Abstand
Ich schlief in dieser Nacht wirklich so schlecht wie schon viele Monate nicht mehr und wachte völlig gerädert um kurz nach zwölf auf. Janine war schon auf und saß recht munter neben mir. Sie hatte ein Frühstück für uns gemacht, was ich wirklich süß fand, da sie sich richtig Mühe gegeben und offenbar mehr Zeit dafür investiert hatte. War das wieder ihr schlechtes Gewissen? Sie gab mir direkt einen langen Kuss, den ich richtig toll fand, aber ich spürte, dass sich innerlich ein gewaltiger Eisblock aufgetan hatte, den Janine gerade definitiv nicht kleiner bekam. Wir aßen das Frühstück zusammen und obwohl Janine sich wirklich große Mühe gab, Romantik aufkommen zu lassen, kam davon bei mir überhaupt nichts an. Ich war einfach gar nicht in der Lage, die Romantik annehmen zu können… Janine fragte mich gegen Ende unseres Essens: „War… ich gestern wirklich so schlimm?“ Wir schauten uns locker für drei Sekunden direkt in die Augen und ich sagte: „Möchtest du wirklich wissen, was gestern abgegangen ist?“ – „Ja?“ Sie war tief verunsichert. „Ich habe gebrochen, oder?“, fragte sie mich ganz vorsichtig. „Ja, nicht nur einmal.“, antwortete ich ihr kühl. „Viel schlimmer war aber, dass wir rund drei Stunden bis nach Hause gebraucht haben, weil du im Bus unter anderem auch gekotzt hast.“ – „Im Bus?“ – „Ja, ich bin direkt mit dir ausgestiegen. Die Busfahrerin tat mir leid, die das später vermutlich wegmachen musste.“ – „Du bist bestimmt sehr enttäuscht von mir.“ – „Ja, und ich bin stinksauer.“ Wir schwiegen ziemlich lange und ich ergänzte: „Ich war in der Nacht schon drauf und dran, das heute alles abzusagen. Eben gerade habe ich noch darüber nachgedacht, aber ich glaube, ein bisschen Abwechslung schadet uns nicht.“ – „Du bist total gefühlskalt…“ – „Sorry. Eigentlich möchte ich so nicht sein. Aber ich bin immer noch fertig von der letzten Nacht.“ – „Das tut mir wirklich leid…“ Ich blieb regungslos und stumm, sodass sie mich fragte: „Darf ich mich an dich ankuscheln?“ Auch auf diese Frage ließ ich mir ein paar Sekunden Bedenkzeit: „Ja, das ist okay.“ Sie umarmte mich recht vorsichtig, aber mein Eisblock blieb weiterhin ziemlich frostig, auch wenn er ein kleines bisschen auftaute. „Lass uns versuchen, deine Feier heute trotzdem zu genießen, okay?“, fragte sie mich. „Ich versuche es, ja. Allein den anderen und dir zuliebe.“ Sie gab mir einen Kuss, auf den ich intuitiv leicht einging, obwohl ich das eigentlich gar nicht in diesem Moment wollte. Ich ergänzte: „Ich möchte heute, so gut es geht, einfach Spaß haben, weil ich mich eigentlich auf all die Dinge freue. Wir reden morgen richtig darüber, okay? Es gibt einfach noch so viele offene Dinge, aber dafür habe ich heute einfach nicht den Kopf, wenn ich mir meine Geburtstagsfeier nicht auch noch versauen will.“ – „Ja, ist okay.“ Janine war tief verunsichert, das konnte ich ihr ansehen.
