Kapitel 53

Wunsch nach Ruhe

Die nächsten Tage waren wieder ganz normal, der Donnerstag gehörte wieder uns beiden und wir genossen auch intensive Zweisamkeit zusammen, sodass ich zumindest am Donnerstagabend das Gefühl hatte, dass die Lage zwischen uns endlich wieder richtig liebevoll war. Wir schrieben in dieser Woche eine weitere Klausur und am Freitag machten Janine und ich aus, dass wir nicht zusammen das Wochenende verbrachten, weil sich Janine Zeit für die Schule nehmen wollte. Ob sie das wirklich tat, war dahingestellt, aber es war auch nicht schlecht, dass wir uns an diesem Wochenende nicht sahen, da sie vielleicht auch die Beziehung von uns überdachte. Ich wünschte mir so sehr, dass sie dies tat. In den meisten Fällen war ich nicht der Schuldige, sodass ich eigentlich weniger darüber nachdenken musste. Ich zwang mich dazu, ein wenig lockerer im Umgang mit Janine zu sein, um es ihr auch nicht allzu schwer zu machen, allerdings machte sie mir dies öfters nicht wirklich einfach.

Am Montag, als ich in der Schule ankam, fiel mir plötzlich auf: In zwei Tagen hatte ich Geburtstag! Mittlerweile war die Zeit so gerannt, dass zu Beginn der Woche der dritte Mai war. Ich redete mit Janine darüber: „Weißt du, mir fiel gerade auf, dass ich ja übermorgen schon Geburtstag habe… Die letzte Zeit ist echt schnell vergangen.“ – „Ja, du hast Recht!“ Janine klang fast überrascht, sodass ich mich fragte, ob sie meinen Geburtstag wirklich fast verpeilt hatte oder sie mich einfach nur austrickste und mich zappeln ließ. Normalerweise vergaß sie nie einen Geburtstag und war schon Wochen vorher darauf vorbereitet. „Ach na ja, mal schauen, was ich mache. Am Wochenende will ich auf jeden Fall irgendetwas unternehmen. Wollen wir einfach Tim, Anna, Felix und Sabrina dazu holen?“ – „Was ist mit ein paar weiteren aus dem Jahrgang? Die bei meiner oder deiner Feier letztes Jahr mit dabei waren? Willst du nicht mit ein paar mehr Leuten feiern?“ Oh weh, unsere letzten Geburtstagsfeiern, die Erinnerungen daran waren auch eher… mäßig gut.

„Süße, du weißt, wie ich zu dem Thema stehe. Du weißt, dass ich nicht so gerne feiere und du weißt, was im letzten Jahr passiert ist. Das will ich ganz bestimmt nicht wiederholen, darum wäre es mir eher lieb, dass wir es dieses Mal in einem kleinen Rahmen halten. Ich habe derzeit auch gar nicht den Nerv dafür, mit mehr Leuten was zu unternehmen. Mir schwirren derzeit andere Dinge im Kopf herum.“ – „Na gut, wenn du meinst. Aber was geht dir denn durch den Kopf?“ – „Ach, na ja, die letzten Wochen, weißt du… Zusätzlich noch die ganzen Klausuren… Ist alles irgendwie viel.“ – „Kann ich verstehen. Aber denke nicht zu viel darüber nach, hörst du?“ – „Ich versuche es. Aktuell fällt es mir aber wirklich schwer.“ Janine gab mir einen Kuss. „Ich will dich zumindest darum bitten, dass du dieses Mal nichts zu meinem Geburtstag organisierst, ohne mich vorher zu fragen, okay?“ – „Ja, ist okay.“

Mir war keineswegs nach Feiern zumute. Mir wurde klar, dass ich genauso gut auch meinen Geburtstag hätte vergessen können, was mich selbst irgendwo erschreckte. Eigentlich waren mir meine Geburtstage zumindest ein bisschen wichtig, selbst wenn sie keine sonderlich hohe Priorität von mir bekamen. Der gesamte Konflikt mit Janine führte aber wirklich fast dazu, dass ich meinen eigenen Ehrentag beinahe vergessen hätte.

