagen, dass wir doch wieder nach draußen gehen könnten. Aber eure Wohnung ist so schön kühl. Bei uns zu Hause ist es die Hölle, weil die Sonne den ganzen Tag rein scheint.“ – „Oh weh… Ich hätte zumindest eine Idee: Hast du zu Hause schon zu Mittag gegessen?“ – „Nein, leider nicht, ich habe es irgendwie verpennt vorhin und als ich es bemerkt hatte, war es zu spät.“ – „Das klingt prima, ich habe auch noch nichts gegessen, aber meine Mutter hat vorhin was zu Mittag gemacht und extra für dich noch ein bisschen mitgemacht, weil sie nicht wusste, ob du zu Hause vorher noch was isst.“ Ich war vermutlich genauso erstaunt wie Janine vor einigen Wochen, als… meine Mutter Essen für sie mitgemacht hatte.
„Das ist echt lieb, danke schön!“ – „Bestelle ich ihr nachher, falls du sie nicht noch selbst sehen solltest. Apropos: Wie viel Zeit hast du heute eigentlich?“ – „Ich habe eigentlich keine Zeitbegrenzung. Meiner Tante ist es egal, wann ich zu Hause bin. Ich soll ihr nur Bescheid sagen, wenn es bis tief in die Nacht geht.“ – „Das hätte ich auch gerne, meine Eltern sind da noch strenger.“ – „Aber so lange dauert es ja auch nicht mehr, bis du zumindest 17 bist.“ – „Ja, ich freue mich auch schon darauf. Meine Eltern haben zumindest gesagt, dass es ok für sie wäre, wenn ich bis Mitternacht irgendwo bleibe, sobald ich 17 bin. Aktuell erlauben sie mir nur bis 22 Uhr, mit Ausnahme auch mal etwas länger.“ – „Ich finde das aber auch ganz fair.“ – „Ja, es geht auf jeden Fall. Aber ich habe keine eigentlich auch keine so richtige Zeitbegrenzung, außer natürlich, wir wollen bis Mitternacht oder so irgendwas machen.“ Sie schmunzelte und ich meinte: „Wir schauen einfach, wie wir so Lust haben. Wir könnten abends, wenn es nicht ganz so spät ist, nach draußen gehen, dann ist es bestimmt auch nicht mehr so heiß draußen.“ – „Das klingt nach einer schönen Idee!“ Ich nickte und sie ging vor zur Küche, wo sie für uns Essen auftat.
Das Essen schmeckte prima und ich war von ihrer Mutter oder allgemein von ihren Eltern positiv überrascht, auch wenn ich sie noch nicht kannte. Während wir aßen, sprachen wir gar nicht so viel, was vermutlich mehr dem guten Essen verschuldet war als der Tatsache, dass Janine wieder ein bisschen schüchtern wirkte… Wieder zurück in ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett und blieb auf dem Rücken liegen, während ich mich in ihrem Sessel breitmachte, der mich schon wieder voll im Griff hatte.
„Was hast du die letzten Tage so gemacht?“, fragte mich Janine. „Ich war sehr viel zu Hause und ich habe ein bisschen mehr Zeit mit meiner Tante verbracht.“ – „Verstehst du dich denn immer noch gut mit ihr?“ Ich kämpfte im Innern mit meinen bösen, traurigen Gedanken und Janine schob nach wenigen Sekunden rein: „Wenn ich dich etwas frage, was du nicht beantworten möchtest, ist das völlig ok, hörst du?“ – „Du darfst mich alles fragen, was du willst.“ – „Wirklich alles?“ – „Haha, du führst doch irgendwas im Schilde… Wenn du mich so fragst, darfst du mich fast alles fragen.“ Wir schmunzelten und ich meinte: „Nein, frage mich ruhig, was du möchtest. Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch. Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich verstehe mich gut mit ihr, und ich habe den Eindruck, dass wir uns gegenseitig helfen, drüber hinwegzukommen.“ – „Wie geht es dir momentan?“ Ihre Fragen waren wirklich hart und zwangen mich dazu, mich wieder mit dem Thema zu befassen, aber gleichwohl war es auch irgendwie ganz gut, dass ich darüber sprach und nicht alles in mich rein fraß. Ich wich mit meiner Antwort aber zunächst aus: „Momentan fühle ich mich sehr wohl, weil ich mit jemand, der mir wichtig ist, Zeit verbringen kann und weil ich in diesem unheimlich flauschigen und weichen Sessel sitzen darf… aus dem ich vermutlich nie wieder rauskomme. Mit vollen Magen erst recht nicht.“ Wir lachten und sie sagte: „Du weißt, was ich meine.“ – „Es… geht aktuell halbwegs. Ich versuche, nicht daran zu denken. Aber es funktioniert oft einfach nicht. Ich… Ich sitze teilweise stundenlang zu Hause herum und mache einfach nichts.“ Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Janine sich mittlerweile wieder hingesetzt hatte und mich besorgt anschaute. „Du kannst mir immer schreiben oder mich anrufen, wenn etwas ist, hörst du?“ – „Du bist lieb. Aber ja, das weiß ich doch.“ – „Mach es aber auch wirklich, wenn es dir nicht gut geht.“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, denn ich war jemand, der viele Dinge mit sich selbst ausmachte oder bisher höchstens mit Tim darüber sprach. Ich nickte abschließend einfach und wir hingen weiter in ihrem Zimmer ab.