Ich spülte unsere Kleidung von der Nacht ab und legte sie so nass, wie sie war, in die Waschmaschine, damit ich sie am nächsten Tag anschalten konnte, weil wir tagsüber ja kaum da waren und einfach keine Zeit mehr hatten, um diese noch aufzuhängen. Wir machten uns anschließend fertig und fuhren händchenhaltend zum Bowling, auch wenn jeder, der uns kannte, sofort spürte, dass die Herzlichkeit, die wir füreinander hatten, von meiner Seite völlig fehlte. Die anderen vier waren so richtig gut drauf, als wir gemeinsam bowlten. Ich ließ mich ein wenig von der Stimmung ansteckten, hielt aber bewusst recht viel Abstand zu Janine, weil ich weiterhin angefressen war. Während Janine sich gerade bei einem Wurf ziemlich schwer tat und abgelenkt war, fragte mich Tim: „Was ist los?“ Ich schaute ihm in die Augen und meinte: „Was meinst du?“ – „Ich bin nicht blöd. Ich sehe doch, dass du kochst.“ – „Dir kann ich wohl gar nichts vormachen.“ Wir schmunzelten und ich stand auf, weil ich mit meinem Wurf nach Janine dran war. Eine gute Sache hatte meine Wut zumindest: Ich spielte wohl die besten Bowlingspiele meines bisherigen Lebens. Kurze Zeit später, als Janine wieder durch ein Gespräch mit Sabrina abgelenkt war, flüsterte ich Tim zu: „Sie hat es gestern Abend so richtig übertrieben, so betrunken war sie noch nie. Ich habe von Jeremias drei Stunden bis nach Hause zu mir gebraucht mit ihr. Sie hat den Bus vollgekotzt, an der Haltestelle noch mal, mein Bein auch direkt mitgenommen und bei mir zu Hause ein letztes Mal in die Badewanne. Ich war bis um fünf wach und bin einfach nur völlig am Arsch.“ – „Scheiße.“ – „Das kannst du wohl laut sagen.“ – „Hast du dich von ihr getrennt?“ – „Nein, Quatsch. Aber dieses Mal wird es massive Konsequenzen haben, ich muss aber noch darüber nachdenken. Ich brauche einfach Abstand von ihr.“ Janine platzte direkt zwischen uns und setzte sich einfach dreist auf meinen Schoß. Ich fand das in diesem Moment einfach völlig unangebracht, weil meine Stimmung schon so eisig war. Ich bemühte mich aber, die Stimmung nicht runterzuziehen, weil die anderen wirklich auch weiterhin richtig gut gelaunt waren und offenbar bis auf Tim gar nicht bemerkten, wie schlecht es mir eigentlich ging.
Meine Stimmung wurde über den Tag verteilt nur unwesentlich besser, was die anderen definitiv spätestens beim Essen bemerkten. Die Stimmung war dort regelrecht phasenweise bedrückt, auch wenn ich mich sehr über die Geschenke der anderen freute. In meinem Innern ratterte aber eigentlich nur die Frage rauf und runter, wie ich auf den gestrigen Abend reagieren sollte. Beim Karaoke später konnte ich meine Wut ein wenig rauslassen, indem ich mit Tim sehr rockige Lieder und phasenweise auch inhaltlich düstere Songs sang, was auch Janine bemerkte. Nicht nur, dass ich von Janine tief enttäuscht und verletzt war, mich machte auch noch wütend, dass sie mir indirekt meinen heutigen Tag versaute, obwohl sie sich wirklich mehr als alles andere heute bemühte, für gute Stimmung bei mir zu sorgen.