Der Montag, wie auch der Dienstag gingen vorüber und ich war darauf gespannt, was Janine mir dieses Jahr schenkte. In der Vergangenheit war ich immer wieder über das Ideenreichtum Janines erstaunt. Doch dieses Mal gab sie keinerlei Anzeichen dafür, dass sie Schwierigkeiten bei der Wahl eines Geschenkes hatte. Keine Nachfragen, keine zweideutigen Fragen, keine Ausflüge in verschiedene Märkte – einfach nichts. Gewissermaßen manifestierte sich in meinem Innern auch die Vermutung, dass dieser Geburtstag anders als die bisherigen werden sollte. Einfach schon deswegen, weil das Verhältnis zwischen Janine und mir noch nie in dieser Form war. Anfangs war es freundschaftlich, es wurde später liebevoll, doch zu diesem Zeitpunkt war es eher kritisch. Ich wusste nicht, was mich an diesem Geburtstag wirklich erwarten sollte. Nur eines wusste ich: Ich wünschte mir irgendwie das letzte Jahr zurück, in dem die Beziehung mit Janine stabiler wirkte.

Am Mittwoch, dem fünften Mai, stand ich wie immer gegen kurz nach sechs auf. Petra, die ein paar Tage Urlaub hatte, begrüßte mich am Morgen mit einem Kuss auf die Wange und gratulierte mir. Sie schenkte mir vor allem wieder Kleidung, die ich mir weitestgehend vorher schon ausgesucht hatte und auch noch eine sehr großzügige Menge Geld, weswegen ich schon wieder ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte, die Kleidung allein war schon wirklich teuer genug. An diesem Morgen folgte ich sonst meinem üblichen Tagesablauf.

Pünktlich wie immer kam Janine an und umarmte mich zu Beginn recht stürmisch, worüber ich mich ziemlich freute. Nach einem längeren Kuss gingen wir hinunter in die U-Bahn und dort verriet sie mir, dass ich – wie ich es an ihrem Geburtstag beim letzten Mal gemacht hatte – ein Teil des Geschenkes schon in der Schule bekommen sollte, während der zweite Teil privat verschenkt werden würde. Ich war erstaunt und neugierig zugleich, was Janine sich für mich ausgedacht hatte. Ich machte mich auf was Besonderes gefasst.

In der Schule gratulierten mir einige. Zudem wurde in einem meiner Kurse sogar gesungen, was mir echt unangenehm war. Der erste Teil des Geschenkes von Janine stellte sich als ein dickes Buch heraus – ein Thriller, womit sie bei mir definitiv niemals etwas falsch machen konnte. Direkt nach der Schule nahm mich Janine mit zu sich nach Hause. Melanie war nicht da. In ihrem Zimmer verband sie mir die Augen und ich setzte mich auf ihr Bett. Ich hörte irgendein Geräusch, roch etwas und Janine fragte mich: „Wie findest du, riecht das?“ – „Das riecht wirklich, wirklich gut, das gefällt mir.“ Sie hatte mir ihre Hand in die Nähe meiner Nase gehalten.

Sie nahm mir das Tuch ab und ich sah eine Flasche Parfüm, die sie in der Hand hielt. Sie meinte: „Schau, ich dachte mir, dass das total gut zu dir passen würde und du meintest ja gerade, dass es dir gefällt. Das ist mein eigentliches Geschenk für dich.“ Ich roch, als Janine mir die Flasche in die Hand gab, nochmals daran und fand den Duft wirklich richtig gut, Janine hatte wieder exakt meinen Geschmack getroffen. Sie stellte die Flasche auf ihren Schreibtisch und setzte sich anschließend direkt provokativ auf meinen Schoß. Als ich ihr in die Augen schaute, lächelte sie mich breit an und irgendwie erahnte ich, auf was Janine hinauswollte. In diesem Augenblick musste ich wirklich ein paar Momente nachdenken, ob ich das auch wollte. Letztlich fiel meine Entscheidung so aus, dass ich auf das Angebot Janines einging. Wir fingen mit dem Küssen an, gingen nach und nach zum Petting und letztlich zum Sex über, der wieder – das musste ich mir eingestehen – richtig schön war und mich irgendwie wieder deutlich mehr mit ihr verband. Ich übernachtete an diesem Tag ausnahmsweise bei Janine, weil sie mich schon wenige Tage zuvor danach gefragt hatte. Tim rief mich nochmals an – in der Schule hatte er mir natürlich schon gratuliert – und sagte mir, dass ich mein Geschenk am Wochenende, wenn wir sechs – Janine, Anna, Sabrina, Felix, er und ich – uns sahen, bekommen würde.