Ich schaute mich währenddessen in ihrem Zimmer um und blieb bei einer großen Pinnwand stehen, die an der Rückseite ihrer Zimmertür hing. Sie hatte dort sehr viele Erinnerungen hingehangen, sei es in Form von Bildern, Postkarten oder Briefen. Ich fand diese Idee unheimlich cool, so konnte ich mir viele verschiedene Momente von Janine anschauen. Ich fand dort zum Beispiel auch ein Bild aus ihrer Zeit im Tanzverein, wo sie richtig sportlich aussah und ein ziemlich kurzes, aber richtig attraktives glitzerndes Kleid trug. Da Janine mir aber sprichwörtlich im Nacken saß und genau beobachtete, was ich mir so anschaute, ließ ich meinen Blick auf dieses spezielle Bild nicht weiter verweilen und widmete mich eher anderen Eindrücken. Janine ergänzte ihre Pinnwand noch durch zwei Postkarten, die sie sich im Urlaub selbst gekauft hatte und nun auch dazu hing. Es war in jedem Fall eine bunte Sammlung an verschiedenen Postkarten, die sie bereits besaß. Viele stammten von Familienmitgliedern oder von vermutlich befreundeten Mädels. Janine sagte mir, dass sie halt eben nur noch mit zwei dieser Mädchen Kontakt haben würde – die meisten Postkarten stammten von Freundinnen aus ihrer ehemaligen Tanzschule, mit denen sie wohl sporadisch auch heutzutage noch Kontakt haben würde.
Allein mit dem Anschauen ihrer Pinnwand verbrachten wir einige Zeit und sie erzählte mir einige Geschichten aus ihrem ehemaligen Tanzverein. Inmitten dieser Erzählung hörten wir auf einmal, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und ihre Eltern wieder zu Hause ankamen. Ich war von einer Sekunde auf die andere angespannt, weil ich beim Kennenlernen von Menschen immer etwas nervös war. Janine und ich gingen aus ihrem Zimmer und ich begrüßte ihre Eltern, die sehr nett wirkten und mich lieb begrüßten. Ihre Mutter meinte: „Du bist also Marc, von dem Janine schon mal was erzählt hatte.“ Ich war überrascht und perplex und warf Janine einen Blick zu, die kurz versteckt mit den Augen rollte und mir klarmachen wollte, dass sie mir das gleich erklären würde. „Ja, genau.“, antwortete ich ihr und ergänzte: „Wir sind schon seit dem siebten Jahr zusammen in der gleichen Klasse.“ Ihre Mutter zwinkerte mich an und ging voraus, sodass ihr Vater im Flur übrigblieb, der prompt zu mir sagte: „Janine hat erzählt, dass du auch gerne mit Technik deine Zeit verbringst?“ Mir war das jetzt erst recht unangenehm und ich antwortete etwas beschwichtigend: „Na ja, es ist auf jeden Fall ein Hobby, das Spaß macht.“ Ihr Vater und ich hatten sofort einen Draht gefunden, der in einem locker fünfminütigen Gespräch endete – Janine hatte sich einfach aus dem Staub gemacht, weil sie irgendwas mit ihrer Mutter besprach. Ich spürte sofort, dass mich ihr Vater aufgrund des gemeinsamen Hobbys mochte.