Auf dem Nachhauseweg, als wir wieder allein waren und einen längeren Spaziergang machten, fragte mich Janine: „Hey… Du denkst immer noch darüber nach, oder?“ – „Ja, das ist auch kein Wunder. Das war gestern einfach zu viel. Eindeutig.“ Sie schwieg wie ich ziemlich lange und fragte: „Wollen wir heute schon darüber reden? Ich möchte nicht, dass du so unglücklich ins Bett gehst…“ – „Ja, das können wir machen. Das ist vermutlich das Beste, sonst kann ich diese Nacht ebenfalls nicht wirklich schlafen.“ – „Wann bist du denn abends ins Bett gegangen?“ – „Du meinst wohl eher heute früh. Ich war um fünf Uhr im Bett.“ – „Ach du scheiße…“ – „Als du schon geschlafen hast, habe ich mich ja noch ums Bad gekümmert, das ganz schön gestunken hat. Unsere Kleidung habe ich einfach abgespült und eingeweicht, weil ich natürlich keine Waschmaschine um die Uhrzeit anschalten konnte.“ – „Was ist denn alles passiert?“, fragte sie ganz vorsichtig. „Ich kann es kurzfassen: Du warst so krass wie noch nie betrunken. Wir haben zum Bus schon ewig gebraucht, du kotzt in den Bus, triffst noch mein Bein und ein bisschen auch deine Kleidung. Wir sind raus und draußen pöbelt mich so ein Idiot noch an, dass wir doch weniger saufen sollten, wobei er sogar leider damit Recht hat. Wir haben locker über eine Stunde bis zum U-Bahnhof gebraucht, weil du dich ständig überall hinsetzen wolltest. Damit hast du mich schon halb wahnsinnig gemacht. In der U-Bahn haben die Leute Richtung Abstand zu uns gehalten und einige haben den Waggon gewechselt, weil wir so nach deinem Erbrochenen gestunken haben. Ich war nur froh, dass du da nicht auch schon wieder hingekotzt hast. Vom U-Bahnhof bis hier hoch haben wir eine halbe Stunde gebraucht. Ich hätte rumbrüllen können vor Wut. Nicht nur, dass du ewig nicht in den Aufzug steigen wolltest, wofür ich immer noch keine Erklärung habe, du hast im Bad auch noch gebrochen, das war das letzte Mal. Aber das war zumindest irgendwie noch eines der kleineren Probleme. Das konnte ich einfach mit der Dusche und so direkt abspülen, das ging noch.“ Janine schwieg lange und ich fragte sie einfach nur: „Warum, Süße?“ Sie schaute mich tief verunsichert und mit Tränen in den Augen an und ich wiederholte nur: „Warum?“ – „Ich habe gestern einfach ein starkes Getränk probiert und das hat mich irgendwann so richtig ausgeknockt. Das hat nur wenige Minuten gedauert, bis es mir so richtig dreckig ging. Ab da wusste ich nichts mehr.“ Ich wiederholte meine Frage: „Warum?“ – „Weil ich einfach blöd bin, ganz einfach.“ Ich sagte maximal ehrlich und zugleich ernüchtert: „Ich kann das so nicht mehr.“ Ohne Vorwarnung griff Janine direkt meinen Arm und umklammerte ihn fest: „Nein… das möchtest du nicht… willst du unsere Beziehung nicht mehr?“ Ich schaute ihr in die Augen, während ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Immerhin bedeutete ihr die Beziehung weiterhin unheimlich viel, das spendete mir irgendwie Trost und gab mir Hoffnung. „Nein, ich werfe unsere Beziehung nicht einfach so weg. Ich möchte einfach in den nächsten zwei, drei Wochen ein bisschen Ruhe haben und nachdenken können, verstehst du? Vielleicht kommen wir einfach nicht miteinander aus, weil wir derzeit so viel Kontakt haben. Vielleicht legt sich das zwischen uns, wenn wir einfach ein bisschen Abstand zu diesen ganzen Problemen gewinnen konnten. Vielleicht wird das besser.“ – „Es wird mir zwar schwerfallen, aber wahrscheinlich ist das keine schlechte Idee, Bärchie. Aber, wie soll ich mir das vorstellen? Guck mal, wir haben doch garantiert jeden Tag in der Schule Kontakt, darum kommen wir ja einfach nicht herum.“ – „Weißt du, es stört mich nicht, wenn wir uns täglich in der Schule sehen und Zeit verbringen, es geht nur darum, dass wir einfach mal nur für ein paar Tage nicht so engen Kontakt haben, wie wir das sonst immer haben. Das Einzige, was ich mir wünschen würde, ist, dass wir außerhalb der Schule zumindest nicht täglich miteinander reden oder schreiben. Ab und zu ist es okay, aber ich brauche einfach ein wenig Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Und ich denke, es dürfte für dich auch nicht schlecht sein. So kannst du einfach auch in Ruhe für die Schule vorarbeiten und ich will dich einfach darum bitten, auch zu überlegen, was wir in Zukunft anders machen können, um nicht ständig aneinander zu geraten, weil… Ich glaube, das wollen wir einfach nicht, oder?“ – „Du hast Recht. Es tut mir leid, dass das alles derzeit so scheiße läuft.“ – „Du brauchst dich nicht immer zu entschuldigen… Es ist viel schiefgelaufen, ja.“ – „Wir schaffen das schon.“