Als ich an diesem Abend schlafen ging, kam mir meine verstorbene Oma in den Sinn. Ich hatte tatsächlich schon lange nicht mehr an sie gedacht, wodurch ich mich ziemlich schlecht fühlte. Einerseits sorgte die sehr viel schöne Zeit zum Ende des letzten Jahres, andererseits die eher unschöne Zeit in den letzten Wochen dafür, dass ich den Kopf einfach voll hatte. Ich nahm mir zumindest vor, das Grab meiner Oma demnächst wieder zu besuchen, weil sie mir einfach so wichtig war.

Am Donnerstagnachmittag traf ich mich mit meinem Vater. Es tat mir richtig gut, wieder ausführlicher mit ihm reden zu können, weil ich in den letzten Wochen und Monaten einfach nicht mehr dazu kam. Die Tatsache, dass wir uns nicht sahen, hieß jedoch nicht, dass wir in der Zeit keinerlei Kontakt miteinander hatten. Wir telefonierten hin und wieder miteinander, selbst wenn wir dabei gewisse Probleme und Gedanken nicht unbedingt so gerne erzählten, weil wir das persönlich einfach viel angenehmer fanden. Wir verbrachten den gesamten Nachmittag und noch einen Teil des Abends miteinander und ich erzählte ihm in der Zeit die ganzen Schwierigkeiten und Probleme, die Janine und ich in der letzten Zeit miteinander hatten. Er war derselben Meinung wie ich: Janines Wandel kam wahrscheinlich durch die Treffen mit der Gruppe. Nur wollte sie dies ja leider nicht einsehen. Insgesamt gesehen riet mir mein Vater, dass ich versuchen sollte, bei Janine am Ball zu bleiben und die Beziehung nicht aufzugeben. Dies tat ich sowieso nicht und war mir auch nie in den Sinn gekommen, leicht war das trotzdem manchmal nicht. Er sagte außerdem, dass ich irgendwie versuchen sollte, Janine von dieser Gruppe wegzubringen. Allerdings machte ich ihm gleich klar, dass dies wohl nicht mehr möglich war, da sie sich schon zu sehr integriert hatte.

Am Freitag fragte Janine mich, ob sie zu einem Treffen der Gruppe gehen durfte. Ich fand es niedlich, dass sie mich wieder fragte und sagte, dass ich nichts dagegen hatte. Wichtig war mir vor allem, dass sie sich den Samstag freihielt, weil ich dort einen langen Nachmittag und Abend mit gemeinsamen Unternehmungen vorhatte. Ich wollte nachmittags bowlen gehen, danach mit allen was essen und zum Abschluss in eine Karaokebar, die Janine entdeckt hatte und von der ich mir wirklich viel erhoffte. Auch wenn ich kein großer Fan von Feiern war, hatte ich auf viel gemeinsame freundschaftliche Zeit so richtig Lust.

Nachdem ich am Freitag von der Schule nach Hause kam, fuhr ich nach einer kurzen Pause allein zum Friedhof, auf dem meine Oma beerdigt wurde. Es war schön zu sehen, dass Petra sich wirklich regelmäßig um das Grab kümmerte, es sah wirklich toll gepflegt aus. Es bedeutete mir wieder so viel, dort zu stehen, dass ich fast wieder in Tränen ausbrach. Ich stand lange vor dem Grab, goss nebenher ein wenig die Pflanzen, und dachte daran, wie ich in den letzten Jahren an meinem Geburtstag immer zu ihr nach Hause fuhr. Sie dachte immer an mich und nahm mich damals bei meinen Eltern – meiner Mutter und meinem Stiefvater – oft in Schutz, selbst wenn diese selten böse auf mich waren. Ich vermisste meine Oma sehr. Sie bedeutete mir viel und ich bereute es, dass ich nicht noch mehr Zeit mit ihr verbringen konnte. Zumindest fühlte ich mich heute im Nachhinein erleichtert, dass ich damals richtig gehandelt hatte, als Petra mich an Janines Geburtstagsfeier fragte, ob ich zur Sicherheit bei Oma vorbeifahren konnte.