Janine befreite mich etwas aus der Situation, als sie sich einfach bei mir einhakte und mich vor ihrem Vater entführte, dem ich nur andeutete, dass ich wohl keine Wahl haben würde, als ihr zu folgen – was er mit einem Schmunzeln quittierte. Wieder in Janines Zimmer angekommen, hatte ich aufgrund der Situation immer noch ein Grinsen auf den Lippen und Janine schloss ihre Tür, als sie ziemlich leise meinte: „Ich habe dich gerettet, bevor du gar nicht mehr von meinem Vater wegkommst.“ – „Also ich fand das Gespräch echt nett. Auf jeden Fall haben wir ähnliche Interessen.“ – „Ja, das habe ich gemerkt.“ Ich schmunzelte und sie flüsterte leise, damit ihr Vater, der noch draußen auf dem Flur war, es nicht hören konnte: „Sie mögen dich in jedem Fall, das habe ich ihnen sofort angesehen.“ Ich nickte und freute mich, dass der erste Kontakt mit ihren Eltern so unkompliziert verlief. Ihr Vater war auch aus dem Flur weg, sodass Janine wieder etwas lauter sprach und zu mir sagte: „Ich habe meiner Mutter übrigens eben gesagt, dass du das Essen toll fandest, sie hat sich wirklich gefreut.“ – „Das ist schön zu hören.“ Wir ließen wieder die Seele baumeln, indem wir auf dem Rücken auf ihrem Bett lagen, nah nebeneinander und die Füße vom Bett runter hängen ließen. Janines Parfüm oder zumindest allgemeiner Geruch zog mich etwas in ihren Bann…
„Was meinte deine Mutter eigentlich gerade mit dem Satz?“ Sie schwieg ein paar Sekunden, als ich mich leicht zu ihr drehte und sah, dass ihr das sichtlich peinlich war. „Ich hatte nur erzählt, dass wir uns so gut verstehen und du mich vor den anderen schon so oft in Schutz genommen hast.“ – „Ist doch völlig ok.“ Ihr war das weiterhin peinlich, sodass ich meinte: „Warum bist du jetzt so still? Ist doch nichts bei.“ – „Ach, na ja, ich hatte kurz Sorge, dass du womöglich sauer sein könntest.“ – „Quatsch, warum sollte ich? Du hast doch nur die Wahrheit erzählt und vor allem auch was Positives. Ist doch alles super. Ich wusste nur kurz nicht, was deine Mutter von mir wusste, sodass ich etwas überrumpelt war.“ Sie stimmte mir zu und damit war das Thema auch durch.
Nach einer halben Stunde etwa, die sich eigentlich wie wenige Minuten anfühlte, klopfte es an ihrer Tür und wir setzten uns intuitiv einfach wieder hin. Ihre Mutter schaute kurz rein und fragte uns, ob wir nicht kurz rauskommen könnten. Wir taten wie befohlen und folgten ihr ins Wohnzimmer, wo Janines Vater etwas in der Hand hielt. Ihr Vater: „Ich habe durch die Arbeit zwei Freikarten für einen Film heute Abend mitnehmen können, wollt ihr die vielleicht haben? Uns bringen die nichts, wir haben den Film schon gesehen.“ Janines Vater schmunzelte leicht. Ich war erstaunt und Janines Mutter meinte: „Der Film fängt halt aber erst um 20 Uhr an, da seid ihr aber nicht vor 23 Uhr wieder raus…“ Janine fragte zunächst, um welchen Film es sich handelte und erfuhr, dass es ein Film war, den sie sehr gerne schauen wollte, aber bisher nicht dazu kam. Ihre Mutter war wegen der Uhrzeit trotz allem nicht so richtig überzeugt und ihr Vater meinte: „Da Janine aber bestimmt einen freundlichen Begleiter hat…“ Er ließ den Satz offen, sodass es nach zwei Sekunden unbedacht einfach aus mir heraussprudelte: „… dann bringt er sie auch definitiv nach Hause nach dem Kinofilm.“ Janine schaute nun mich überrascht an und ihre Mutter meinte: „Ist das nicht auch zu spät für dich, Marc?“ – „Nein, meine Tan… meine Eltern haben gesagt, dass es auch später werden darf, seitdem ich 17 bin. Ich gebe nur vorher immer Bescheid, damit sie einfach Bescheid wissen und sich keine Sorgen machen. Es ist auch nicht bis morgens um drei.“ – „Das klingt in jedem Fall sehr vernünftig.“, meinte ihre Mutter und als sie Janines bittenden Blick sah, sagte sie schließlich: „Na gut, ok. Wir wollen die Tickets auch nicht verfallen lassen und es ist ja nicht bis tief in die Nacht, du hast schon Recht, Marc.“ – „Danke, Mama und Papa!“ Ich sagte auch artig danke, da ich nun dadurch auch kostenlos ins Kino konnte. Janine freute sich riesig und ich sah, als wir das Wohnzimmer wieder verließen, wie ihr Vater mir kurz zuzwinkerte.