Wir kamen bei mir zu Hause an und machten uns direkt bettfertig. Dabei schwiegen wir relativ lange und Janine meinte schon fast verzweifelt: „Können wir wenigstens… so sein wie immer?“ Ich schaute sie nachdenklich an und sie ergänzte: „Du bist immer noch so eiskalt… Ich möchte nicht, dass es dir so schlecht geht. Ja, wir verbringen in den nächsten Tagen weniger Zeit, aber ich möchte trotzdem so wie immer mit dir Zeit verbringen… Mit herumalbern, mit deinen Witzen, wie wir uns gegenseitig ärgern, so liebevoll, wie du immer bist… Ich liebe dich, Bärchie.“ Sie kam einfach ungefragt auf mich zu und gab mir direkt einen leidenschaftlichen Kuss, auf den ich reflexartig einging. Aus dem leidenschaftlichen Kuss entstand eine vorsichtige Knutscherei, die ich aber wieder bremste. Nach Sex war mir auf jeden Fall nicht zumute, aber ich konnte nicht leugnen, dass mich Janine mit dieser Überrumpelungstaktik etwas weichkochte. „Sorry, Süße. So bin ich halt nun, wenn ich wirklich verletzt bin.“ Sie umarmte mich einfach weiterhin und weinte von einem Moment auf den anderen. Ich war ziemlich überfordert, weil ich einerseits derjenige war, der angefressen sein durfte, andererseits aber intuitiv für Janine da sein wollte, da ich sie nicht auch zusätzlich leiden lassen wollte.
Wir saßen an diesem Abend lange auf meinem Bett zusammen und Janine kuschelte sich mehrere Stunden lang durchweg an mich. Wir sprachen dabei nicht wirklich über die Abende bei Jeremias und seinen Freunden, sondern vor allem über unsere gemeinsame Vergangenheit. Diese vielen schönen Momente bauten meine Wut wirklich sehr weit ab und irgendwie genoss ich sogar die Stunden, die wir zusammensaßen. Es war tief in der Nacht und eigentlich schon wieder viel zu spät, aber immerhin half es mir wirklich. Am nächsten Vormittag aßen wir noch ein Frühstück zusammen und Janine fuhr wieder zu sich nach Hause. Ich brachte sie absichtlich nicht nach Hause, weil wir gemeinsam beschlossen, dass wir eben nun ein paar Tage etwas Abstand zueinander halten wollten. Zumindest war unsere Grundstimmung viel besser als am gestrigen Tag und mein Zorn hatte sich vollständig abgebaut. Meine Enttäuschung war hingegen weiterhin riesig, aber diese hinderte mich immerhin nicht mehr daran, wieder liebevoller mit Janine umzugehen.
In den nächsten Tagen bemerkte man die Pause zwischen uns. Wir sahen uns zwar in der Schule und fuhren teilweise wie bisher zusammen zur Schule und von dort zurück, aber mehr als das gab es auch nicht. Ich war erstaunt, wie extrem optimistisch und positiv Janine die gesamte Situation sah. Aber gerade dies machte mir ein bisschen mehr Hoffnung, dass die Pause zwischen ihr und mir was bewirken würde. In unserer Freizeit hatten wir nahezu keinen Kontakt und ich hatte demnach auch genügend Zeit zum Nachdenken. In mir wurde der Gedanke immer größer, Janine dazu zu zwingen, den Kontakt mit den Jungs aufzugeben, damit unsere Beziehung noch eine richtige Chance haben konnte. Ich wollte ein letztes Mal versuchen, sie davon zu überzeugen, dass ihr der Kontakt mit der Gruppe nicht guttat. Gleichzeitig wollte ihr aber auch zu verstehen geben, dass ich sehr an mir arbeitete, toleranter mit ihr zu sein, auch wenn sie etwas über die Stränge schlagen sollte. Ich verstand in den Tagen, in denen ich Zeit zum Nachdenken hatte, dass auch ich sicherlich ein kleiner Teil des Problems war, allein dadurch, wie restriktiv ich ihr gegenüber auftrat.