Nach dem Besuch von Omas Grab fuhr ich noch weiter zu den Gräbern meiner Eltern. Diese Fahrt dorthin war für mich besonders schwer, da ich seit der Beerdigung kein einziges Mal dort war. Ich kam zwar mittlerweile damit zurecht, dass sie nicht mehr da waren, aber ich hatte kein einziges Mal bisher die Kraft, zum Friedhof, auf dem beide lagen, zu fahren. Ich erahnte nicht, was mich erwarten sollte, vor allem nicht, wie es mir wirklich dabei gehen würde. Petra kümmerte sich all die Zeit auch um die Gräber der beiden, zeigte mir aber absichtlich nie Bilder davon, weil sie sehr genau wusste, welchen Schmerz sie damit in mir wieder auslösen würde.

Mein Herz raste, als ich den Friedhof betrat, auf dem meine Eltern lagen. Als ich vor den Gräbern der beiden stand, überkamen mich einige Tränen, die ich einfach laufen ließ. Ich sprach für mich allein sehr viel von den schwierigen letzten Wochen und hatte irgendwie das tröstliche Gefühl, dass sie mir zuhören würden, auch wenn sie mir nicht antworteten. Ich war stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, die beiden endlich zu besuchen und versprach ihnen, dass ich endlich häufiger vorbeikommen würde, weil ich sie genauso wie meine Oma liebte.

Zuhause fragte ich mich, was Janine wohl gerade bei der Jeremias-Gruppe erlebte. Sie erzählte relativ wenig, was die Leute zusammen unternahmen, allerdings musste ich mir auch eingestehen, dass ich eher seltener nachfragte, weil ich einerseits Vertrauen haben wollte, andererseits böse Dinge erahnte und bei einer Antwort Janines wahrscheinlich nur noch eifersüchtiger und wütender auf die Leute war, mit denen sich Janine umgab. Ich verbrachte ein paar Stunden und machte mich fertig, weil ich Janine gegen Mitternacht von Jeremias Wohnung abholen wollte. Janine selbst machte mir den Vorschlag, nach ihrem Treffen zu mir zu kommen, damit wir den Tag mit meinen Feierlichkeiten gemeinsam beginnen konnten. Obwohl mich viele Dinge gerade in Hinblick auf Janine beschäftigten, bemerkte ich auf dem Weg zu Jeremias‘ Wohnhaus, dass ich mich auf den morgigen Tag wirklich freute.

Ich schrieb ihr wenige Minuten vor meiner Ankunft, bekam aber keine Antwort. Das überraschte mich nicht unbedingt, das war schon definitiv mehr als einmal vorgekommen, wahrscheinlich war sie einfach in Gespräche vertieft. Ich klingelte daher einfach bei Jeremias und mir wurde zügig geöffnet. Als ich oben bei der Wohnung ankam und mir einer von Jeremias Freunden, der mich kannte, öffnete, bemerkte ich gleich, dass etwas nicht stimmte. Jeremias Freunde sagten mir direkt, dass Janine offenbar zu viel getrunken hatte. Mit einem spontanen Gefühl, als hatte ich plötzlich ein Magengeschwür, ging ich in das Wohnzimmer, wo Jeremias Janine gerade dabei half, aufzustehen. Sie sah nicht besonders stabil auf ihren Beinen aus und in den wenigen Sekunden, in denen ich sah, wurde mir klar, dass das ziemlich anstrengend werden konnte, sie bis zu mir nach Hause zu bringen.

Ich war innerhalb weniger Sekunden so richtig angesäuert, einerseits auf Janine, andererseits auf die anderen, dass sie Janine nicht am Trinken hinderten. Ich bemühte mich, weil ich in einer fremden Wohnung war, mir auf die Zunge zu beißen, damit ich nichts Falsches sagte und die Situation nicht noch schlimmer machte, aber im Innern kochte ich. Ich grüßte Janine, ohne ihr einen Kuss oder so zu geben, ich ließ sie einfach bei mir einhaken und ging nach einem möglichst höflichen „Danke, dass ihr euch um sie gekümmert habt“ mit ihr in den Flur, wo wir etliche Minuten brauchten, damit sie sich die Schuhe und ihre dünne Jacke anzog. Sinnbildlich für meinen nicht so positiven Eindruck von Jeremias und seinen Freunden war, dass mir keiner Hilfe anbot, als ich mit ihr im Flur war und allgemein auch nicht für unseren bevorstehenden Nachhauseweg. Klar, Tim als Beispiel war mein bester Freund und ich war seiner, aber er hatte auch schon weit weniger engen Freunden Hilfe in solchen Situationen angeboten, weil er einfach aufmerksam und unheimlich hilfsbereit war.