Wieder zurück in Janines Zimmer sagte sie: „Ich wollte den Film mir unbedingt anschauen, das ist super. Danke!“ Sie umarmte mich, als wir auf ihrem Bett saßen und warf mich dabei fast um, was wir aber noch verhindern konnten, auch wenn der Moment trotz allem… komisch war. Janine wiederholte sinngemäß die Frage ihrer Mutter: „Ist das wirklich ok mit der Uhrzeit?“ – „Ja, wirklich. Mich stört das auch nicht, wenn ich dich nach Hause bringe und dann nach Hause fahre.“ – „Ich muss zugeben, so allein um die Uhrzeit hätte ich schon irgendwie ein bisschen Unwohlsein.“ – „Man muss auf jeden Fall aufpassen und sich lieber einmal mehr umschauen als zu wenig.“ – „Danke, dass du mich nach Hause bringst.“ – „Gern geschehen.“
Wir verbrachten gar nicht mehr so viel Zeit bei ihr zu Hause, da wir aufgrund der mittlerweile wieder angenehmeren Temperaturen draußen beschlossen, einen Spaziergang zu machen und direkt den Kinobesuch anzuschließen. Janine hatte sich normale Schuhe ohne Absätze angezogen, was ich nach unserem letzten Spaziergang durchaus verstehen konnte. Draußen alberten wir einige Zeit einfach herum, wodurch die Stimmung wirklich ausgelassen war. Bevor der Film losging, kauften wir uns noch in einem Supermarkt in der Nähe etwas Knabberzeug und kleine Getränke, die wir dank Janines dieses Mal größerer Tasche ohne Probleme ins Kino schmuggeln konnten.
Die Plätze waren echt top – wir saßen recht weit oben mittig und dadurch, dass der Film schon einige Wochen im Kino lief, waren so gut wie keine Leute mehr da, sodass man sich richtig breitmachen konnte. Wir legten unsere Füße die meiste Zeit auf die Sitze vor uns und ich spürte, wie glücklich Janine in dieser gesamten Zeit war. Der Film war eine sehr lustige Komödie, die man definitiv gesehen haben musste, sodass sich der gesamte Tag mit Janine so richtig gelohnt hatte.
Außerdem hatte ich eine lustige Angewohnheit von Janine festgestellt: Vor allem, wenn sie sich über etwas amüsierte oder sie offenbar etwas beschäftigte, griff sie immer instinktiv nach meinem Arm und hielt diesen fest, bis sie die Aufmerksamkeit bekam, die sie haben wollte. Anfangs war das ungewohnt, weil ich gar nicht wusste, dass sie so jemand war, die Körperkontakt suchte. Aber nicht nur damit überraschte sie mich, sie suchte schon recht deutlich meine Nähe im Kinosaal, da sie meist sehr nah neben mir saß und wahrscheinlich noch näher gesessen hätte, wenn es eine Kuschelbank gewesen wäre. Ich wusste nicht, wie ich diese Dinge einsortieren sollte, aber ich hob mir diese Überlegungen für später auf, bis ich auf dem Weg nach Hause war und Janine vorher sicher nach Hause gebracht hatte.
Als wir das Kino verließen, war es draußen richtig kühl, da es zwischendurch geregnet haben musste. Es regnete aber glücklicherweise nicht mehr, als wir zurück zu Janines Wohnhaus liefen, welches etwa zwanzig Minuten zu Fuß entfernt war. Die Situation war angenehm und Janine fragte mich ganz leise: „Wie fandest du den Film?“ – „Der Film war richtig gut. Du dürftest doch mitbekommen haben, wie viel ich lachen musste!“ – „Ja, na klar. Der Film war echt super.“ – „Auf jeden Fall! Ich muss zugeben, am liebsten würde ich mit dir jetzt bei diesen Temperaturen noch einen Spaziergang machen.“ Sie kicherte und ich schaute sie fragend an, da meinte sie: „Machen wir nicht gerade einen Spaziergang?“ – „Oh, stimmt, so hatte ich das jetzt gar nicht unbedingt betrachtet…“ Sie lächelte mich an und wir schlenderten weiter. Unsere Gehgeschwindigkeit wurde definitiv langsamer – uns war danach. Der Himmel war sternenklar und ich liebte es jedes Mal, wenn man im wolkenfreien Himmel versinken konnte. Janine bemerkte meine Blicke nach wenigen Sekunden und meinte: „Das ist richtig schön.“ – „Ja, definitiv. Ich liebe es, in den Himmel zu blicken. Es ist faszinierend, zu wissen, dass da draußen noch so viel sein könnte.“ – „Auf jeden Fall!“
Die Romantik, die in diesen Momenten zwischen uns herrschte, spürte ich dieses Mal sehr deutlich. Ich konnte diese Gefühle nicht einsortieren und wusste daher auch nicht, wie ich mich am besten verhalten sollte. Ich fühlte mich überfordert. Vor allem wusste ich auch nicht, was ich über Janine denken sollte, weil so viele Eindrücke mittlerweile auf mich eingeprasselt waren, die ich schleunigst erst sortieren musste. Ich war mir aber sicher, dass sie diese Romantik in diesem Moment auch deutlich spürte.