So vergingen die ersten Tage, in denen Janine und ich eingeschränkten Kontakt hatten. Ich musste zugeben, dass ich mir die Reaktion Janines auf meinen Wunsch nach Abstand anders vorgestellt hatte. Ich erwartete, dass sie sich verletzt zurückzog, massiv mit mir diskutierte oder wirklich gar nicht mehr mit mir redete, solange, bis ich von selbst wieder ankam. Aber das ganze Gegenteil war der Fall, sie nahm es verständnisvoll auf, ich war positiv überrascht und dadurch noch hoffnungsvoller, dass wir das wieder hinbekommen würden.
Das Wochenende kam und es war ungewohnt, auf freiwilliger Basis nicht mit der eigenen Freundin Zeit zu verbringen, geschweige denn miteinander Kontakt zu haben. Janine hatte mich zumindest, so lieb, wie sie war, gefragt, ob sie auf ein Treffen von Jeremias Freunden gehen durfte. Ich fragte mich kurz, ob das nach dem vergangenen Wochenende so angemessen war, direkt wieder auf ein Treffen zu gehen, aber ich hatte in der Woche wirklich das Gefühl, dass ein Umdenken bei ihr erfolgt war, gerade in Hinblick auf ihren Alkoholkonsum. Bei ihrer Frage hörte ich auch heraus, dass sie sich bei dem Gedanken, mich überhaupt zu fragen, nicht wohl fühlte. Weil ich ihr diese Freundschaften natürlich auch nicht verbieten wollte oder konnte, sagte ich ihr daher, dass sie dort gerne hingehen konnte und ich mich einfach freuen würde, wenn sie mir Bescheid gab, sobald sie nach Hause fuhr und wieder heil zu Hause war. Ich schrieb ihr auch, dass sie mich sofort anrufen sollte, wenn irgendwas auf dem Nachhauseweg nicht stimmte oder wenn sie von vorneherein mich als Begleiter haben wollte. Klar hatten wir eine Kontaktreduzierung ausgemacht, aber ich war mit ihr zusammen und sorgte mich natürlich trotzdem. Lieber verzichtete ich kurzfristig auf unsere Kontakteinschränkung, wusste dafür aber, dass sie sicher nach Hause kam.
Am frühen Samstagabend gegen neun ging ich mit Tim spazieren und wir quatschten wieder eine Weile, dabei vor allem über meine Feierlichkeiten zu meinem Geburtstag. Tim sagte, dass alle Anwesenden von Anfang an gespürt hatten, dass etwas nicht stimmte, aber alle mir zuliebe gute Miene zum bösen Spiel machten, weil sie einfach wollten, dass ich einen möglichst guten Geburtstag hatte. Tim verriet mir auch, dass Janine, ohne, dass ich das ahnte, kurz mit allen nach dem Bowling sprach, als ich auf der Toilette war. Sie hatte alle darum gebeten, für möglichst gute Stimmung zu sorgen, weil sie halt Mist gebaut, mich tief enttäuscht hatte und einfach nur wollte, dass ich trotzdem einen schönen Tag bekam. Auch diese Aktion von ihr rechnete ich ihr gut an, weil ich das Gefühl hatte, dass dieser Ausrutscher schon massivere Bedenken bei ihr ausgelöst hatte.
Ich erzählte Tim von der Kontaktreduzierung zu Janine und er sagte mir, dass er interessanterweise davon nicht wirklich überzeugt war, weil er eher die Sorge hatte, dass das Janine und mich auf längere Sicht auseinandertreiben konnte. Er hielt eine erstaunlich flammende Rede darüber, wie wichtig Zusammenhalt war, auch wenn eben nicht alles perfekt war. Klar hatte sie mehrfach Mist gebaut und einige Grenzen in Sachen Alkohol übertreten, und er verstand auch total, wie angefressen ich war, aber er führte mir auch vor Augen, dass Janine trotzdem eine tolle Frau war, auch wenn sie sich eben aktuell weiterhin austobte und ihre Grenzen austestete. Er war so erstaunlich positiv, dass er mich so richtig damit ansteckte. Dass er beeinflussend sein konnte, wusste ich, aber das hatte ich von ihm bisher auch noch nicht erlebt. Er überredete mich sogar dahingehend, dass ich als positive Überraschung und als Zeichen meinerseits Janine wieder abholen könnte. So brachte er mich tatsächlich dazu, dass ich gegen 23 Uhr Janine eine Nachricht schrieb, dass ich sie gerne abholen würde. Sie antwortete mir daraufhin sehr schnell: „Oh ja, total gerne! Ich liebe dich!“ Die Nachricht bekam zusätzlich gleich mehrere Herzen und Tim und ich schlugen in die Hände, weil wir das Gefühl hatten, dass das genau der richtige Weg war. Ich schrieb ihr, dass ich Tim noch kurz mitbringen würde, worauf sie mir nur antwortete, dass Jeremias kein Problem damit hatte, wenn wir auch noch vorbeischauen würden. Mir war klar, dass ich dort nicht länger als nötig bleiben würde, aber ich wollte mich bemühen, nicht ganz so gefühlskalt gegenüber den anderen zu sein. Tims Einfluss wirkte noch immer nach.