Wir waren noch nicht aus der Wohnung draußen, als Janine mir mitteilte, dass ihr wohl etwas schlecht sei… Ich fragte mich, was ich jetzt am besten machte. Mir war es ehrlich gesagt lieber, dass sie sich im Fall der Fälle auf Jeremias‘ Toilette die Seele aus dem Leib brach, weil das draußen sicher unangenehm sein konnte, aber wie lange wollte ich dort in der verrauchten Wohnung darauf warten, ob Janine womöglich wirklich zur Toilette musste? Ich entschloss mich daher, mit Janine loszugehen. Janine war unheimlich ungeschickt und ihre Fähigkeit, Dinge intellektuell zu verarbeiten, war sehr ausgebremst, aber sie wusste immerhin, wo sie war, wer ich war und wohin wir gingen, das war für ihre Verhältnisse erstaunlich. Ich musste aber klar sagen, dass ich sie noch nie so betrunken gesehen hatte. Selbst, als ich sie zu Hause überraschte und betrunken vorfand, war sie nicht so heftig alkoholisiert. Allein für das Abwärtslaufen auf der Treppe brauchten wir etliche Minuten, weil Janine immer wieder starke Gleichgewichtsprobleme klagte und sich immer wieder unabsichtlich auf die Stufen setzte. Ich machte innerlich etliche Kreuze, als ich mit ihr überhaupt schon unten angekommen war.

Wir liefen Schritt für Schritt und benötigten für eine Strecke von wenigen hundert Metern über eine halbe Stunde. Ich war innerlich weiterhin so richtig angepisst, konnte meine Wut ihr aber auch nicht entgegenbringen, weil sie einfach zu betrunken war, um das emotional richtig einsortieren zu können. Leider fuhren in der Umgebung von Jeremias Zuhause keine U- oder S-Bahnen, sodass wir auf den Bus angewiesen waren. Wir stellten uns daher an die Bushaltestelle, an der glücklicherweise gerade keiner mit uns auf den nächsten Nachtbus wartete. Ich hoffte einfach inständig, dass die busführende Person nicht mitbekam, wie schlecht es Janine wirklich ging… Janine klagte immer wieder, während wir dort standen und sie sogar im Stehen immer wieder schwankte, darüber, wie schlecht es ihr ging und dass sich ihr Magen umdrehen würde. Einmal setzte sie sogar an und begann, zu würgen, auch wenn glücklicherweise nichts herauskam. Ich versuchte nicht allzu sehr über die aktuelle Situation nachzudenken und suchte eher nach Lösungen, wie ich sie vernünftig nach Hause bekam. Ein Taxi war natürlich auch eine Möglichkeit, aber ich musste davon ausgehen, dass wir dort recht nicht mitgenommen werden würden, wenn sich herausstellen würde, wie alkoholisiert Janine war und dass sie offenbar kurz davor war, zu brechen.