Einige Meter später: „Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, wenn du gleich noch nach Hause fahren musst.“ Ich schaute erstaunt und meinte: „Ach Quatsch, das brauchst du nicht zu haben. Ich bringe dich gerne nach Hause. Ist ja auch nicht das erste Mal.“ – „Ja, genau deswegen! Und weil es auch schon so spät ist…“ – „Mir passiert schon nichts. Ich war mit Tim in den letzten Wochen ein paar Mal auch schon fast so spät unterwegs.“ – „Aber trotzdem… Ich mache mir Sorgen, wenn du so spät noch nach Hause fährst. Was ist, wenn dich auf dem Weg einfach ein paar Idioten wegschnappen?“ Ich musste unweigerlich wegen ihrer Beschreibung schmunzeln und sie stieß mir mit den Ellenbogen leicht in die Seite, worauf ich meinte: „Darum passe ich ja auf, dass das nicht passiert.“ – „Schreibst du mir, wenn du zu Hause angekommen bist?“ – „Ja, mache ich.“ – „Und schreibe mir zwischendurch, wo du bist!“ – „Auch das mache ich.“
Letztlich standen wir vor ihrer Haustür und Janine meinte: „Ich fühle mich immer noch nicht wohl, wenn du jetzt nach Hause fahren musst. Soll ich meine Mutter vielleicht fragen, ob sie dich noch mit dem Auto nach Hause fährt?“ – „Nein, brauchst du nicht. Nicht, dass sie schon schlafen und du sie extra aufwecken müsstest…“ Immerhin hatten wir es tatsächlich kurz nach elf abends. Sie grummelte leicht und wiederholte ihre Aussage erneut: „Ich fühle mich wirklich nicht wohl.“ Da rutschte mir mein erster Gedanke einfach raus, weil ich in diesem Fall erst sprach, bevor ich dachte: „Ich könnte ja beim nächsten Mal auch einfach über Nacht bleiben, so brauchst du dir auch keine Sorgen machen.“ Sie schaute mich überrascht an und irgendwie rechnete ich schon damit, eine auf die Rübe zu bekommen, aber nichts derart passierte: „Das ist eine gute Idee. Wir können ja beim nächsten Mal schauen…“ Über ihre Reaktion war ich erstaunt, weil ich nach unserem dritten richtigen Treffen nicht damit rechnete, dass sie so eine Idee wirklich gut finden würde. Ich fand das auch nicht gerade so üblich, dass man beieinander übernachtete, da wir nun unterschiedliche Geschlechter hatten und ich das eher eigentlich nur von Pärchen aus der Klasse zum Beispiel kannte. Dass Tim und ich beieinander als beste Freunde übernachteten, empfand ich als normal, aber bei jemand vom anderen Geschlecht… Es war zumindest für mich ungewöhnlich und würde für mich auf jeden Fall etwas gänzlich Neues sein.
„Darf ich dir was verraten?“, fragte sie mich und ich nickte, worauf sie mir ganz nahekam und ganz leise flüsterte: „Das war heute der schönste Tag, den ich jemals bisher hatte.“ – „Ich fand den Tag auch einfach toll.“ – „Danke, dass du zum Kino mitgekommen bist.“ – „Ich habe doch vor allem für das Freiticket danke zu sagen.“ – „Du bist lieb. Komm mal her.“, sagte sie und umarmte mich richtig fest. Die Umarmung ging weit über zehn Sekunden und ich musste zugeben, ich wollte sie auch nicht wirklich loslassen. Kurz, bevor sie es aber tat, passierte noch etwas: Sie gab mir einen Kuss an die Wange!