Mit deutlich besserer Laune als in den letzten Tagen klingelten wir bei Jeremias und wurden ziemlich schnell von einem seiner Freunde in die Wohnung gelassen. Tim war bei den Anwesenden auch gut bekannt, was mich sogar irgendwie überraschte. Aber gleichzeitig überraschte es mich nicht: Wen kannte Tim nicht? Als ich in den Zimmern nach Janine suchte, überschlugen sich die Ereignisse von einer Sekunde auf die andere: Ich fand Jeremias und sie in einem relativ kleinen Flur in der Wohnung stehen und mir war recht mulmig, weil die beiden ziemlich nah zueinanderstanden. In dem Moment, in dem seine Hand auf ihrem Bauch landete und sich die Lippen der beiden berührten, klinkte ich völlig aus. Als ich gerade auf die beiden zustürmte, schaute mich Jeremias kurz grinsend an. Ehe ich überhaupt anders hätte reagieren können, landete meine Faust in seinem Gesicht und traf ihn voll, sodass es ihn zur Seite warf und er dabei fast noch die kleine Kommode umschmiss, die dort stand.
Er stand direkt wieder auf und es entwickelte sich eine Schlägerei, bei der ich Schmerzen vor tiefstem Hass nicht mehr spürte. Ich traf ihn definitiv mehrfach und meine Hand fühlte sich so schmerzvoll an, als war sie gebrochen, aber das alles war mir völlig egal. Ich war regelrecht im Blutrausch und hatte mich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. So sehr hatte ich noch nie die Kontrolle über mich verloren. Nach einigen Sekunden, in denen ich diesem Arschloch gab, was es verdient hatte, war das Erste, was ich wieder aktiv wahrnahm, wie Tim mich von hinten mit einem Klammergriff festhielt, um mich von Jeremias wegzubringen. Jeremias‘ Nase blutete kräftig. Ich hatte definitiv auch einen Treffer in meiner Bauchregion eingesteckt, aber er traf glücklicherweise nicht richtig, zumal ich so hasserfüllt war, dass ich definitiv noch weitermachte, wenn Tim mich nicht festgehalten hätte. Einer der unbeteiligten Personen – aber eigentlich die Hauptprotagonistin – war Janine. Janine sah mich fassungslos, schockiert und mit Tränen in den Augen an.
Tim brüllte: „Beruhigt euch – beide!“ Jeremias wurde losgelassen, er hatte sich unter Kontrolle. Ich bat Tim, mich loszulassen, mit meinem Versprechen, mich nun zurückzuhalten. Als er mich losließ, sagte ich unfassbar leise, aggressiv, enttäuscht und zutiefst verletzt zu Janine: „Das war das Letzte, was jetzt noch passieren durfte. Unsere Beziehung war einmal. Ab sofort gibt es kein uns mehr, ich gehe jetzt wieder meinen eigenen Weg.“ Ich harrte zwei bis drei Sekunden aus, in denen ich Janine zornig und sie mich absolut entsetzt anschaute. Abschließend fügte ich hinzu, aber an Jeremias gerichtet: „Und du, Wichser, ich wünsche mir aus vollstem Herzen, dass du an deinen Zigaretten und Alkoholexzessen verreckst.“