Der Nachtbus kam und die Busfahrerin winkte uns einfach durch, weil sie zügig weiterwollte. Ich war so unendlich dankbar, dass sie nicht genau hinschaute oder einfach Mitleid mit uns hatte. Wir gingen ziemlich schnell nach hinten und setzten uns relativ weit nach hinten im Bus. Ein paar andere Fahrgäste waren ebenfalls im Bus. Die ersten Stationen zogen an uns vorbei und ich dachte gerade darüber nach, wie lange wir bis zum Umsteigen noch fahren mussten, als Janine ziemlich deutlich sagte: „Ich glaube, mir kommt gleich alles hoch.“ – „Mach keinen Mist. Ein paar Stationen musst du noch durchhalten, wir können bald aussteigen.“ – „Ich weiß nicht…“ Sie würgte und plötzlich kam es ohne Vorwarnung raus. Ihr kam vermutlich vieles aus den letzten Stunden raus und sie war leider noch ziemlich unkontrolliert dabei… Nicht nur, dass sie definitiv unsere Sitze verschmutzte, sie traf mich unabsichtlich auch noch leicht am Bein mit ihrem Erbrochenen… Zudem bemerkten einzelne andere Fahrgäste, dass Janine sich gerade erbrach, und drückten das Stoppsignal bei der nächsten Haltestelle, an der ich Janine zumindest nach draußen ziehen konnte. Sie erbrach sich draußen erneut leicht, während ich mir von einem der Fahrgäste, die verständlicherweise nicht mehr im Bus bleiben wollten, beim Aussteigen anhören durfte: „Beim nächsten Mal vielleicht weniger saufen?“ Dieser Kommentar machte mich gleich noch viel wütender, weil man vielleicht auch hätte fragen können, ob man irgendwie helfen konnte oder alles in Ordnung sei. Ich hielt Janines Haare hoch, während ihre Übelkeit wohl temporär besser wurde. Ich hatte die Hoffnung, dass sie nun vielleicht gedanklich klarer werden würde, aber leider erfüllte sich mein Wunsch nicht, sie war weiterhin ziemlich stark alkoholisiert. Ich wusste kurz nicht mehr, wohin mit mir: Wir waren mitten in der Pampa, der nächste U-Bahnhof, mit dem ich direkt bis zu mir durchfahren konnte, war bei meiner Gehgeschwindigkeit eine halbe Stunde entfernt, Janines Erbrochenes hatte mich leicht am Bein getroffen und stank selbst draußen erheblich und sie war natürlich auch weiterhin maximal ungeschickt. Ich war drauf und dran, meine Wut so richtig herauszubrüllen und überraschte mich selbst, dass ich mich auch weiterhin noch zurückhalten konnte.

Nachdem ich mit etlichen Taschentüchern Janine und mich von den Resten von ihrem Erbrochenem befreite, machte ich halt das Einzige, was ging: Ich zog Janine mehr oder weniger hinter mir her und machte mich auf den langen, beschwerlichen Weg zur U-Bahn. Auf den nächsten Nachtbus wollte ich nicht warten, weil es schon recht kühl mittlerweile war und weil ich davon ausgehen musste, dass uns der nächste Nachtbus nun erst recht nicht mitnehmen würde. Janine entschuldigte sich während der rund zwei Kilometer etliche Male dafür, dass es ihr so schlecht ging, aber interessanterweise machten mich die Entschuldigungen eher nur noch wütender, weil ich in diesen Momenten lieber meine Ruhe gehabt hätte. Irgendwann sagte ich entnervt: „Ich habe verstanden, dass dir das leid tut. Es ist gut jetzt. Ich habe es wirklich mittlerweile kapiert.“ Janine fragte anschließend: „Bist du… böse auf mich?“ Bei der Frage hatte ich ehrlich zu kämpfen, ich entschied mich für eine Notlüge: „Nein, es ist alles ok, ich bin einfach nur müde und möchte gerne nach Hause ins Bett.“ Nur war mir klar, dass mein Bett wohl noch lange in dieser Nacht auf mich warten musste.

Für die rund zwei Kilometer brauchten wir tatsächlich anderthalb Stunden, weil Janine sich immer wieder zwischendurch setzen wollte. Die Gegend, durch die wir liefen, empfand ich nachts als besonders unsicher, und sie verstand einfach nicht, dass ich möglichst weiterwollte. Meine Ungeduld und Janines faktische Inkompetenz, vernünftig zu laufen, steigerten meine Wut nur noch mehr, sodass ich schon fast rotsah. Das letzte Mal, dass ich so wütend war, resultierte aus der Szene, in der Janine in der Schule damals fast angegriffen worden war, als sie die Tafelschmierereien filmte. Da waren wir gerade sehr frisch zusammen. Aber vermutlich war ich selbst dort nicht so sauer wie in diesem Moment draußen mit ihr.

Immerhin, Janine brach auf den zwei Kilometern nicht weiter, vermutlich half ihr die frische Luft jetzt auch etwas. Nachdem wir uns die Treppenstufen nach unten zur U-Bahn kämpften, zog ich sie in die nächste U-Bahn rein, auch wenn diese ziemlich voll war, weil gerade viele Feierwütige die Stadt unsicher machten. Offenbar rochen Janine und ich sehr nach ihrem Erbrochenem, sodass die Leute in der Bahn richtig Abstand zu uns hielten und einige auch den Waggon wechselten, was mir zutiefst peinlich und unangenehm war. Janine bekam von alledem vermutlich überhaupt nichts mit.