Ich war völlig fassungslos und schaute sie überrascht an, worauf ich sie fragte: „Wofür… war denn der jetzt?“ – „Weil du so mega lieb bist und weil ich mit dir so viel Spaß haben kann.“ – „Aber…“ – „Gute Nacht, Marc.“ – „Nacht, Janine.“ Sie schloss ihre Haustür auf und ging hinein. Ich blieb völlig regungs- und fassungslos noch locker eine halbe Minute an Ort und Stelle stehen und war über diesen Wangenkuss einfach nur erstaunt.
Obwohl es mir wegen meiner Trauer im Innern grässlich ging, war dies definitiv auch mein bisher schönster Tag in meinem Leben, auch wenn ich das Janine gegenüber nicht ganz so deutlich zugeben wollte und konnte. Auf meinem Nachhauseweg wusste ich nun gar nicht mehr, wo oben und unten war. Ich war so irritiert über ihren Wangenkuss, dass ich die Fahrt nach Hause gar nicht mitbekam, Janine also auch nichts während des Rückwegs schrieb und zu Hause eintraf, wo Petra tatsächlich gerade noch wach war. Sie meinte: „Na, wurde wohl doch später, was?“ Scheiße, ich wollte ihr ja schreiben!
Ich meinte verlegen: „Ja, wir sind noch ins Kino gegangen, weil ihr Vater Freikarten von seiner Arbeit mitgebracht hatte… Entschuldige, ich hatte das irgendwie völlig verpennt.“ – „Nicht schlimm, Großer. Ich hätte dich sonst vielleicht bald kurz angerufen, um einfach nur zu wissen, ob alles ok ist.“ – „Ja… Entschuldige.“ – „Nicht schlimm.“ Sie lächelte und meinte: „Du siehst glücklich aus.“ – „Sieht man mir das so sehr an?“ – „Ja, definitiv, ich kann es an deinen Augen ablesen.“ – „Es war wirklich ein toller Tag mit Janine. Ihre Eltern sind sehr locker und mögen mich glaube ich.“- „Das ist eine gute Voraussetzung.“ – „Voraussetzung wofür?“ – „Wofür wohl?“ Sie lachte und ich war etwas peinlich berührt, sodass ich nur noch meinte: „Na ja, ich weiß nicht. Wir sind uns auf jeden Fall recht nahe.“ – „Ah, habt ihr euch schon geküsst?“ Ich war über die Neugier echt erstaunt und meinte: „Nein, nein, das ist nicht passiert… Sie hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben.“ – „Das klingt doch echt gut. Bleibe einfach am Ball und dann wirst du ja sehen, wohin sich das entwickelt.“ – „Ja, genau.“ Ich wünschte ihr eine gute Nacht, weil sie schlafen ging. In meinem Zimmer schrieb ich Janine noch eine Nachricht: „Ich bin jetzt heil wieder zu Hause angekommen, ich musste nicht lange auf den Bus warten. Ich fand den Tag heute auch echt schön. Schlaf schön und träume was Schönes!“ Nicht mal eine Minute später war schon ihre Antwort da: „Ok, das beruhigt mich, du hattest so lange nichts geschrieben. Falls du heute nicht schlafen können solltest, schreibe mir, denk dran! Ich lasse den Ton an, mein Telefon liegt neben mir. Gute Nacht, hab dich lieb!“
Mich irritierte diese Mitteilung ziemlich, weil sie mit dem Wort „heute“ womöglich auf den Wangenkuss anspielte, dass dieser mich zu sehr beschäftigen könnte. Dass sie mich „lieb“ hatte, wusste ich auch nicht einzusortieren… Ich versuchte es freundschaftlich zu verstehen, aber irritiert war ich trotzdem.
Mit verwirrten Gedanken ging ich kurze Zeit später auch schlafen, weil ich auch echt geschlaucht von dem Tag war. Am nächsten Vormittag stand ich mit schon recht trüber Laune auf und Petra vermochte die Stimmung kaum zu verbessern, als sie mich fragte: „Großer… möchtest du mit zur Beerdigung kommen?“ Ich musste schwer schlucken und sagte leise, aber deutlich: „Natürlich!“ Ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn ich nicht zur Beerdigung gehen würde. „Die Beerdigung ist für übernächsten Sonntag um 12 Uhr angesetzt.“ Außerdem sagte sie mir, dass meine Eltern auf dem Friedhof wenige Busstationen von uns entfernt beerdigt würden, sodass ich sie im Grunde jederzeit besuchen konnte.