Ich war immerhin froh, dass sie sich in der Bahn und auf den Bahnhöfen nicht weiter erbrach. Die Strecke bis zu meiner Wohnung war vom Bahnhof nicht weit, aber selbst für diese einfache Strecke benötigten wir noch rund 30 Minuten. Besonders fuchsig wurde ich, als Janine sich weigerte, in den Aufzug zu steigen. Sie hatte sonst nie Probleme mit Aufzügen, aber aus irgendwelchen Gründen, die sie nicht näher benennen konnte, stieg sie lange nicht in den Aufzug und musste darüber sogar in ihrem alkoholischen Rausch noch lachen, weil sie meine Wut mittlerweile im Gesicht deutlich sah. Der Ernst der Lage war ihr definitiv nicht bewusst – das war das Einzige, was sie gerade noch vor meinem geballten Zorn schützte.

Kaum, dass wir in meiner Wohnung waren und ich heilfroh war, dass Petra bei ihrem Freund blieb, sagte sie, dass ihr wieder schlagartig ziemlich schlecht war. Ich reagierte blitzschnell und brachte sie ins Badezimmer, wo sie sich in der Badewanne erbrach. Natürlich traf sie dabei auch noch teilweise die Wand, die direkt an die Badewanne grenzte, aber das war mein geringstes Problem, das konnte ich immerhin abduschen. Ich musste mich selbst zurücknehmen, nicht noch loszubrechen, und konnte immerhin für Janine da sein. Direkt im Anschluss wechselte ich mit ihr die Kleidung und spürte, wie erschöpft ich mittlerweile einfach nur noch war, da wir es schon frühen Morgen hatten. Eigentlich wollte ich seit locker zwei oder drei Stunden im Bett sein…

Ich legte Janine als Erstes in meinem Bett schlafen, nachdem wir wieder wirklich frisch waren, neue Kleidung trugen und definitiv nicht mehr nach Erbrochenem rochen. Als sie gerade die Augen schloss und zur Ruhe kam, stellte Janine plötzlich eine erstaunlich klare Frage. Es wirkte so, als hatte sich ihr Alkohol abgebaut und dass es ihr deutlich besser ging. „Du bist wirklich sehr wütend auf mich, oder?“ Ich sagte absolut gefühlskalt: „Wir reden morgen. Schlaf jetzt.“ Ich gab ihr keinen Kuss oder dergleichen, das war mir zu eklig, auch wenn ich mit ihr zusammen Zähne geputzt hatte.

Ich war selbst, als Janine schlief, immer noch nicht fertig, da ich das Bad noch gründlich putzte und unsere verschmutzte Kleidung in der Badewanne abspülte und anschließend einweichen ließ. Alles in allem war ich erst gegen fünf Uhr im Bett und stellte mir vorsichtshalber einen Wecker auf 13 Uhr, der schon maximal knapp war, weil wir nur knapp eine Stunde hatten, bevor wir zu meinen Geburtstagstreffen losgehen mussten. Ich krabbelte völlig erschöpft, übermüdet und überreizt unter die gemeinsame Decke von Janine und mir und war einfach nur froh, alles irgendwie geschafft zu haben, sodass vor allem auch nichts mehr nach den Eskapaden der Nacht roch. Janine erwachte durch meine sicherlich nicht mehr allzu geschickten Bewegungen und flüsterte leise: „Warst du wieder auf dem Balkon?“ Ich entgegnete ihr: „Nein, ich musste einfach noch ein paar letzte Dinge erledigen.“ – „Was musst du denn nachts erledigen, was nicht bis morgen warten kann?“ Janine war auf jeden Fall intellektuell wieder anwesend. „Das erkläre ich dir besser morgen. Ich kann einfach nicht mehr und bin völlig am Ende.“ Janine kuschelte sich an mich heran, was ich zwar gerne genossen hätte, aber aufgrund des gesamten Chaos einfach nicht mehr konnte. Ich war aber zu müde, um an das Herankuscheln etwas zu ändern. „Ich liebe dich, Bärchie.“ – „Ich dich auch.“ Meine Aussage meinte ich trotz der schwierigen Umstände absolut ernst, aber ich wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. Ich spürte nur noch, dass sie mir ganz kurz den Kopf kraulte und schlief vermutlich nach weniger als einer Minute ein.